Einsamer

»Einzig dadurch bringt ihr das Schweigen zum Schweigen«, schreit plötzlich der Mann am Nebentisch, »daß ihr leiser sprecht als es.« Uns läßt der Aufschrei verstummen. Wozu noch reden. Was noch erklären. Immer wird man gleich verstanden. Schweigend leeren wir die Flasche. Madonna singt mit. »Gut so …«, schreit unser Tischnachbar, »… eure Verluste sollt ihr aufbewahren.« Was sonst.

*

Später beim Fernsehen über den Zwischenfall im Piecola Italia nachgedacht, ich war wohl ziemlich abwesend, guckte in die Kiste, sah nur, bunt flimmernd, meinen innern Schweinehund. »Man darf nicht schweigen.« Unversehens war ich hellwach, auf dem Bildschirm zwei ältere Herren, die abwechselnd vor sich hinredeten und dabei, sehr ernst, ein Gespräch zu führen schienen; ein paar Sätze daraus hab ich mir notiert.
A: »Die Befreiung ist ins Lager gekommen. Und man war dort. Man sah sich gegenseitig an, erkannte sich nicht. Man betete. Man war noch sehr mit der Vergangenheit beschäftigt.«
B: »Aber was für eine Freude? Ihr wart ja schon drüben.«
A: »Richtig, man war schon drüben.«
B: »Ihr wart schon drüben, ihr wart schon im Tod.«
A: »Wir konnten nicht. Wir waren noch im Tod.«
B: »Ihr wart noch im Tod.«
A: »Freude gab’s keine.«
B: »Die Statistiken sagen, daß es immer Überlebende gibt, die dann Geschichten über das Erlebte erzählen. Doch man denkt immer, daß ein anderer es ist. Daß ein anderer es tut.«
A: »Wieviele Geschichten sind nicht erzählt worden, weil es keine Überlebenden gab.«
B: »Wieviele Geschichten sind nicht erzählt worden, weil Überlebende keine Geschichten erzählen. Weil Geschichten vergessen lassen, was wirklich war. Weil das Schweigen näher bei der Wahrheit ist als jede Geschichte …«
A: »… als jeder Fernsehbericht.«
B: »Von Gedichten rede ich nicht.«
A: »Wir reden über das Schweigen. Das Schweigen gilt.«
B: »Und … aber für wen?«
A: »Für den, der’s bricht.«
Während des Gesprächs wurden KZ-Szenen aus neonazistischen Videospielen eingeblendet. Verhöre; Zwangsarbeit; Folter; Erschießungen.
»Man darf nicht schweigen.« Oder wer recht hat.

*

Der Tod sei, schreibt Genazino, eine plötzlich ausbleibende Erzählung; lieben heiße »mit innerer Zustimmung schweigen …«

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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