Helmut Böttiger: Zu Paul Celans Gedicht „Todesfuge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ aus dem Band Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdenreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

 

 

Lesebuchreif

– Die Rezeption der „Todesfuge“ und der Nachruhm. –

Paul Celan war ein Dichter und kein Heiliger. Er ist eines der besten Beispiele dafür, wie sehr sich die öffentliche Vorstellung einer Person von ihrer realen Biografie lösen kann. Celan wird gemeinhin mit etwas Höherem verbunden, mit reiner Poesie und Sprachmagie, die das existenzielle Leiden transzendiert, und das prägt sein Bild bis heute. Des Öfteren berief er sich programmatisch auf Friedrich Hölderlin, mit dem er viele Gemeinsamkeiten hatte. Dabei fällt unter anderem auf, dass beide Dichter von äußerst entgegengesetzten Interessengruppen vereinnahmt wurden. Hölderlin galt einerseits als Parteigänger der Französischen Revolution, mit den radikalen Werten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, andererseits aber beanspruchten ihn deutsche Nationalisten als vaterländischen Sänger. Celan wiederum wird als ein hochpolitischer Geschichtszeuge gelesen, dessen Werk in ästhetisch konsequenter Weise den Zivilisationsbruch durch die Nationalsozialisten aus jüdischer Perspektive thematisiert – aber gleichzeitig sehen viele in ihm einen deutschsprachigen Dichter, der am zeitlos ästhetisierten Ton eines Stefan George oder Rainer Maria Rilke orientiert ist und sich über die gemeine Alltagssprache und bloße Weltanschauungen erhebt. Solch unterschiedliche Zuweisungen entstehen offenbar besonders dann, wenn etwas Absolutes, Sphärisches, Überirdisches im Raum zu stehen scheint.
Je weniger man über Celan wusste, desto mehr wurde er zu einer Ikone. Doch je mehr man seitdem über Celans Leben erfahren hat, desto verwirrender werden die Versuche, ihm gerecht zu werden. Er bezeichnete sich selbst als einen Linken, manchmal sogar als einen Kommunisten, aber er verehrte Martin Heidegger, der anfangs ein fanatischer Parteigänger der Nationalsozialisten gewesen war, und suchte auch die Nähe zu Ernst Jünger und dessen völkisch-rechtem Umfeld. Diese Neigungen widersprechen offensichtlich dem Bild, das man sich von Celan am liebsten machen würde. Der Ehebriefwechsel mit seiner Frau Gisèle zeigt den Dichter als sensiblen, zärtlichen, die Familie als Halt und Anker empfindenden Ehemann, aber parallel dazu tauchen immer mehr Zeugnisse darüber auf, wie viele Geliebte er hatte und wie bohemienhaft-bindungslos sein Alltag sein konnte. Über seine psychische Erkrankung wurde lange geschwiegen, und über ihre Eigenarten weiß man immer noch wenig – einen ersten paranoiden Schub erlitt er Ende Dezember 1962, als er während der Skiferien Passanten angriff und auf der Heimreise im Zug seiner Frau ein gelbes Tuch vom Hals riss, weil es ihn an einen gelben Judenstern erinnerte.1 Es liegt nahe, dass die Größe seines Werks, die einzigartige sprachliche Leistung seiner Gedichte viel mit diesen konkreten Lebensbedingungen zu tun hat, mit widersprüchlichen Momenten. Man kann ihm nur gerecht werden, wenn man diese ernst nimmt und ihn nicht zum unantastbaren mythischen Dichter stilisiert. Celan bezog sich immer wieder eindringlich auf die „Wirklichkeit“ und wandte sich entschieden gegen rein sprachliche Operationen im luftleeren Raum, gegen „das Herumexperimentieren mit dem sogenannten Wortmaterial“.2
Nachdem Celan im April 1970 in seinem fünfzigsten Lebensjahr den Freitod in der Seine gesucht hatte, entstand um ihn in kürzester Zeit jedoch eine ganz eigene Aura. Unzählige wissenschaftliche Aufsätze, Dissertationen und Habilitationen erschienen über ihn, Celan avancierte innerhalb weniger Jahre zu einem der am häufigsten interpretierten Lyriker überhaupt, zu einer Paradedisziplin der Germanistik. Das hatte sicher sehr viel damit zu tun, dass er schwierig zu verstehen war und dass man über seine Biografie kaum etwas erfahren konnte: Er lud deshalb dazu ein, diverse wissenschaftliche Begriffsinstrumentarien an ihm auszuprobieren. Sein Leben erschien noch Jahrzehnte nach seinem Tod in ein geheimnisvolles Dunkel getaucht. Er stammte aus dem fernen, am östlichen Ende des ehemaligen Habsburgerreichs gelegenen und jüdisch geprägten Czernowitz, einer Vielvölkerstadt, die nach dem Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden und nach dem Zweiten Weltkrieg der „Geschichtslosigkeit anheimgefallen“ war, wie es Celan in einer seiner seltenen öffentlichen Äußerungen formuliert hatte.3 Das Czernowitzer Lebensgefühl und die dort vermittelten Haltungen konnten kaum mehr nachvollzogen werden. An ihre Stelle trat ein magischer Zauber, eine Art paradiesischer Unschuld vor dem Eintritt in die brutale Zeitgeschichte, deren realer politischer Hintergrund oft gar nicht näher thematisiert wurde – er erschien eher als ein gewaltiges Schicksal, als eine von unfassbaren Kräften verhängte Menschheitskatastrophe.
Celan wurde sofort als der repräsentative Dichter dafür erkannt, und daraus entstand auch eine spezifische Form der Sakralisierung. Was man wusste, war, dass seine Eltern von den Nazischergen verschleppt und in einem ukrainischen Lager umgebracht worden waren. Dass er Verfolgung und Krieg als Jude überlebt hatte, wurde mit seinen Gedichten in eins gesetzt. Die „Todesfuge“4 ist mittlerweile das berühmteste und am meisten verbreitete deutschsprachige Gedicht des zwanzigsten Jahrhunderts. Man verband Celan spätestens nach seinem Tod untrennbar mit diesem Gedicht. Es wurde schnell zur Pflichtlektüre an den Schulen und fand sich in allen Lesebüchern, es stand allgemeingültig für das Grauen in den Konzentrationslagern, aber gleichzeitig auch für die Möglichkeiten, dieses Grauen zu „bewältigen“, wie der dazu passende didaktische Fachausdruck lautete. Das Besondere war, dass Celan dabei als ein Dichter gelesen wurde, der ein existenzielles Leiden zum Ausdruck gebracht habe, das über das konkrete Zeitgeschehen doch auch noch hinausgehe – und dass er sich in seiner ästhetisch bis in die höchsten Sphären vordringenden Sprache über die Niederungen der kruden Realität hinwegsetze. Hans Egon Holthusen schrieb 1954, die „Todesfuge“ sei „reine Dichtung“, „ohne eine Spur von Reportage, Propaganda und Räsonnement“.5 Er gab damit eine Richtung vor, der erstaunlich viele Rezipienten folgten.
Celans großer Ruhm kam erst nach seinem Tod. Zu seinen Lebzeiten waren die Reaktionen auf seine Dichtung keineswegs einhellig. Zu sehr merkte man, dass es hier trotz aller als surrealistisch eingestuften Bilder um etwas akut Verdrängtes ging. Zwar schrieb Helmuth de Haas über den Debütband Mohn und Gedächtnis aus dem Jahr 1952 im kurzlebigen Periodikum Neue literarische Welt, Celans Ton bleibe „haften“, „weil auch die Sprache mundfrisch und beinahe kantilenisch ist; sie ist beginnlich rein“.6 Parallel dazu aber urteilte der damals bekannte Kritiker Curt Hohoff in seinem Buch über „moderne Literatur“ 1954:

Metaphorisch ist alles überladen, unverständlich, grammatisch spannunglos.7

Und der Band Sprachgitter, den heute viele als Celans wichtigste Positionsbestimmung auf seinem Weg zu einer neuen, anderen Sprache ansehen, führte zum Beispiel Inge Meidinger-Geise 1959 in ihrem Buch über Perspektiven neuer Dichtung dazu, die „lyrische Haltung in sich gefangener Menschen“ anzuprangern.8
Als der bedeutsamste Moment der frühen Ablehnung von Celans Gedichten wird mittlerweile reflexhaft die Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1952 genannt, das einzige Treffen dieser erst gegen Ende der fünfziger Jahre bedeutsam werdenden Schriftstellervereinigung, an dem Celan teilnahm. Das verkennt die literarischen Verhältnisse der Fünfzigerjahre in erstaunlichem Ausmaß und ist wohl vor allem dem veränderten Erkenntnisinteresse der achtziger und neunziger Jahre zuzuschreiben. Es ist längst belegt, dass die Mehrheit in der Gruppe 47 Celan keineswegs ablehnte. Im Gegenteil, diese Tagung bedeutete für Celan den Durchbruch im deutschen Literaturbetrieb. Hervorzuheben ist aber, dass er parallel dazu äußerst empfindlich auf Verrisse kulturkonservativer Publizisten alter deutscher Schule reagierte, die – und das ist kein bloßer Zufall – gleichzeitig auch aggressive Gegner der Gruppe 47 waren. Die beiden einflussreichsten Kritiker dieser Art waren Hans Egon Holthusen und Günter Blöcker. Beide ignorierten die biografischen Hintergründe Celans, blendeten die politische Dimension des Massenmords an den europäischen Juden programmatisch aus und knüpften gleichzeitig an antisemitische Stereotype an.
Holthusen, der mit seinem Essayband Der unbehauste Mensch Anfang der fünfziger Jahre ein Bestsellerautor war, rezensierte Celan mehrfach. Bei Mohn und Gedächtnis rügte er das „wild blühende Chaos der Metaphern“ sowie „Abirrungen ins Grillenhafte und Wunderliche“,9 und Die Niemandsrose bot ihm 1964 den Anlass dafür, Celans Gedichte als „ein dunkel raunendes, meist trocken-brüchiges, aber von Fall zu Fall auch zu pathetischen O-Rufen aufschwellendes Parlando in sogenannten freien Versen“ zu charakterisieren. Die „Mühlen des Todes“ bei Celan – eine damals gebräuchliche Wendung, die den Konzentrationslagern galt (so trug Billy Wilders Dokumentarfilm über die Konzentrationslager den Titel Die Todesmühlen) – war für Holthusen eine „in X-Beliebigkeiten schwelgende Genitivmetapher“.10 Und Günter Blöcker schrieb einen Verriss von Sprachgitter, der weitreichende Folgen hatte. Blöcker sprach ihm die Zugehörigkeit zum eigentlichen deutschen Sprachraum ab. Er attestierte dem Dichter, dass er „der deutschen Sprache gegenüber eine größere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen“ habe:

Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade dadurch oftmals verführt, im Leeren zu agieren.11

Hier wird auf altbekannte perfide Weise auf Celans Judentum angespielt. Es war vor allem diese Blöcker-Kritik, die Celan äußerst zusetzte und einer der Auslöser für seine psychische Erkrankung war. Er wandte sich Hilfe suchend an Freunde und Bekannte aus dem Literaturbetrieb wegen dieser Kritik, schrieb sie dafür auf der Schreibmaschine ab und verschickte sie. Wenn man nach Belegen danach sucht, welchem Unverständnis Celan in der Bundesrepublik ausgesetzt war, welch arroganter Zurückweisung und einem höhnischen Bescheidwissertum, dann ist der Artikel von Günter Blöcker dafür das herausragendste Zeugnis. Blöcker war 1939 zunächst Soldat gewesen, danach aber von 1942 bis 1945 Dramaturg bei der Ufa-Filmgesellschaft in Berlin. Diese Prägungen sind in seiner Rezension deutlich spürbar. Celans Band Sprachgitter kommt immer wieder auf die deutschen Verbrechen in der Nazizeit zurück, es gibt eindeutige Verweise auf eine jüdische Perspektive – aber das Charakteristische dabei ist, dass Celan die vorgegebene Wirklichkeit nicht eins zu eins übersetzt, sondern nach einer Sprache sucht, die der Erfahrung durch die Konzentrationslager gerecht wird. Das besonders Schmerzhafte für Celan war, dass Blöcker diese Dimension seiner Gedichte vollkommen ignorierte. Er schrieb:

Celans Metaphernfülle ist durchweg weder der Wirklichkeit abgewonnen noch dient sie ihr.

Blöcker bezog das sogar direkt auf Gedichte, die die Vernichtungslager der Nazis thematisieren, wie „Engführung“ oder die vorangegangene „Todesfuge“:

Das seien „eher kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier oder auf stummen Tasten – Augenmusik, optische Partituren, die nicht voll zum Klang entbunden sind.12

Es ist in diesem Zusammenhang von Belang, dass Blöckers Celan-Rezension in Ton und Haltung mit einer Polemik übereinstimmt, die er am 26. Oktober 1962 in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichte: „Die Gruppe 47 und ich“. Er positionierte sich hier, und die Eitelkeit dieser Selbststilisierung ist dabei unverkennbar, als einen großen Einzelnen gegen „Vereinsmeierei“ und gegen „Mannbarkeitsriten“ wie bei „gewissen primitiven Völkerstämmen“. Anfangs wehrte er sich herablassend gegen „die Vorstellung, die Gruppe 47 spiele in meinem Denken und Schreiben eine so große Rolle, dass da überhaupt so etwas wie eine tiefergehende Gegnerschaft entstehen könnte“. Der ganze nachfolgende Artikel steckt jedoch so offensichtlich voller Ressentiments, dass sich diese Pose unfreiwillig verräterisch ausnimmt. Blöcker sprach von einem „demagogischen Clan“ und von „Meinungsterror“.13
Es ist dieser alte deutsche Überlegenheitsgestus, die Verachtung seines Herkommens, die Celan besonders zusetzte. Allerdings hatte er in konservativen und meinungsbildenden Kreisen von Anfang an auch Bewunderer. Sie rühmten seine bilderreiche Sprache und registrierten etwas Außerordentliches. Das Ungewöhnliche von Celans Poesie fiel in den Anfangsjahren der Bundesrepublik durchaus auf, und man versuchte, es mit den gegebenen, eher beschränkten Möglichkeiten einzuordnen oder abzuwehren. Repräsentativ sind Äußerungen wie die des Dichterkollegen Heinz Piontek. Er sprach von „poésie pure, zaubrische Montage“: „die Wirklichkeit“ werde „in die Geheimschrift der Poesie transponiert“.14 In der Phase um den Büchnerpreis 1960 wurde Celans Bedeutung für die zeitgenössischen Beobachter offenkundig. Danach jedoch, anlässlich seiner letzten, sich über die üblichen sprachlichen Übereinkommen konsequent hinwegsetzenden Gedichtbände, überwog erkennbar die Ablehnung. Das Times Literary Supplement erkannte im Gedichtband Fadensonnen von 1968 eine „esoteric Geheimsprache whose associations are known to the poet alone“,15 und der Westberliner Tagesspiegel merkte an, dass hier „die übliche Interpretationskunst“ versage und man geneigt sei, sich „auf übliche Ablehnungsklischees wie Manierismus, Montage, Wortmischung ohne Sinn“ zurückzuziehen.16 Ende der sechziger Jahre bildete das als Urteil über Celans Lyrik fast so etwas wie einen allgemeinen Konsens. Mit seinem Tod 1970 änderte sich das grundlegend, wie auf einen Schlag.
Man konnte dabei auf jene Lesarten zurückgreifen, die eine Mythisierung Celans längst vorbereitet hatten. Von Anfang an versah man in bestimmten Kreisen diesen Dichter mit höheren Weihen, mit Attributen der Zeitlosigkeit. Die zeitgenössischen Rezensenten und kritischen Einordner erwähnten, wenn überhaupt, die konkreten lebensgeschichtlichen Erfahrungen Celans eher pflichtschuldig und übergingen sie ansonsten. Die Ästhetik dieses Schriftstellers jedoch wurde gelegentlich wie ein Hochamt zelebriert und – Belegstellen dafür ließen sich vermeintlich einfach finden – in die Nähe der Tradition einer Kunstreligion gerückt. Ein „deutscher Geist“, der unantastbar über den Verhängnissen der Zeitgeschichte schwebe, war der bevorzugte Anhaltspunkt für die postnationalsozialistischen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Er stand für etwas Höheres und war ein ideales Vehikel für die allgemeine Verdrängung. Seine Konjunktur – das ist mittlerweile weitgehend vergessen und von der Erfolgsgeschichte der Gruppe 47 überdeckt worden – währte bis weit in die sechziger Jahre hinein. Da Celan keine explizit politischen Texte schrieb und sich den Tagesdiskursen sowie der Alltagssprache bewusst entzog, schien er sehr dafür geeignet zu sein, vor diesem Hintergrund gelesen werden zu können, vor einer letztlich immer unantastbar scheinenden deutschen Kultur- und Geistestradition. Dass er sich auf Rilke, auf Trakl und auch auf Stefan George bezog, war unverkennbar. Nach seinem Tod stand zudem die Aura des deutschen Dichtergenies zur Verfügung, das, von seinen unmittelbaren Zeitgenossen unabhängig, einsam und verkannt an seinem Werk schafft. Die psychischen Gefährdungen Celans, von denen man gerüchteweise wusste, schienen genau dazu zu passen.
Die Literaturwissenschaft widmete sich sprachlichen Referenzmaschinerien, verband mit Celan ontologische Fragestellungen und verortete ihn in einer höheren Sphäre als der konkreten historischen Situation, in der er sich bewegte. So stieß Silvio Vietta in einer der ersten längeren germanistischen Arbeiten auf etwas, was er den „traumtransparenten Nachtraum“ bei Celan nannte.17 Der Heidegger-Schüler Otto Pöggeler sprach von „Existenz“, von „Geworfenheit“ und von „Abgrund“, und es ist bezeichnend, dass er 1962 in seiner ausführlichen Abhandlung über Celans Büchnerpreisrede die „Luft, die wir zu atmen haben“, nicht mit Auschwitz in Verbindung brachte – genauso, wie er das von Celan bei Büchner prononciert hervorgehobene Datum des „20. Jänner“ nicht im Zusammenhang mit der Wannseekonferenz 1942 und der dort beschlossenen „Endlösung der Judenfrage“ sah.18 Auch der große Linguist Harald Weinrich, und das ist charakteristisch, urteilte 1968 im Sinne einer Legitimationsstrategie für sein gerade erst im Aufstieg begriffenes Fach über Celans Gedichte:

Sie können nicht welthaltig sein, weil sie worthaltig sein wollen.19

Celan wurde immer wieder mit einer „absoluten Poesie“ in Verbindung gebracht, und das war leider sogar in der ersten Arbeit der Fall, die die üblich gewordenen Lesarten Celans zu durchbrechen versuchte. Sie erschien 1976, stammte von Marlies Janz und trug den beinahe etwas verzweifelten Titel Vom Engagement absoluter Poesie.20 Die Verdienste dieses Buches sind größer als seine Mängel, doch die vorherrschenden Töne blieben andere. Celan schien ein geeignetes Objekt dafür zu sein, literaturpolitische Fragen im Sinne der Werkimmanenz zu verhandeln, gerade in der ideologisch hochaufgeladenen Zeit um und nach 1968, und wurde dadurch zum Inbegriff reiner Kunst in trivialisierter und politisierter Gegenwart. 1970 verglich Gerhard Neumann in einem Aufsatz über die „absolute Metapher“ Celan mit Stéphane Mallarmé und operierte dabei bedeutungsvoll mit heideggerschen Begrifflichkeiten. Die „moderne Metapher“ sei mittlerweile „ihres trivialen Eigentlichkeitsgrundes beraubt und zu einer neuen Eigentlichkeit umfunktioniert“, heißt es da, und das führt zu der Konsequenz:

Sie entfaltet ihre Bedeutungsmöglichkeit weitgehend im reinen Wortbezirk.21

Celan, so folgerte Neumann, werte „dieses Alleinsein der Sprache als ein Versagen“, doch in ihrem „Verweisungscharakter“, in ihrem „,leeren‘ Verweisen“, werde sie „sich ihrer Uneigentlichkeit bewusst“.22
Jener „reine Wortbezirk“: Dies ist der Bereich, in den Celans Dichtung immer wieder verwiesen wurde. Und deswegen fühlte sich auch die Linguistik herausgefordert, die existenzielle Problematik in eine Zeichenproblematik zu überführen. Winfried Menninghaus schrieb 1980, auf dem Höhepunkt der germanistischen Celan-Auslegungs-Höhenflüge:

Celans „Sprechen‘ (…) versteht sich selbst gerade in dem, worin es die arbiträr-instrumentelle Referentialität transzendiert und nicht-signifikative ,Präsenz‘ und ,Gestalt‘ ist, als Auseinandersetzung mit und ,Richtung‘ auf eine (noch nicht existierende) ,Wirklichkeit‘.23

Das einzige Feld, das daneben als Bezugspunkt diente, war Celans Judentum, vor allem dessen religiöse Dimension. Dies ist allerdings eine der diffizilsten Sphären, wenn man sich der Poesie Celans nähert. Anfangs spielte sein Judentum für Celan eine eher untergeordnete Rolle, er wehrte sich sogar offensiv gegen den strenggläubigen Vater. Erst durch die nationalsozialistische Verfolgung begann seine jüdische Identität für ihn entscheidend zu werden, allerdings nicht in einem religiösen Sinn. In Paris hat er noch Mitte der fünfziger Jahre das allzu sichtbare Auftreten der Frommen rund um die Synagoge in seiner unmittelbaren Nachbarschaft bedauert und als lästig empfunden.24 Es ist aber offenkundig, dass sich Celan zugleich verstärkt mit jüdischen Traditionen und mit jüdischer Mystik beschäftigte. Spätestens seit seinem Band Die Niemandsrose nehmen seine Gedichte dezidiert und unüberlesbar darauf Bezug. Dennoch ist es verfehlt, ihn von vornherein und ausschließlich als jüdischen Dichter definieren zu wollen; die durchaus inspirierenden Parallelen zu Franz Kafka sind auch bei diesem Thema zu erkennen.25 Das literarische Bezugssystem und das Assoziationsnetz Celans, seine Poetologie und die Entwicklung des Werks weisen über die jüdische Kultur auch hinaus.
Sein primärer Bezugspunkt war die deutschsprachige Literatur, und zwar in einer Form, die der Kunst höhere Weihen verlieh und sie durchaus neben die althergebrachten Formen der Religion stellte. Celans Nennung von Rudolf Borchardts „Ode mit dem Granatapfel“ gleich zu Beginn seiner Bremer Dankesrede war weitaus mehr als eine bloße Huldigung Rudolf Alexander Schröders, des Bremer Borchardt-Freundes.26 Deshalb sind zum Beispiel die häufig herangezogenen Celan-Analysen von Jean Bollack problematisch, der prononciert aus der jüdischen Perspektive spricht und so. anlässlich von Celans Besuch der Schwarzwaldhütte Martin Heideggers alles ausklammert, was auf Celans Nähe zu Heidegger hinweist und die Ambivalenz von Celans Gedicht „Todtnauberg“ negiert.27 Bollacks Autorität liegt dabei in einer persönlichen Nähe zu Celan, deren Intensität allerdings umstritten ist.28
Die Gestalt, die Celan nach seinem Tod in groben Zügen annahm, wird am deutlichsten im Titel der ersten, groß angelegten Biografie, die der US-Amerikaner John Felstiner verfasste: Paul Celan: Poet, Survivor, Jew – also: Dichter, Überlebender, Jude.29 Diese drei Kategorisierungen stehen für den Autor als Grundlage seines Verständnisses gleichwertig nebeneinander. Felstiner deutet Celan existenziell-religiös. Ästhetische Fragen spielen kaum eine Rolle, und in dieser Form ist die Festlegung Celans auf die Erfahrung der Shoah deshalb verkürzt. An seinen Bukarester Freund Petre Solomon unterzeichnete Celan am 12. März 1948 mit: „Dein ehrlicher Freund und trauriger Dichter teutonischer Zunge, Paul“,30 und dabei schwingt eine sprachliche Dimension mit, die für Celan wesentlich ist. Er hat sie dem Schweizer Redakteur Max Rychner gegenüber im selben Jahr mit den folgenden Worten vermittelt:

(…) ich weiß, wieviel ich den Kulturen, durch die ich gehen musste, verdanke, aber ich hätte es doch gerne gehört, was meine Gedichte den Menschen bedeuten, in deren Sprache sie geschrieben sind.31

Die radikalen Konsequenzen Celans gerade im Umgang mit der deutschen Sprache, seine anarchischen und wilden Aspekte werden bei Felstiner in ihrer poetologischen Einzigartigkeit nie eingehender verhandelt, ihre biografischen Spuren übergangen. Das ist ein aufschlussreiches Symptom.
Eine bestimmte Stilisierung von Celans Person steht auch heute noch im Vordergrund. Er avancierte, vor allem durch die Todesfuge, schnell zum Inbegriff des jüdischen „Opfers“ schlechthin. Im allgemeinen Verständnis galt er immer als eine Art Märtyrer und wurde in dieser Weise verehrt. Als Katalysator dafür wirkte auch der groß angelegte Dokumentationsband, den die als Nachlassbeauftragte eingesetzte Germanistin Barbara Wiedemann im Jahr 2000 vorlegte: Paul Celan – Die Goll-Affäre.32 Dieses verdienstvolle dickleibige Buch rückt den Plagiatsvorwurf Claire Golls in den Mittelpunkt von Celans Leben. Es handelte sich um eine der perfidesten, hinterhältigsten Intrigen in der deutschen Literaturgeschichte. Celan hatte den elsässisch-jüdischen Dichter Yvan Goll in dessen letzter Lebensphase Anfang der fünfziger Jahre in Paris kennengelernt. Es kam zu einem vertraulichen, kollegialen Austausch. Celan, der noch keinen „offiziellen“ Gedichtband hatte (seinen 1948 im Wiener Verlag A. Sexl erschienenen Gedichtband Der Sand aus den Urnen, in dem die „Todesfuge“ erstmals abgedruckt war, hatte Celan wegen zahlreicher Druckfehler einstampfen lassen), gab Goll frühe Texte von sich zu lesen und nahm auch den Auftrag an, Goll-Gedichte zu übersetzen. In der Dokumentation ist minutiös nachzulesen, wie Claire Goll, die Witwe, das Spätwerk ihres Gatten im Nachhinein manipulierte und behauptete, Celan habe von Yvan Goll abgeschrieben. Sie verhinderte die Publikation von Celans Goll-Übersetzungen, verwendete sie aber für ihre eigenen und gab aus Golls Nachlass Gedichte unter dem Namen Traumkraut heraus, in denen sie nicht fertiggestellte Texte Golls mit Motiven aus Celan-Gedichten anreicherte. Celan musste das im Innersten treffen: Für ihn war Deutsch seine Muttersprache, und seine Gedichte waren das Einzige, womit er sich seiner Herkunft und seiner Identität versichern konnte. Deshalb empfand er die Verleumdungen Claire Golls als existenzielle Bedrohung.
Das Buch über die „Goll-Affäre“ listet alle Details der Plagiatsintrigen Claire Golls auf und zeichnet vor allem die Folgen nach, die sie in der deutschsprachigen Presse hatten. Der Fall ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie sich die Mechanismen der Medien verselbstständigen können. Trotz aller aufklärerischen Wirkungen hat dieses Buch aber auch eine etwas zwiespältige Note. Die Goll-Affäre und der Antisemitismus der frühen Bundesrepublik bilden hier einen einzigen Sog. Die Analyse gerät dabei zu undifferenziert, denn jede negative Kritik über Celan wird automatisch mit Antisemitismus assoziiert und der Goll-Affäre zugeordnet. Ohne die notwendige Distanz wird dabei das gesamte Celan-Bild automatisch auf eine schwierige Opferrolle zentriert, die auf paradoxe Weise zur Identifikation einlädt.
Celan galt Ende der fünfziger Jahre unbestreitbar als ein bedeutender zeitgenössischer Autor. Er erhielt in kurzen Abständen den Preis des Bundesverbands der deutschen Industrie, den Bremer Literaturpreis und dann 1960 im Alter von vierzig Jahren den Büchnerpreis – dass sich jüngere Kollegen zum Teil konkurrenzlerisch an ihm rieben, gehört zu den Begleiterscheinungen literarischer Öffentlichkeit. Es gab Rezensenten, die reflexhaft, wie es bei Literaturkritikern allzu häufig der Fall ist, eine verständlichere und einfachere Sprache forderten. Weder in den Kontext der Goll-Affäre noch in den des Antisemitismus gehören unter anderem auch die Artikel des jungen, auf sich aufmerksam machen wollenden Lyrikers Peter Rühmkorf, in denen er aus einer unbedingt zukunftsgerichteten Perspektive heraus Celan kritisiert:

und so gesellt sich denn dem kühlen Entzücken an manchem eisfarbenem Bilde und der kunstvollen Tonlosigkeit der Sprachmelodie immer wieder der Ärger über den altbekannten Chiffrenreigen.

Celan hat sich in diesem (durchaus diskussionswürdigen) Text Rühmkorfs über das „lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“, der 1962 in dem von Hans Werner Richter herausgegebenen Sammelband Bestandsaufnahme erschienen ist, folgenden Halbsatz angestrichen:

Denn obwohl Celan sicher als Ausnahme nicht nur unter dichtenden Zeit-, sondern auch Artgenossen anzusprechen ist (…)33

Die Herausgeberin vermerkt dazu in einer Fußnote:

PC assoziiert hier Begriffe wie ,Artgemeinschaft‘ und ,artfremd‘ und sieht auch hier, und wohl nicht ganz zu Unrecht, Anzeichen für einen Antisemitismus von links.34

Der Einschub „und wohl nicht ganz zu Unrecht“ hat es in sich. Denn die Herausgeberin identifiziert sich hier mit Celan in politisch unhaltbarer Weise und verlässt die Haltung neutraler wissenschaftlicher Distanz. Was Rühmkorf mit den „Zeit-“ und „Artgenossen“ meinte, ist eindeutig dem Fortgang seines Satzes zu entnehmen:

(…) und obwohl bei ihm gemeinhin überzeugt, was man bei anderen zeitgenössischen Zeitflüchtern von Poethen bis Demus, von Raeber bis zu Atabay nur als ein modisches Make-Up empfindet (…), vermag man doch bestimmte Schwächen und Mankos nicht zu übersehen.35

Das heißt: Rühmkorf meinte mit „Artgenossen“ in seiner typischen Wortspielweise eindeutig „Genossen in artibus“, die Kollegen, die Lyriker, die er ironisch über die „Zeitgenossen“ stellte. Dass die Herausgeberin Rühmkorf hier des Antisemitismus bezichtigt, wiegt angesichts ihres sonstigen wissenschaftlichen Duktus schwer. Der eigentlich über alle Zweifel erhabene (und 1993 ebenfalls mit dem Büchnerpreis ausgezeichnete) Rühmkorf spürte: Hier lauerte seinerseits ein Rufmord, denn einige Zeitungen hatten den Vorwurf bereits aufgegriffen. Er fühlte sich genötigt, einen offenen Brief zu schreiben, in dem er sich gegen die „nicht nur fahrlässigen, sondern böswilligen Unterstellungen“ wehrte. Er empfinde „sie als Hakenkreuzschmierereien an meiner Haustür“. Die Wissenschaftlerin habe von seiner „politischen Sozialisation keine Ahnung“ und betreibe „denunziatorischen Wirrsinn“:

Gehen Sie in sich und prüfen Ihr eigenes Vokabular, ehe Sie anderen Leuten die Wörter im Mund herumdrehen.36

Den Begriff „Antisemitismus von links“ gab es 1959 noch gar nicht, er entwickelte sich erst nach 1968 und war gerade um das Jahr 2000 sehr virulent, als Die Goll-Affäre erschien. Darauf bezieht sich die Herausgeberin insgeheim. Generell fällt die Tendenz auf, alles auszuschließen, was jener Typisierung Celans widersprechen könnte, die einer fast religiös anmutenden Bewunderung den Weg ebnet. Der Dichter selbst hat sich zu seinen Lebzeiten mehrfach gegen solch eine Form der Opferrolle gewehrt.
Celan hat viele Facetten. Einige Phasen seines Lebens kann man durchaus mit überraschend anderen Konnotationen verbinden: die Zeit der surrealistischen Wortspiele mit Dichterfreunden in Bukarest etwa oder die ersten Jahre in Paris, mit Zügen von etwas Freizügigem, Streunendem, Fraueneroberndem. Das Rauschhafte, die Prägung durch osteuropäische Traditionen wie Gesang und Tanz, gehört auch zu Celan. Zu Gisela Dischner sagte er einmal:

Die Leute erschrecken immer, wenn ich lache. Ich bin doch schließlich der tragische Dichter.37

Dass sich in Celans Gedichten viel Sinnliches zeigt, dass sie auch etliche erotische Motive haben (nicht nur in den bewusst den Alltagsslang aufnehmenden späten Gedichten), ist erst langsam zu einem Thema geworden, wenn auch eher am Rand. Recht heilsam gegen eine allzu voreilige Ikonisierung und Vergeistigung wirkt eine Erinnerung Friedrich Dürrenmatts an Celan:

Wir spielten stundenlang Tischtennis, er war von einer ungeheuren, bärenstarken Vitalität, er spielte meine Frau, meinen Sohn und mich in Grund und Boden. Dann trank er zu einer Hammelkeule eine Flasche Mirabelle, einen starken Schnaps, seine Frau und wir tranken Bordeaux, er trank eine zweite Flasche Mirabelle, Bordeaux dazwischen, in der Pergola vor der Küche, am Himmel die Sommersterne. Er dichtete in das bauchige Glas hinein, dunkle, improvisierte Strophen, er begann zu tanzen, sang rumänische Volkslieder, kommunistische Gesänge, ein wilder, gesunder, übermütiger Bursche.38

Das Schwierige, Widersprüchliche am öffentlichen Umgang mit Paul Celan wird an seinem folgenreichsten Gedicht deutlich, der berühmten „Todesfuge“. Ausgerechnet ein Gedicht, das unmissverständlich auf den historisch eindeutig konnotierten Ort Auschwitz verweist, konnte dazu dienen, die Rezeption in andere Sphären zu lenken – auf die „schöne“ Sprache nämlich. Hans Egon Holthusen hatte ja bereits 1954 die entscheidenden Signale gesetzt, und er gab eindeutige Interpretationsanreize, wenn er schrieb, dieses Gedicht würde „der blutigen Schreckenskammer der Geschichte entfliegen (…), um aufzusteigen in den Äther der reinen Poesie“.39 Der Essayist bewies damit ein Gespür dafür, wie dieses Gedicht für die Zwecke eines nach dem Nationalsozialismus langsam wieder selbstbewusst werdenden Deutschlands dienstbar gemacht werden konnte. Wenn man wollte, schien es dazu einzuladen, in seinen Zeilen eine ästhetische Verarbeitung oder gar eine „Versöhnung“ zu erblicken. Auch der bekannte Germanist Clemens Heselhaus griff in einer Monographie von 1961 die Formel von der „reinen Poesie“ auf,40 und Wolfgang Weyrauch rühmte an der „Todesfuge“ die „Harmonie des Vollkommenen“.41 Reinhard Baumgart schrieb dann in der Zeitschrift Merkur 1965, mit Blick auf die Möglichkeit dieser Wahrnehmung der „Todesfuge“, kritisch von einer „raffinierten Partitur“, von „schon zuviel Genuss an Kunst“ und einer „,schön‘ gewordenen Verzweiflung“.42
Baumgart konnte zu diesem Zeitpunkt schon die Tendenzen in der Rezeptionsgeschichte der „Todesfuge“ erkennen, die sich unübersehbar herausgebildet hatten. Die Herausgeber des informativen und instruktiven Handbuchs zu Paul Celan formulieren, dass dieses Gedicht bereits früh zu dem „Markenzeichen“ des Dichters geworden sei, schon in seiner Zeit in Bukarest und Wien.43 Die Bezeichnung „Markenzeichen“ hat einen Zungenschlag, der auch auf Missverständnisse im Umgang mit diesem Gedicht hindeutet. Es ist eine vertrackte Konstellation. Man konnte in Deutschland die „Todesfuge“ lesen, sich betroffen fühlen, das unaussprechliche Leid der inhaftierten Juden in den Konzentrationslagern erkennen und sich gleichzeitig durch die suggestive rhythmisierte Sprache dieses Gedichts, seine kontrapunktische Konzeption mit Verweisen auf klassische jüdische und klassische deutsche Kultur-Topoi ansprechen lassen, durch seine scharfen, in Erinnerung bleibenden Bilder. Das führte zu einem besonderen Effekt, der bis ins Unbewusste reichte. Man nahm bereitwillig die „Schönheit“ dieses Gedichts auf sich und konnte sich dadurch als Deutscher von seinen Schuldgefühlen entlasten – es hatte auch die Funktion der Gewissensberuhigung. Man sprach sich durch die Rezeption der „Todesfuge“ frei. Sie wurde schnell zu einem Symbol für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, sie wurde in Schulen eingesetzt, und filmische Dokumentationen über das Grauen in den Konzentrationslagern wurden effektvoll mit der Rezitation dieses Gedichts unterlegt – oft mit der Stimme Celans selbst, der es für eine Schallplattenaufnahme des Neske-Verlags in Pfullingen 1959 im Studio einsprach.44
Später hat er das anscheinend bereut. Und zu seinen Konsequenzen gehörte auch, dass er seit Ende der fünfziger Jahre den „Philosemitismus“ mit dem Antisemitismus oft gleichsetzte, ihn sogar gelegentlich noch schlimmer fand.45 Er las die „Todesfuge“ bei öffentlichen Auftritten nicht mehr. Oft wird eine Aussage Celans zitiert, die er in den sechziger Jahren dem kommunistischen Literaturwissenschaftler und Übersetzer Hugo Huppert gegenüber getätigt haben soll:

Auch musiziere ich nicht mehr, wie zur Zeit der vielbeschworenen „Todesfuge“, die nachgerade schon lesebuchreif gedroschen worden ist. Jetzt scheide ich streng zwischen Lyrik und Tonkunst.46

Huppert hat das Gespräch danach im Hotelzimmer in einem „Aidémemoire“ stenographisch aufgezeichnet, aber es spricht einiges dafür, dass Celans Formulierung „lesebuchreif gedroschen“ wirklich gefallen ist. Die gesamte Geschichte der Rezeption der „Todesfuge“ lässt sich mit diesem Wort schlüssig zusammenfassen. Man kann die Art und Weise, wie die Todesfuge in der bundesdeutschen Öffentlichkeit vor allem in den siebziger und achtziger Jahren verhandelt wurde, nur dadurch erklären, dass eine merkwürdige Umpolung stattfand: Der Dichter nahm das Leid der Menschheit auf sich und erlöste sie dadurch.
Celan konnte und wollte die „Todesfuge“ natürlich nicht zurücknehmen, das Gedicht blieb für ihn neben allem anderen immer eine Grabinschrift für seine ermordete Mutter. Und gerade auch die „linke“ Kritik Baumgarts aus dem Jahr 1965 traf ihn deshalb persönlich, in einem Gedichtentwurf bezeichnete er sie als „kulturflott, linksnibelungisch“.47 Er wollte sich dieses Gedicht nicht aus der Hand nehmen lassen. Dennoch hat er selbst die aufregendste Auseinandersetzung mit der „Todesfuge“ geschrieben. Am Schluss seines Gedichtbands Sprachgitter aus dem Jahr 1959 steht der Zyklus „Engführung“, der sich eindeutig auf die „Todesfuge“ bezieht (nicht nur wegen des auf die Fuge bezogenen musikwissenschaftlichen Terminus) und der radikale Schlussfolgerungen aus dem nicht vorausgesehenen öffentlichen Umgang mit ihr gezogen hat. Die „Engführung“ lässt sich nicht so eindeutig lesen und begreifen – und vor allem auch nicht vereinnahmen – wie die „Todesfuge“. Das wurde durch grundlegende poetologische Überlegungen vorbereitet. In einer Umfrage, die die Pariser Librairie Flinker 1958 machte, beschrieb Celan die augenblickliche Situation der deutschen Lyrik – und es geht hier offenkundig um die seinige – so:

Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sie her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem ,Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich, das Polychrome des scheinbar Aktuellen im Auge behaltend, im Bereich des Visuellen nach einem Wort suchen darf, eine ,grauere‘ Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre ,Musikalität‘ an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ,Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte.48

Das ist unmissverständlich und eindeutig ein Kommentar Celans auch zu seiner „Todesfuge“, vor allem aber zum allgemeinen Umgang mit diesem Gedicht. Die „grauere“ Sprache, die ihm vorschwebt, ist eine Sprache, die die Missverständnisse ausschließt, die die „Todesfuge“ offenbar miteingeschlossen hat. Man sollte die „Todesfuge“ im Nachhinein nicht ohne diese poetologischen Sätze Celans lesen. Die „grauere“ Sprache ist das, was seine Dichtung von diesem Zeitpunkt an genuin ausmacht, sie ist seine einzigartige ästhetische Konsequenz. Der Zyklus „Engführung“ beginnt mit den Worten:

Verbracht ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:

Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß
mit dem Schatten der Halme:
Lies nicht mehr – schau!
Schau nicht mehr – geh!
49

Auch hier werden anfangs die Konzentrationslager direkt angesprochen: „Verbracht“ ist ein Partizip, das die Betroffenen damit sofort assoziieren. Hier aber ist auch das Gedicht selbst in dieses Thema „verbracht“, und es stellt sich allem, was damit verbunden ist. „Gras, auseinandergeschrieben“ verlässt den Boden der unmittelbaren Übersetzbarkeit, es ist der Weg in die Sprache selbst hinein. Nicht nur, dass „Gras“ von rückwärts her gelesen „Sarg“ bedeutet – das ist nur ein Oberflächenhinweis –: Die Sprache selbst, die Art und Weise, wie man spricht, ist das Problem, wenn man den Massenmord an den Juden in Worte fassen will. Es gilt, alles, was damit zu tun hat, „auseinanderzuschreiben“, das ist die Auseinandersetzung damit. Die Sprache kann nicht mehr dieselbe sein wie vorher. Es ist genau dasselbe, was Adorno mit seinem viel zitierten und oft missverstandenen Satz gemeint hat, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben.50 Celans „Engführung“ entspricht dieser Erkenntnis. Dieses Hineingehen in die Sprache – „Lies nicht mehr – schau! / Schau nicht mehr – geh!“ – ist das, was seine Gedichte bis zu seinem Tod kennzeichnet. Und es hinterlässt zwangsläufig mehr Fragen als Antworten.

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist. Galiani Berlin, 2020

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