Volker Braun: Große Fuge

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Volker Braun: Große Fuge

Braun-Große Fuge

K WIE KERTÉSZ

12. Oktober Der Nobelpreis ist wieder vergeben worden
Nicht an ihn In der Straßenbahn das entschiedene Gefühl
Nicht unter Menschen zu sein. Dann fiel mir ein, daß doch gerade
Diese Menschen die „neuen Menschen“ sind, eine noch nicht
Dagewesene Art. Unglaubliche Brutalität Feigheit Herden-
Dumpfheit. Mordlust, die auf das erste Zeichen von Schwäche
Reagiert. Ich dachte, es sei ein menschlicher Instinkt daß
Wenn jemand zuboden geht, der Mensch zurückschreckt, womöglich
Aufhilft. Es steht außer Frage, daß die Welt zugrunde geht

Sagt K in Auschwitz geboren Wir sitzen im Diekmann
Meinekestraße beim Spargelessen. Worin besteht die Katastrophe
Sinniert er Wie soll man die apokalyptischen Taten
Erklären Auschwitz, der Gulag Hochentwickelte
Gesellschaften. Die Geschichte, daran ist kein Zweifel
Findet für nichts eine Erklärung. Er darf es sagen
Der in Buchenwald wohnte Bei Beethoven kündigt sich
Die Katastrophe an
, in der Gebrochenheit der Fugen … Brecht
Ein banal denkender und mittelmäßiger Schriftsteller

Der an die soziale Ungerechtigkeit denkt, was zu den schrecklichsten Verbrechen führt.
Ich hasse ihn, wenn er spricht Die tägliche
Gymnastik eines Clowns, der sich dem Haß entgegen-
Stemmt Wie mag es sein zu leben, wo man dir Liebe
Er schluckt, oder zumindest wohlwollende Gleichgültigkeit entgegenbringt?
Am Ku’damm also nicht in der Budakeszi, Fischsuppe
Spaghetti mit Muscheln. Ich zum Beispiel, sagt er
Bin unglaublich flexibel – ich bin nirgend wie Dieser Mensch
Ist zu allem fähig
Der Mensch der Katastrophe
Für den es keine Rückkehr in seinen Kern gibt.
Dieses Ich-lose Wesen ist das wahre Übel, und amüsanterweise
Ohne daß es selbst schlecht wäre zu jeder Untat fähig

Immer noch wissen wir nicht was uns treibt und warum wir
Leben. Auschwitz setzt sich fort überall in allem
Er hat das Recht es zu sagen, K der Auschwitzclown
Es gibt Sätze die falsch sind, notierte Nietzsche
Die aber gesagt werden müssen. Der Schmutz sprudelt
Aus der Gesellschaft wie aus einer Kloake
Er
Darf alles sagen. Es muß unbedingt
Gesagt werden Es ist empörend, es ist das Leben
Sagt der Überlebende, der nie aus dem Lager herauskommt
Auschwitz hat stattgefunden und
Was stattgefunden hat beeinflußt alles was noch stattfinden kann.
In ca. vier Jahren möchte ich sterben Richtig gelebt
Hab ich bis 1990. Glücklich war ich sieben Jahre 1983 bis 89

Mein Schreiben dient nur insoweit mich darzustellen
Wie dieses unbestimmte konturlose Wesen – ich –
Das Chaos darstellt. Morgendämmern Die klaren Konturen
Berlins wie von Nebel verwischt, in der Tiefe
Ein Leuchten Das ist das Sein selbst

 

 

 

Volker Braun liest aus Große Fuge

 

 

„Was haben sie 2020 gemacht? –

Die Hände gewaschen“ und eine Handvoll Verse geschrieben. Beiläufig und ein Wurf, in der hallenden Stille, als die Gesellschaft in den Augenblick gebannt scheint.

Das ist deine Kunst jetzt
allein zu sein, mit allen und ernst
auf dich gestellt wieder Stein, der Halm
und mitzudenken mit den Gebirgen und Meeren.

Ein Zeit- und Weltgedicht, über die Windbürger, die Sorgen des Staatswesens und den Handschlag der Eingebürgerten Danmarks, mündend ins „Aggregat K – den Kernbereich der Fabrik, mitleidenschaftlich, gemeinsüchtig“, eine mögliche Praxis. Und mitten im Jahr tritt ein Trupp Tonkrieger hinzu aus dem dunklen Trakt der Geschichte, Denker der Fließgewässer und der „Mensch der Katastrophe“. Die trans-atlantischen Amazonen gehn über die Grenzen, und die Toten beginnen zu reden in der Geisterstunde in Berlin-Mitte.
„Wir müssen lachen und weinen“, schreibend die Freunde. „Mit solcher Leichtigkeit (schwebend), mit Einsicht, Ironie, Wut und Hoffnung hast du die gegenwärtige Lage behandelt… eine kühne aktuelle Kunst“, so David Constantine. „Die Gedichte sind für jeden Tag.“

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2021

„Was haben Sie 2020 gemacht?“

In dem Jahr, in dem die Welt „bewegt ist, miteinmal, stillezustehn“. Als die Straßen „entmenscht“ sind, die Stadt ruhiggestellt ist und „die Logik der Rettung“ lautet: „Nicht vor Publikum, nicht in dieser Saison“. Während „Wetterwandel“ und „Weltenaufruhr“ andernorts weitertoben: Im Anthropozän findet der Mekong sein Delta nicht mehr, fressen sich Brände in den trockenen Wald, herrscht ein „Krieg der Landschaften“. Und inmitten all dessen wir – der so moderne, aber doch vergängliche Mensch, der „Mensch der Katastrophe“, zu allem fähig, im Guten wie im Schlechten, stets menschlich.
Die neuen Gedichte von Volker Braun vermessen eine Welt, einen Alltag im Wandel. Immer politisch, immer sozial zeigt sich der Mensch in diesem Dazwischen. Und kann sich – trotz allen Fortschritts – die Natur am Ende doch nicht unterwerfen. Aber im ewigen Werden und Vergehen liegt auch ein gewisser Trost.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

 

Wort halten

– Volker Braun war immer ein sperriger und auf seine Art unbestechlicher Schriftsteller. Kein Mann der Kompromisse, nicht in der DDR, nicht heute. Eine Geschichte über Sprache, die einem so zufliegt. –

Auf einmal war das Wort da: Windbürger. Was macht man mit einem solchen Wort, das einem zufliegt, wohl auch, weil es dieses Luftige und gleichzeitig Freche an sich hat? Die meisten Wörter fliegen uns nicht zu. Sie entstehen aus gesellschaftlichen Zusammenhängen, aus prekären Lagen. Der „Wutbürger“ ist so ein Begriff unserer zunehmend nervöser werdenden Gesellschaft, der „Aluhutträger!“ steht für die Verachtung von Aufklärung und Vernunft, und die „Covidioten“ werden, indem man sie so nennt, sehr entschieden aus der sozialen Mitte verwiesen. Neologismen einer unbehaglichen Gegenwart sind das, und irgendwie haben wir uns schon daran gewöhnt, dass die neuen Wörter, die uns heimsuchen, immer etwas Bitteres an sich haben.
Aber der Windbürger, den Volker Braun in einem seiner neuen Gedichte vorstellig werden lässt, ist ja auch ein Kind unserer Zeit. Es gibt ihn sogar wirklich, den Bauern, der sein Stück Land verpachtet, damit dort ein Windrad Energie erzeugen kann. ,,Ein alternativer Lohnerwerb unter sausenden Rädern“, schreibt Braun in seinem neuen Gedichtband Große Fuge, dem ersten großen poetischen Werk, das über unsere neue Normalität geschrieben wurde.
,,Ich glaube, alles fing mit diesem Begriff an“, sagt Volker Braun, der Dichter aus der alten DDR, 82 Jahre alt ist er inzwischen, hochgeehrt mit wichtigen Auszeichnungen, Akademie-Mitgliedschaften, den Georg-Büchner-Preis bekam er im Jahr 2000. Dieses Land hat ihm wunderbare Verse zu verdanken, stachelige Sätze mit Widerhaken, wie sie mittlerweile rar geworden sind in der deutschen Poesie. Wer durch die Berliner Friedrichstraße geht, kann zwischen dem Feinkostladen Lindner und dem Einstein Kaffee eine Bronzetafel entdecken, ein Gedicht von Volker Braun steht darauf:

Wir haben, geschlagen wie wir sind, unsere Kraft geschmeckt, die Macht der Menge.
Wir haben einen Staat verschwinden gemacht, wir haben die Ämter geöffnet.
Wir erinnerten uns für einen Moment „der Zukunft“, es hat sie gegeben.

Das galt der friedlichen Revolution von 1989. Mit der Zukunft, auch so ein positiver Begriff von früher, tun wir uns heute wieder schwer, so als sei, wer an sie glaubt, ein naiver Windbürger, blind für die Schrecken, die wir Tag für Tag in Stummelwörtern und Satzfetzen retweeten und uns sonst wie um die Ohren hauen. Aber wo kriegen wir die guten Wörter her? Wer schenkt uns eine zweite Sprache, in der die Wahrheit weder aus dem Mund von Querdenkern noch aus dem Wörterbuch der Virologen stammt?
Was bleibt, stiften die Dichter, das hat Hölderlin geschrieben. Es wäre schön, wenn das stimmte.
Ein altes Gründerzeithaus in Berlin-Pankow, das Schloss Schönhausen liegt um die Ecke, nebenan der Amalienpark, wo ein Gedenkstein an Christa Wolf erinnert, die dort gewohnt hat und zu Volker Brauns Freunden zählte. Ihre Werke sind so etwas wie das literarische Tafelsilber der DDR. Heute darf ein grinsender TV-Banause im Bücher-Fernsehen Christa Wolfs Novelle Kassandra als „Mimimi-Literatur“ verhöhnen und symbolisch in Flammen aufgehen lassen. Als sie gestorben war, hielt Braun die Totenrede auf Christa Wolf:

Sie ging bis an die Grenze, an der man sich selbst als Fremder entgegenkommt.

Volker Braun ist ein schlanker, fast zarter Mann, wie einer der Weisen aus Brechts Stücken sieht er aus, wenn er in der großen, mit Bücherwänden tröstlich ausgestatteten Wohnung steht. Darüber darf auch kurz gesprochen werden, wie man heute in Berlin um Wohnungen kämpfen muss – der Mietmarkt, das spätmoderne Klondike: ,,Die Wohnung haben wir von Hilmar Thate und Angelica Domröse übernommen“, sagt Braun. Das Schauspielerpaar suchte eine andere Bleibe. Damals in der DDR ging das reibungslos, die Mieten waren gering und spielten bei der Wahl der Wohnung keine große Rolle.
Und heute? Wohnungen benötigte man in den vergangene Monaten mehr als sonst etwas. Man war ja gewissermaßen per Dekret auf sie verwiesen worden, als das Virus begann, sich auch gesellschaftlich durchzusetzen. ,,Ich hatte gar nicht die Absicht und das Gefühl, mich mit Corona zu beschäftigen“, sagt Volker Braun. Aber er kam den Reizworten nicht mehr aus, ,,die wurden mir zugereicht und lagen buchstäblich in der Luft“. Und es gab, wie immer bei Volker Braun, die Lust an Begriffen. ,,Katarrhsis“ ist so ein Wort, das Braun sich notiert hatte – das griechische Wort für die reinigende und läuternde Wirkung des Elends. Das zweite „r“ schleppt gewissermaßen die Grippe in das Wort ein.
,,Die Stadt ist ruhiggestellt wie ein Pestpatient“, damit beginnt das Gedicht. Der Patient atmet flach, auch kulturell sozusagen, und nur ein Dichter wie Volker Braun vermag es, in all den Handreichungen, die wir bekommen haben, vor allem Ohrfeigen zu sehen. ,,Die Kanzlerin rät von sozialen Kontakten ab“ – in der Poesie scheint die Ungeheuerlichkeit dieses Ratschlags unbarmherzig auf.

Was haben Sie 2020 gemacht? – Die Hände gewaschen.

Erstaunlich, wie klar und illusionslos hier ein Jahr besichtigt wird, das nicht weniger als ein Zeitalter ist.
Wer mit Volker Braun in seiner Berliner Wohnung über Poesie redet, führt Werkstattgespräche. Es geht immer ums Machen, um Notizen, Vorbereitungen, handfeste Materialsichtung für das Luftgeschäft Poesie. Die Gedanken jagen einander wie junge Hunde und schnappen nach den Satzenden, die bei Braun oft auf der Strecke bleiben. Er hat am Telefon vorgewarnt: Es gebe Leute, die präzise auf Fragen antworten. Und es gibt zum Glück Leute wie ihn, deren Sätze wie Arme nach allen Seiten ausgreifen.
Braun geht ins Nebenzimmer und holt Computerausdrucke. Er sagt: ,,Dann habe ich so etwas geschrieben“, so als sei der Text etwas ganz Fremdes:

Ruhiggestellt ist die Stadt und du auch halte ganz stille
Achtzigjähriger, denn einer von vieren verreckt
Sagt dir die Zeitung. Halte Abstand vom Leben, vom Tod auf
Ein Meter fünfzig
(Braun sagt fünefzig) und trinke andauernd was.

Braun gießt Spott und Sarkasmus in die Welt. Er tut das auch, weil Corona für ihn zwar einen ernsthaften Riss ins Gebälk der Gesellschaft treibt; es sei für die Jungen die erste Begegnung mit einer Bedrohung, sagt Braun, ,,und sie wissen, dass sie andere Dimensionen annehmen kann“. Aber er selber schaut auf ein sattes Lebenskonto aus Krisen und Einschnitten:

Man hat ja einige Ausnahmezustände mehr hinter sich, und ich rede nicht von 1990.

Volker Braun wurde 1939, im ersten Kriegsjahr, in Dresden geboren. Als die Stadt von amerikanischen Bombern zerstört wurde, war er sechs Jahre alt, sein Vater starb am „letzten Kampftag“. An den blutroten Himmel über Dresden erinnert er sich noch, an Erzählungen über Menschen, die „es in die Luft riss“ und die im Phosphor verbrannten. ,,Meine ästhetische Schule waren die schönen Ruinen“, mit diesem Satz stellte sich Volker Braun 1997 anlässlich seiner Wahl in die Akademie für Sprache und Dichtung vor. Ästhetik im Bombenkrieg? „Es war der Kontrast der Empfindungen, wenn man am heilen Rand einer zerbombten Stadt aufwächst“, sagt Braun in seiner Pankower Wohnung, ,,Dresden war die Erfahrung von Schönheit und Grauen, Schöpferkraft und Vernichtung – das ist eingebrannt.“
Was folgte, war das Leben im neuen Staat DDR. Der Marxismus, die reine Lehre und die Folgen, die all dies für den jungen Mann hatte, der dort seinen Platz finden wollte. Er wollte Journalistik studieren, dafür sollte Braun erst einmal ein Jahr in der Druckerei arbeiten. Er wurde Apparateführer, er stapelte das Papier, auf das die Zeitungen gedruckt wurden. ,,Ich hatte eine Maschine zu bedienen“, sagt Braun, ,,aber an dem Tag war ich der Drucker.“ Dann wurde er entlassen – „wegen Äußerungen“. Das sei so durch sein Leben gegangen, sagt Braun, er nennt das „Anmerkungen zum Weltlauf machen“, eine Grunderfahrung, keineswegs mit der Absicht, die Mitwelt zu verstören oder zu provozieren.
Volker Braun wollte mit den Wörtern keine Kompromisse machen. So war es mit seinen ersten Stücken, als Helene Weigel ihn als Dramaturgen ans Berliner Ensemble holte. So war es mit seinem berühmten Hinze-Kunze-Roman, der Diderotschen Fabel vom Herrn und Knecht, gnadenlos heruntergebrochen auf die DDR-Gesellschaft.
,,Das Wort war anwesend“, sagt Braun. Dafür stellten ihm die bestellten Rezensenten und die Kulturbehörden der DDR regelmäßige Quittungen aus. Sein erstes Stück Die Kipper musste 1962 vom Spielplan des Berliner Ensembles verschwinden und wurde erst zehn Jahre später in Leipzig aufgeführt. Der Hinze-Kunze-Roman durfte jahrelang nicht in der DDR erscheinen, weil die Parabel vom Chauffeur und seinem Herrn mit der Losung von der angeblichen Gleichheit aller Menschen in der sozialistischen Gesellschaft so gar nicht übereinstimmen wollte. Beinahe die komplette Staatsregierung der DDR war mit diesem Buch beschäftigt, so gefährlich schien ihr der Stoff.
War es nicht mühsam, ständig all dies mit zu bedenken? „Nein“, sagt Braun. „Das waren die Produktionsbedingungen.“ Im Hinze-Kunze-Roman steht es so:

Es erhebt sich die Frage, ich mache mir nichts vor, ob wir die Literatur als Angelegenheit des Volkes wollen oder als Verschlusssache.

Und dann stellt man die Frage, die jedem Schriftsteller, jedem Künstler gestellt wird, der nach 1976 in der DDR geblieben ist, die Frage nach dem Warum.
Auch für Volker Braun war, wie für alle Autoren, die ihre Position zugleich mit und gegen den Staat behaupten mussten, diese Frage existenziell. ,,Nach der Ausbürgerung von Biermann gab es die Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben“, sagt er. Manche, Jurek Becker, Günter Kunert und Hans Joachim Schädlich, haben sich dafür entschieden, in den Westen zu ziehen. Das habe er immer akzeptiert, sagt Braun. Aber:

Ich hätte es für mich als eine Art Feigheit empfunden, als die Privatlösung.

Und was ist die Verpflichtung dessen, der bleibt? Braun sagt: das Schreiben zu radikalisieren. Damals schrieb er diese Verse:

Ich bleib im Lande und nähre mich im Osten. Mit meinen Sprüchen, die mich den Kragen kosten.

Volker Brauns Texte, seine Gedichte und Theaterstücke, seine Essays und Erzählungen sind Zeugnisse dieser Radikalität, auch, nein, gerade in der Sprache. Schon ein Jahr nach der Biermann-Ausbürgerung erschien Brauns Unvollendete Geschichte mit ihrem kleistartigen Anfang. Braun erzählt darin die Geschichte der jungen Journalistin Karin, deren Vater, ein hoher Funktionär, seiner Tochter den Umgang mit ihrem Freund Frank verbieten will, weil dieser nicht auf Parteilinie ist. Die Sprache: kalt und unbarmherzig wie die Wirklichkeit des Landes, in dem die Geschichte spielt. Keine Psychologie, kein Mitleid – das Leiden des Menschen am Staat wird grell mit dem Flutlicht der kalten Beschreibung ausgeleuchtet.
Nach der Wende, für Braun „ein Moment größter Anarchie und größter Ungebundenheit der Gesellschaft“, blieb Volker Braun jener sperrige, unbestechliche Dichter, der er über die Jahre geworden war. An einen Leitartikel aus dieser Zeit erinnert er sich noch sehr gut. Der Satz, der dort stand:

Die Ostdeutschen sind undankbar, sie haben vergessen, aus welcher Dunkelheit sie kommen.

Jedenfalls hat Volker Braun nicht vergessen, wie der Westen damals sein Narrativ auf die Lebensläufe der Menschen gestülpt hat. Er hat auch nicht vergessen, woher die Souveränität der ostdeutschen kam, mitzubestimmen und anwesend zu sein.

Sie kam aus der Gesellschaft selbst, ihrer Struktur, ihrer Erfahrung sozialer Gleichstellung der überwiegenden Mehrheit: Und das war der Impuls des Aufruhrs, mitzubestimmen und anwesend zu sein.

Das war Volker Brauns Thema seit jeher: über die Wirklichkeit zu reden, auch über die Wörter, die darübergelegt wurden und die nicht mehr waren als, so sagt Volker Braun:

Das Selbstgespräch des Westens über den Osten.

In jenem Wendejahr hat Volker Braun sein vielleicht berühmtestes Gedicht geschrieben, „Das Eigentum“. Mit dieser Zeile beginnt es:

Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.

Das radikale Schreiben ist ihm geblieben. Vielleicht auch, weil ihm der unbestechliche Blick auf die Wirklichkeit geblieben ist, so wie das untrügliche Gefühl für die falschen Töne.
Volker Braun geht noch einmal in das Nebenzimmer, dorthin, wo der alte, ein wenig unbequeme Lesesessel steht, der aussieht wie der Sessel des alten Bertolt Brecht im Haus des Dichters an der Berliner Chausseestraße. Er kommt mit einem weiteren Blatt zurück: ,,Und dann steht hier unten so ein Satz“, sagt er, als interpretiere er den Text eines Kollegen. „Die Kanzlerin rät von sozialen Kontakten ab. Das sind natürlich Angebote“, sagt Volker Braun, „das ist Futter, fahrlässig genug, unfaire Zeilen darunter.“
Welche?
Hier: „Wenn ich sage ,Kein Shakehands – doch vorsichtshalber der deutsche Gruß.‘ Ist das missverständlich? Nein, das steht wirklich da, ein Splitter der Realität“, sagt Braun. „Da trage ich die Verantwortung.“ Brauns Lektor hat diese und andere Stellen markiert. Die Zeiten sind empfindlich, die Sprache bekommt ihre Fallstricke jetzt von woken Sachverständigen angelegt. Selbst wenn ein Wort an sich nichts Anstößiges hat, könnte es, sobald es auf die Reise geht, missverstanden werden und falsche Assoziationen wecken. Es ist ganz merkwürdig, aber irgendwie dürfte Volker Braun das bekannt vorkommen. Als er in der DDR seine ersten Gedichte veröffentlicht hatte, sagte sein Ästhetik-Professor an der Leipziger Universität:

Wenn man diese Gedichte zu Ende denkt, sind sie konterrevolutionär.

Die Stasi, die Volker Braun jahrelang ausspioniert hatte, nannte den operativen Vorgang gegen ihn „Erbe“. Das haben sie immerhin verstanden: Einer, der schreibt wie Volker Braun, läuft auf der Traditionslinie von Büchner, Schiller und Brecht.
Der Satz mit dem deutschen Gruß blieb jedenfalls im Manuskript von Brauns Gedichtband Große Fuge, auch die Zeile ,,MeToo-Ästhetik, correctness / Der Jetztzeit“. Volker Braun will nicht provozieren (obwohl sein erster Gedichtband 1965 Provokation für mich hieß). Aber er glaubt an die Verpflichtung des Dichters, auch des Journalismus, eine, wie er sagt, „normale, begreifliche, klarstellende Sprache“ zu pflegen. Eine Sprache, die nicht, wie es in Brauns neuen Gedichten heißt, „auf dem Gendergraben“ Umstände macht, um etwas Einfaches einzufordern.

Geschlechtergerechtigkeit wird nicht durch Sprachmisshandlung eingeklagt.

Volker Braun sagt das ohne äußerlich sichtbaren Eifer, ohne geballte Faust. Er benötigt die große Geste nicht, anders als Wolf Biermann, der im Gespräch eher Schauspieler als Gegenüber ist. Mit dem Sänger und Dichter Biermann verbindet Braun eine jahrzehntelange Freundschaft, die auch ihre Brüche und Widerhaken kannte. In seiner Autobiografie nennt Wolf Biermann Volker Braun den „Kraft-durch-Kummer-Poeten“. Das ist kein schlechtes Zeugnis für diesen Dichter, dessen Verse immer auch die Grenzen markieren, an denen Sprache und Wirklichkeit sich trennen.
Braun hat es erlebt und erlitten, wie scheinbar Mächtige aus Angst vor Worten ganze Bücher und Theaterstücke verboten haben. Volker Braun und andere, Wolf Biermann, Christa Wolf, Heiner Müller und Sarah Kirsch – sie alle wussten, dass man mit der Sprache eine Wahrheit aussprechen kann. Aber man schafft damit nicht die Lüge ab. Volker Brauns neue Gedichte sind auch helle und klare Lektionen für alle, die meinen, sie könnten die Welt besser machen, indem sie die Sprache manipulieren. Man kann, so steht es in Brauns Gedicht „Kyborg“, „das Geschlecht mit einem Sprechakt ändern, aber die Welt nicht“.

Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung, 25.8.2021

Worte wie Maschinenteile

– „Ersatzteil für die Evolution“: Mit seinem neuen Gedichtband Große Fuge hinterfragt Volker Braun die andauernde Übergangszeit. –

Seine Worte, zu Sätzen sich zusammenfindend, sind Bollwerke gegen die Zeit. Einer Zeit jedoch, aus der diese Dichtung wiederum selbst gemacht ist – aber als ihr intimer Widerpart. Volker Braun: Dialektiker auch im Gedicht.
Für Dialektiker war das vergangene Jahr ein denkbar – und fühlbar! – schlechtes. Davon kann man nun in Große Fuge lesen. Was ist passiert, während die Zeit scheinbar still stand? „Die Hände gewaschen und eine Handvoll Verse geschrieben.“ Das klingt nach aseptischem Tun. Ist es aber nicht bei Braun, der immer das Material erst mit Händen greifen muss, um es auf seine Vergeistigungsmöglichkeit hin zu prüfen.
Der Titel des schmalen, großformatigen Bandes ruft dabei gleichsam nach musikalischem Beistand. Denn die Fuge ist per se mehrstimmig, etwas, woran es dem Einstimmigkeit einfordernden Corona-Sound der vergangenen Monate ganz offensichtlich mangelte. Bach schrieb „Die Kunst der Fuge“ und Beethoven seine „Große Fuge“, ein Streichquartett, das er dem Erzherzog Rudolph widmete – bei dem diesem vermutlich die Ohren klangen und alle Gewissheiten durcheinanderfielen. Erst die Vielstimmigkeit gibt der Melodie ihre welteröffnende Kraft.
Nun scheinen der Autor wie der Leser nicht ganz frei von Melancholie. Denn es ist bald sechs Jahrzehnte her, dass Volker Braun beim Lyrik-Abend der Ostberliner Akademie der Künste im Herbst 1962 seinen ersten großen Auftritt hatte, wie auch Wolf Biermann, Sarah und Rainer Kirsch, B.K. Tragelehn und viele andere, die damals alle Anfang in ihren Zwanzigern waren. Stephan Hermlin hatte eingeladen und zelebrierte an diesem Abend die neue Kunst einer jungen Generation. Da war der Raum erfüllt von jener „Großen Fuge“, die mehrstimmig vor Erregung vibrierte, einem verheißenen Aufbruch entgegen. Braun war Maschinist in der Schwarzen Pumpe gewesen, gerade hatte er sein Philosophiestudium in Leipzig begonnen und so klang sein lyrisches Credo entschlossen wie ein Manifest:

Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate.

Was für Gedichte das sein sollen, sagte er auch:

Hochdruckventile im Rohrnetz der Sehnsüchte.

Man befand sich in lustvoll-kämpferischer Erregung. Fragte im Publikum auch laut nach, was denn das Neue Deutschland so für Gedichte veröffentliche? Nicht die von heute, die den Widerspruch feiern, sondern widerspruchsfreie Worthülsen von gestern. Was den „ND“-Vertreter in der Veranstaltung auf den Plan rief, der laut protestierte, dies hier sei „eine gelenkte Diskussion gegen das ND“. Wütende Proteste nicht nur der Jungen, auch der alte Anarchist und Plakatkünstler John Heartfield rief, Schlagzeilenmacher aus Instinkt, dem Funktionärsjournalisten entgegen:

Hier ist nichts gelenkt, hier lenkt man für das ND!

Damals hätte man glauben können, damit sei eine vitale Diskussion in Gang gekommen, die tatsächlich etwas in Bewegung versetze. Aber dann ging der so selbstbewusst-rauschvolle Abend vorbei und die Abstrafungsmaschine begann zu arbeiten. Drei Jahre später bekam Biermann Auftrittsverbot, Hermlin war als Sekretär der Sektion Dichtung der Akademie der Künste zurückgetreten worden – und Braun laborierte an seinem „Kipper Paul Bauch“, dem man feindliche Tendenzen und Verzerrung des Bildes vom Arbeiter unterstellte.
Es begannen statische Zeiten, die für Braun schließlich in seinen Hinze-Kunze-Roman mündeten, der Hegels Herr-und-Knecht-Dialektik unter den Bedingungen einer ihren inneren Bewegungsimpuls einbüßenden DDR durchspielte: der Funktionär und sein Chauffeur. Man fährt, wenn überhaupt, nur noch im Kreis.
Und nun, Jahrzehnte später, nach über einem Jahr Lockdown? Braun, in strenger auf sich selbst gerichteter Observanz, konstatiert, schon lange nicht mehr geträumt zu haben – ein schlechtes Zeichen. Er habe „das Unterbewusstsein verloren, Genossen, kein Homeoffice im Schlaf, die gewohnte Schwarzarbeit“.
So ist der Traumschutt, das anrückende Personal aus fernen Tagen, das nachts gefährlich nahe kommt, erst einmal auf Distanz gehalten. Aber natürlich liest man das Vergangene immer mit, auch in „Nach unserer Zeit“, worin es heißt:

So sehe ich die Menschheit treiben
In ihrem Fahrzeug Nach ihrer Zeit
Totenstille Ein Geist an Bord

Wer denkt da nicht unwillkürlich an die „Fähre zwischen Eiszeit und Kommune“, als die Braun Mitte der sechziger Jahre die gegenwärtige Lage des Sozialismus in der DDR beschrieb? Ein Übergangsphänomen, also hoffnungsvoll. Aber dem folgte verordneter Stillstand, ein traumloser Traum. Die Gespenster simulieren Bewegung. Das können sie, einem den Schlaf rauben.
Und so führt das Erwachen des Dichters Stift. Er schreibt in Große Fuge Protokolle eines Übergangs vom Unbewussten ins Bewusste. Auch das ist ein Kreislauf, wenn auch ein störanfälliger. „Katharrsis“ heißt ein Gedicht über den ordnungssinnigen Ausnahmezustand des Lockdowns, in deren Rücken der Entbehrlichkeitsbefund mit spitzem Bleistift mitgeht:

Platzangst Flachatmung Katarrh im Kulturbetrieb, einmal
All dem (Unfug) Einhalt gebieten EIN JAHR OHNE KUNST
So kommt Ruhe ins Verfahren, ihr Dilettanten.

Braun ist ein Autor, der Worte wie Maschinenteile immer dort einbaut, wo sie fehlen. Nur so kann man einen defekten Motor (vielleicht, so die Rest-Utopie) wieder zum Laufen bringen. Wie anders den Ruf „WELCOME IN THE KOM-POSTMODERNE“ deuten denn als einen spielerischen Versuch, mit dem Neubeginn nach dem ultimativen Ende ernst zu machen? Alles eine Frage der nötigen Ersatzteile, der zum vollständigen Satz fehlenden Worte. Solange diese fehlen, muss man sie überbrücken – mit Improvisationskunst wie eh und je. Denn noch immer gilt:

Kommt uns nicht mit Fertigem!

Und wer bewahrt uns vor der vollständigen Übernahme durch jene Technik, die wir einst schufen und die sich nun selbstständig perfektioniert – ohne uns, gegen uns? Vielleicht einer wie Volker Braun, der in seiner ebenso erschütternden wie erheiternden Großen Fuge mit den Bruchstellen im System rechnet und das Archaische mit dem Anarchischen kunstvoll verknüpft. Das ist etwas, wovor jeder „Kyborg“ (so ein Gedichttitel) kapitulieren muss:

Ein Urmensch, Mähne, gebückter Gang such ich
Am Strand ein Ersatzteil für die Evolution
Angespült von einem Schiffbruch, ein Werkzeug
Für die Liebe, ein lebendiges Ding wie den Tod.

Gunnar Decker, nd, 24.5.2021

Seine Kunst, jetzt

– Coronaverse? Volker Braun verknüpft poetisch Diskursversatzstücke zu einer „Großen Fuge. –

Coronalyrik – auch das noch! Was wird dabei wohl herauskommen? Larmoyante Selbstbespiegelung, die nichts als die bloße Aktualität zum Anker hat? Gewiss gibt es solcherlei dichterische Auswüchse. Aber es lassen sich auch Beispiele des Gelingens wie etwa Volker Brauns neuer Band Große Fuge finden. Statt ausschließlich die pandemische Tristesse zu beschreiben, rückt er die Pandemie pointiert, bisweilen äußerst provokativ in historische Kontexte – insbesondere immer dort, wo es um die Freiheit und das Verhältnis der/s Einzelnen zum Staat geht.
Am Anfang der Menschheitstragödie Corona steht jedoch die gigantische Einsamkeit:

Das ist deine Kunst jetzt
Allein zu sein, mit allen, und ernst
Auf dich gestellt wie der Stein.

Er ruht in einer Zeit der „Totenstille“. Wir alle gleichen ferner einem „KÖRPER (…) BRÜCHIG WIE DRECKIGER / FEUCHTER SAND ZUSAMMENGESUNKEN AM TISCH / NUR NOCH IN FORM UND HALTUNG EINEM MEN- / SCHEN ÄHNLICH / So sehe ich die Menschheit treiben.“
Dass sich diese dystopischen Bilder und darüber hinaus die Einschränkungen der persönlichen Autonomie als keineswegs singulär erweisen, zeigen Brauns zugespitzte Retrospektiven. Vielleicht um kein Tor für Populismus und Quergedenke zu öffnen, stellen sie niemals einen direkten Bezug zur derzeitigen Pandemie her. So findet sich unter seinen Miniaturen etwa eine über Ulrike Meinhof, die man als LeserIn erst nach und nach mit der derzeitigen Debatte über die legitimen oder nicht legitimen Grundrechtseingriffe in Verbindung bringt. Noch weiter fällt der Gedankensprung in dem Text „Kyborg“  aus, der im Spiel mit transhumanistischen Visionen von Mensch-Maschine-Konstellationen letzthin von der Freiheitsbegrenzung des Körpers berichtet. Wenn vom „Mauerstreifen“ und der „Reichsbahn mit dem Toten“ die Rede ist, wird selbst in Zeiten eines globalen Virus klar: Ungefährdet war unsere leibliche Existenz noch nie.
Durchaus ein wenig polemisch, all diese geschichtlich voneinander entlegenen Phänomene in einen Topf zu werfen – könnte man meinen! Doch wer Braun kennt, weiß, dass mehr hinter dieser Vermengungsstrategie steckt. Geboren 1939 in Dresden, wächst der spätere Dramatiker und Lyriker, dessen künstlerisch-politische Ambitionen in der Tradition Bertolt Brechts stehen, in der DDR auf. Indem er sich mit dem Sozialismus sowohl kritisch als auch mitunter feierlich auseinandersetzte, erlangte er den Ruf eines differenziert denkenden Intellektuellen.
Nun diverse, eher lose auf Corona verweisende Diskursversatzstücke zu verknüpfen, hat daher wohl einen Grund: Er will der Polyphonie Ausdruck verleihen. Nur so ergibt auch der klug gewählte Titel des Bandes Sinn. Allgemein steht die Fuge für einen Zwischenraum, die Musik definiert sie hingegen genauer als eine mehrstimmige Komposition, wobei ein Thema in verschiedenen Tonlagen variiert wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich die jetzige Pandemie nur als kleine Station in einer Geschichte über die Menschen und ihre Beziehungen zum Staat lesen. Aus der Vogelperspektive auf die Erde erscheint sie gar als Krise en miniature. Während die Gesellschaft um Ausgangssperren streitet (und jetzt über Öffnungsmodalitäten), breitet sich buchstäblich auch in diesem Gedichtband der Klimawandel aus. Die Gletscher schmelzen. Derweil mutet „der Mekong / Ausgelöffelt“ an und „findet sein Delta nicht mehr“.
Angesichts all dieser Erschütterungen bedient sich Braun einer Sprache, die an einen kurvigen, zahlreiche Bruchstücke mitreißenden Fluss mit harten Ufern erinnert. Dass die Sätze teils an der Versgrenze gebrochen werden und sich manchenteils jedweder grammatikalischen Ordnung entziehen, ist daher nur konsequent. Sicherlich verzichten die Texte auf eine zeitliche Distanz zur Pandemie. Stattdessen sind sie eruptiv und Ausweis einer authentischen Gegenwartsdiagnose: Die Welt liegt im Chaos. Dieses in Worten fassbar zu machen – genau darin besteht das Verdienst von Brauns poetischer Schlagkraft.

Björn Hayer, der Freitag, 13.6.2021

Das Abendland geht ohne Abschied

– Wenn das Unbewusste keine Bilder mehr liefert: Volker Brauns neue Gedichte sind durchsetzt von pandemischer Not. –

Das Coronavirus ist mehr als bloß ein Krankheitserreger. Es dringt in alle Gesellschaftsbereiche ein, indem es das Sozialverhalten verändert. Es ist nicht nur ein biologisches Problem für den Körper, sondern wirkt genauso infektiös auf die Psyche, auf Träume, Bewusstsein und Unbewusstes. Also verbreitet sich das Virus auch im Grenzbereich zwischen Schlaf und Wachen, wo die Große Fuge, der neue Gedichtband von Volker Braun angesiedelt ist. „Seit langem träume ich nicht“, bekennt der Büchnerpreisträger in einer Art prosaischem Prolog, und liefert auch gleich die Diagnose dazu:

kein Homeoffice im Schlaf.

Nur ein Wachtraum stellt sich ein, der „von einer Sache, die nicht in der Welt ist“ handelt. Doch dagegen steht „eine Welt, die nicht meine Sache ist“. In diesem dialektischen Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Utopie und Untergang bewegt sich Brauns virale Lyrik, die das eigene „Schmerzgedächtnis“ durchforscht, mit Dante den „Sechsten Kreis“ der Hölle durchmisst und erkennt, dass die virusinduzierte Berührungslosigkeit sich bestens mit der „Me Too“-Ästhetik verbindet. Vorsicht und Abstand sind in jeder Hinsicht geboten, sodass Braun sarkastisch kommentiert:

also das Abendland geht ohne Abschied
Ein Winkewinke, das wars.

In diese Erfahrung von Körperlosigkeit und Kulturzerfall fügt sich die Erinnerung an eine flüchtige Liebe, an einen zarten Kuss, aus dem nichts folgte, ein aufgeknöpftes Kleid, zitternde Nüstern, Hals, Wange, Mund, das „angstlos“ gezeigte „nackte Gesicht“ in „normalen Zeiten“. Denn wie wäre das heute, mit Mundschutz, ohne Zunge und Zähne, der Kuss nur gehaucht und „mit vorsichtshalber geschlossenen Augen“?
Kein Wunder, dass das Unbewusste keine Bilder mehr liefert und die Gedichte durchsetzt sind von pandemischer Not. Doch mit der Philosophin Donna Haraway und ihrer Cyborg- und Transgender-Forschung hält Braun auch hier dagegen und spricht in die Zukunft hinein:

Warum sollte der Körper an der Haut enden oder nur aufnehmen, was in Haut genäht ist?

Wenn sich das Geschlecht schon „mit einem Sprechakt ändern“ lässt, was hält den Menschen dann fest in seinem verletzlichen Leib?
Das erste Gedicht des Bandes ist mit „Nach unserer Zeit“ überschrieben. Da treibt eine weiße Yacht mit gebrochenem Mast, bewegungsunfähig, irgendwo bei den Philippinen im Ozean. An Bord die Leiche eines Mannes, zusammengesackt wie dreckiger Sand. Dieses Geisterschiff ist Brauns Menetekel, Bildnis der Menschheit „in ihrem Fahrzeug nach ihrer Zeit“, und so ist es nur konsequent, wenn das letzte Gedicht dann „Geisterstunde“ heißt.
Da besuchen die lebenden Dichter – Hensel, Teschke, Tragelehn, Gröschner – ihre toten Kollegen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin – Zweig, Müller, Hacks, Hilbig, Brecht, Seghers, Kirsch, Tabori – und lassen sie, indem sie deren Verse zitieren, lebendig werden. Die Toten brauchen die Lebenden, weil sie keine Zungen, keine Eingeweide und kein Gedächtnis haben. Doch währenddessen verwandeln sich die Lebenden in Gespenster, unter deren Schritten der Kies knirscht.
Brauns Gedichte sind Werkstücke aus dem Steinbruch der Traditionen, Collagen aus Material von Hölderlin, Kleist, Müller oder Meinhof, „Tonkrieger“ aus der Töpferwerkstatt, wie ein Kapitel des schmalen Bandes heißt. Braun inszeniert das Material „als Gespräch mit sich selbst“, sichtbar zum Beispiel in dem Gedicht „K wie Kertész“, das Zitate aus Imre Kertész’ Tagebuch Letzte Einkehr mit Erinnerungen an eine persönliche Begegnung verknüpft. Der Dichter Volker Braun ist ein Arbeiter in der Wörterwerkstatt und lässt sich dabei zusehen, wie er an seine Gegenständen formt und schleift. Dabei schreckt er auch vor Kalauern nicht zurück, wenn aus der Katharsis in Corona-Zeiten die Katarrhsis wird und aus dem als „Eisern Union“ firmierenden Berliner Fußballverein „Bleiern Union“.
Doch so bleiern die Zeit und die Zustände auch sein mögen, versucht Braun dem „beinahe heillosen Stillstand“ in der „wie ein Pestpatient ruhiggestellten Stadt“ doch etwas Gutes abzugewinnen. Wenn die Straßen „entmenscht“ und „von der Krätze der Kunden befreit“ sind, dann ist schon das aus kapitalismuskritischer Perspektive durchaus begrüßenswert. Rudolf Bahro, der in dem Gedicht „Der Aussätzige“ als Geist ohne Mundschutz, doch mit Meditationskissen ausgerüstet, erscheint, könnte dafür der Kronzeuge sein. Seine Logik der Rettung ist das Nichtstun. Nur Entschleunigung bis hin zum Stillstand lässt hoffen.

Das Naheliegende birgt das Geheimnis.

Zwei Mal kommt in Brauns großer Fuge das Wort „mitleidenschaftlich“ vor. Da argumentiert er „gemeinsüchtig“ mit Marx, appelliert an das „Menschenmögliche“, was auch immer das ist. „Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle“, hat Volker Braun in der Nachwendezeit im Rückblick auf den Sozialismus gedichtet, als „sein Land“, die DDR, in den Westen ging. Mittlerweile hat sich die Perspektive umgekehrt. Der Blick geht nicht zurück, sondern nach vorn. Da aber gilt es, gegen den Untergang und das „Winkewinke“, mit dem sich das Abendland verabschiedet, einen Rest Hoffnung und Aufbruch zu verteidigen. So ist die Große Fuge letztlich wohl ein hoffnungsvoller Zyklus.

Jörg Magenau, Süddeutsche Zeitung, 11.6.2021

Bücherfrage der Woche:

Wie wird bei Volker Braun Corona zum Gedicht?

– Am Montag erscheint ein neues Buch von Volker Braun: Große Fuge, mit einem aktuellen Gedichtzyklus. Unsere Bücherfrage der Woche geht an Thomas Wohlfahrt, den Leiter des Hauses für Poesie, auf dessen YouTube-Kanal der Dichter am Montagabend liest: Kann Corona Stoff für Lyrik sein? –

Thomas Wohlfahrt: Natürlich. Wenn Sie wissen wollen, welche Kraft Gedichte entfalten können, dann sollten Sie sich das anschauen. Volker Braun hat immer als Zeitgenosse die Welt gelesen, er hat das, was passiert, in die Mythen der Menschheit übertragen. Seine Gedichte sind die Gerinnungsfaktoren für die großen Themen – also auch für die Pandemie.
Wir hatten Volker Braun zum Welttag der Poesie im März eingeladen, da erzählte er von der Großen Fuge, die noch nicht im Verlagsprogramm von Suhrkamp angekündigt war. So entschieden wir, ausführlicher zu drehen. Wir haben mit dem Foyer der Deutschen Oper einen sehr schönen Ort dafür gefunden. Volker Braun live zu sehen und zu hören, wie er sich selber ausdirigiert, in dem Rhythmus, dem hohen Ton, den er im Gedicht vorgibt – dieser Kassandra-Gestus, das ist schon ein großes Erlebnis. Das parallel zum Erscheinungstag des Buches zu zeigen auf dem #kanalfuerpoesie, war uns sehr wichtig.
Volker Braun ist mit diesem neuen Zyklus wieder so nah an den Dingen des Hier und Heute, nicht auf einer plakativen Ebene, sondern übersetzt in Kultur, in Kunstgeschichte. Wenn er schreibt: „Die Kanzlerin rät von sozialen Kontakten ab / Streifenwagen / schaun nach, ob noch Leben ist“, das bewegt uns doch alle seit Monaten. Oder:

Das ist deine Kunst jetzt
Allein zu sein, mit allen, und ernst

Bei ihm ist es überhöht, zueinander gebracht und so scharf gestellt. „EIN JAHR OHNE KUNST“, schreibt er in Versalien: Der produktive Störfaktor von Kunst ist jetzt weitgehend ausgesetzt. Ohne die neuen Technologien wären wir wirklich völlig stummgeschaltet. Auch das katastrophal.
Also, ich bin begeistert und kann das allen nur empfehlen. Auch, was im Osten geschehen oder nicht geschehen ist seit der Wende, das spielt hier im Loop rein und er verfolgt, wie aus politischen Defiziten Konflikte entstanden und aneinandergeraten sind. Wenn dann Rudolf Bahro auftaucht, lächelnd, ohne Mundschutz, „er war immun; während wir uns in Selbsthaft verfügten“ – da spielt auch die Umweltproblematik rein. Bahro als der alte Mahner, ausgestattet mit dem weisen Lächeln der Philosophie.
Warum das Ganze bei Volker Braun Fuge heißt? Es ist die adäquate Formgebung in Bach’schen Dimensionen, in der Themen nacheinander aufgerufen und, durch alle Stimmen geführt, sich zu einem großen Gesellschaftsbild aufschichten. Eine großartige Dichtung!

Berliner Zeitung, 9.5.2021

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Wie der Dichter Volker Braun in einem Corona-Gedicht den untoten Dissidenten Rudolf Bahro trifft
Märkische Allgemeine Zeitung, 18.5.2021

Jamal Tuschick: Somnambule Ich-Doublette
der Freitag, 26.5.2021

Kai Sammet: Kunden als Krätze, Apokalypse als Befreiung
literaturkritik.de, November 2021

Christiane Baumann: Große Fuge
schattenblick.de, 22.6.2021

Felix Klopotek: In den utopischen dystopischen Strömen unserer Zeit
Melodie & Rhythmus, 15.6.2021

Ulrich Kaufmann: „… mitzudenken mit den Gebirgen und Meeren“
Das Blättchen, 30.8.2021

Welf Grombacher: Kunst der Fuge
Freie Presse, 10.5.2021

 

Rückkehr des Echos – Große Fuge: Volker Braun und Alain Lance lesen aus ihren Gedichten und präsentieren sich wechselseitig am 16.5.2022 im Lyrik Kabinett.

 

 

 

In der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik sprach Volker Braun am 9.12.2013 in der Literaturwerkstatt Berlin mit Thomas Rosenlöcher.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

 

Die Geschichte macht keinen Stopp von Peter Neumann. Ein Besuch beim Büchnerpreisträger Volker Braun, der den Weltgeist immer noch rumoren hört.

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019

Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019

Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019

Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019

Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019

Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019

Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019

Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019

Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Volkerbraun“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Braun, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Volker Braun

 


Volker Braun – 50 Jahre Autor im Suhrkamp Verlag.

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