Augenliebe

Eine seit kurzem in deutscher Neuübersetzung vorliegende Einzelausgabe von Kierkegaards »Tagebuch des Verführers« … es gehört in den Werkzusammenhang von »Entweder-Oder« und steht dort am Schluß des ersten Teils … mag zur Frage Anlaß geben, inwiefern dieser Text, falls überhaupt, heute noch relevant sein kann, ein Text, der die Frau … und die Liebe des Mannes zur Frau … in einer Weise, in einem Stil abhandelt, wie es für die objektivierende zynische Vernunft charakteristisch ist; ein Text, der apodiktische Aussagen wie die folgenden des öftern wiederkehren läßt. Frei werde die Frau »erst durch den Mann«, sie müsse eben »gefreit«, »wie eine Blume« gepflückt werden, denn »selbst das Geistige« sei bloß »auf eine vegetative Art in ihr vorhanden«,ja sie liege »ganz in der Bestimmung der Natur« und verwandle sich immer nur »in sich selbst«, sei also »wesentlich Sein-für-Anderes«, verharre stets im Uneigentlichen, bleibe »Augenblickssache«, und deshalb hasse und fürchte sie das Absolute, das Erhabene, den Geist … »Warum?« fragt Kierkegaard; und er gibt darauf gleich auch die Antwort: »Weil Geist die ganze Negation ihrer weiblichen Existenz darstellt!«
Kopf und Bauch, männlicher »Geist« und weibliche »Natur« sind hier auf ein perfektes dialektisches Wechselspiel festgelegt, innerhalb dessen sie sich notwendigerweise gegenseitig ausschließen … oder befehden … müssen. Daher liest sich »Das Tagebuch des Verführers« auch eher als Beschreibung eines Kampfes denn als Chronik einer Liebeswerbung. Der Verführer verführt die Geliebte nicht zu körperlicher Liebe, auch nicht zu geistiger Unterwerfung; er nimmt sie als Gegenstand seines ästhetischen Interesses in Besitz, markiert also eine prinzipielle Differenz, und nicht etwa eine emotionale, allenfalls moralische Übereinstimmung, denn dem Verführer geht es nicht um die Liebe, auch nicht um die begehrte Frau, vielmehr um die Verführung als ein Verfahren der Selbstbestätigung … um Selbstgenuß im Fremdgenuß.
Kierkegaards Verführer erweist sich mithin als ein gewiegter Taktiker des reinen, weil rein ästhetischen Lustgewinns; er kann … wie der impotente Don Juan … weder Meister noch Autor seiner Liebe werden, da er in der Rolle des distanzierten Ironikers und Kritikers befangen bleibt, in der Eigenliebe des Augenmenschen, der einzig Oberflächenreize wahrzunehmen vermag: »Es geht mir nicht darum, ein Mädchen im äußerlichen Sinn zu besitzen, sondern darum, sie künstlerisch zu genießen.« Der Verführer bemächtigt sich des »schönen Geschlechts« nicht anders, als der hedonistische Leser sich der »schönen Literatur« bemächtigt … indem er sie überfliegt: »Mein Auge wird nie müde, über die periphere Mannigfaltigkeit, über diese ausgestreuten Emanationen der weiblichen Schönheit zu gleiten
Für diesen Verführer ist die Liebe kein Was und kein Ziel; sie ist sein Wie, seine Methode. Und deshalb gilt ihm die Frau … schon ein halbes Jahrhundert vor Nietzsche … als das prinzipiell andere, das definitiv Überwundene, als »ein unerschöpflicher Stoff für Überlegungen, ein ewiger Überfluß für Beobachtungen …«, als ein Wesen, das im Idealfall der Dingwelt angehören und permanent dem »begehrenden Auge« des Verführers ausgesetzt sein sollte … nicht mehr liebenswert; nur noch »interessant«.
Vielleicht liegen darin Aktualität und Faszinosum dieses »Tagebuchs« … daß es den Verführer als den schlechthin modernen, den endzeitlichen, den »letzten Menschen« erkennen läßt.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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