1. Mai

Nein. – Der Tag der Arbeit als arbeitsfreier Feiertag. Wer oder was da gefeiert wird? Befreiung von Arbeit? Befreiung zur Arbeit! Wollte man die Arbeit als solche feiern, müsste man wohl eher einen entschädigungsfreien Arbeitstag einschalten. – Der mörderische Migräneanfall vor drei … vor nun bald vier Tagen hat mich offenbar den Geschmacksinn gekostet. Gekostet? Was auch immer ich koste, es schmeckt nach nichts. Ich salze nach, würze, süße, der Geschmack bleibt flach, ich suche ihn mit der Zunge, auf der Zunge, am Zahnfleisch, im Gaumen und kann … kann aber nur Konsistenz und Temperatur der eingenommenen Nahrung erkennen, also Qualitäten wie knackig, zäh, mehlig oder warm, kühl, zu heiß. Der eigentliche Geschmack, die Aromen scheinen sich in einer einzigen grauen »Blume« verkappt zu haben. Andere Qualitäten – ölig, scharf, sauer, bitter – kann ich nicht mehr unterscheiden. Es ist, als wäre die Geschmackswelt um eine Dimension ärmer … als beschränkte sie sich auf Quantitäten und Gewichte, könnte aber Qualitäten nur noch beiläufig erfassen. Ich will den gravierenden Verlust morgen meiner Hausärztin melden, fragen, was es damit auf sich haben könnte, was dagegen zu tun ist, ob ich definitiv auf die kulinarische Geschmackserfahrung verzichten muss. Verlust! Verzicht! Auch die Spannkraft, die Hautfarbe, die Dichte des Haars und des Gedächtnisses, die Libido, die Ausdauer bei der Alltagsbewältigung und beim Schreiben, die Toleranz, die Hoffnung – alles und noch viel mehr nimmt altersbedingt ab, lässt nach, geht verloren. Und wo ist der Ausgleich? Gibt es im Gegenzug dazu einen Gewinn? Gewinn an Leichtigkeit? Gleichgültigkeit? Risikobereitschaft? »All die Verluste – ins All!« Das könnte chassidisches Welt- und Gottvertrauen sein. Alles Hiesige, ob Verlust oder Gewinn, geht im All auf und geht gleichzeitig darin verloren; alles erhält sich, indem es verschwindet in allem. – Auf 3sat-TV kommt noch einmal der Film ›Persécution‹ von Patrice Chéreau, mit der irritierenden Charlotte Gainsbourg als Hauptdarstellerin. Chéreau scheint in der hässlichen hageren Frau die Frau schlechthin zu sehen, zeigt er sie doch in der Rolle der Begehrten und Gejagten, die mit ihrem … die kraft ihres Geschlechts den trägen, unentschlossenen, weglosen, wehleidigen Mann nach sich zieht. Den Akt zeigt er gern in Nahaufnahme, zeigt die rundlichen Schenkel, Pobacken, Bäuche der Kerle in der Verwindung mit den knochigen Hüften, den unausgewachsenen Brüsten, den stelzenartigen Beinen der Frau, und man fragt sich, wer da nun wen verführt und für sich gewinnt. Und warum. Und wozu. Denn die jungen Männer stolpern klagend und fluchend und flennend durch eine Welt, die sie hassen, weil sie nicht so ist, wie sie sie haben möchten, und die sich selbst hassen, weil sie gleichzeitig nicht wissen, wie die Welt sein müsste, damit sie ihnen angemessener wäre. Usf. Ich stelle mir diese … ich stelle mir eine solch unbestimmte, gleichermaßen begehrte und gefürchtete Männerwelt versuchsweise etwa so vor, wie die verzettelte Landschaft im Hintergrund der Alexanderschlacht: Berg du! Das phrygische Flachland ist Puszta!
Ist aufgeweicht nach strengen Frösten.
Kann beackert werden. Takt um Takt spürst
du den Furchen nach. Von Kehre zu Kehre. Von Westen
nach dem nahen Osten. So wahr Ostern
südlicher als jeder Frühling blüht. Auch ein erster
Juli kommt für Wiederkehr in Frage. O Stern!
Der – da! – verblasst in einer weißen Nacht. Schwerster
Abgang des notwendigsten Engels. Länger
als bis zum Schnee vom achtundzwanzigsten Oktember
dauert keine Sehnsucht und kein noch so teurer Spaß. Verdränger
du! Ob August oder Mai oder Mittwoch. Idem semper. – Die Analyse von Arbeitsunfällen war lange Zeit Franz Kafkas Brotberuf, sechs Stunden täglich, alles andere als eine Berufung. Die Besichtigung und Beschreibung von Unfallorten, Maschinen und mechanischen Abläufen, die Dokumentation von Verletzungen und die Festsetzung entsprechender Versicherungsleistungen gehörten zu seinem Auftragsbereich. Kafka soll europaweit einer der führenden Versicherungsjuristen gewesen und verschiedentlich als Fachreferent aufgetreten sein. Wertfragen, Geldfragen, Abgeltungsfragen scheinen ihn vorrangig beschäftigt zu haben. Der rechte Daumen eines neunzehnjährigen Tischlergesellen. Die beiden Füße eines achtundfünfzigjährigen Lohnkutschers. Das rechte Ohr einer dreiundzwanzigjährigen Dienstmagd. Der rechte Arm eines siebenundreißigjährigen Dachdeckers. Der Mittel- und Ringfinger einer zweiundvierzigjährigen Näherin. Das linke Auge und der Wangenknochen eines dreiundsechzigjährigen Gemsjägers. Der linke Unterarm eines siebzehnjährigen Pianisten. Das rechte Knie eines siebenundzwanzigjährigen Bergführers. Usf. Wie sind derartige Verluste versicherungstechnisch einzuordnen? Was dürfen sie materiell wert sein? Welchen Anteil hatten die Opfer an ihrem jeweiligen Unfall? Welche Rolle spielen bei der Bewertung das Alter, das Geschlecht, der Beruf, die Qualifikation des Opfers? Usf. Wer wie Kafka über viele Jahre hin täglich solche Wertfragen zu prüfen und zu beantworten hat, wird sicherlich bald einmal ein ganz besonderes Menschenbild haben – der Mensch als Mängelwesen, als Versehrter, Geschlagener, Geblendeter; der Mensch, der bezahlt wird für das, was er physisch eingebüßt hat; der Mensch, dessen Organe und Extremitäten wie Maschinenteile angesehen und eingeschätzt werden. Man versteht … ich verstehe, dass Kafka als abendliches Kontrastprogramm zum alltäglichen Horror das Kino, das Bordell, die Pornografie brauchte und auch einen Freund wie Max Brod, der ihn ins Freibad und ins Stundenhotel begleitete, um ihn so mit der Normalität einigermaßen schmerzfrei in Tuchfühlung zu halten. – Heute bei strahlendem Frühsommerwetter zwei, drei Stunden im Garten. Der Nussbaum beginnt sein feines Astwerk zu straffen, treibt einen ersten Grünschimmer aus dem auflebenden Holz, trägt aber auf seinem leicht wehenden Wipfel – komischer Effekt! – noch immer einen Rest von verblichenem steifem Herbstlaub. Sieht aus wie eine nach oben gekämmte Haartolle. Ein Rosé aus Arnex als Drink beim Lesen, zum Selbstgespräch. Gegen Mittag stelle ich erstmals in diesem Jahr den Sonnenschirm auf. Als ich mich auf der Bank sitzend an die Wand des Pavillons lehne, spüre ich sofort, wie die im Verputz gestaute Wärme durchs Hemd dringt und sich langsam auf dem Rücken ausbreitet. Im schlanken Baum gegenüber, dessen Stamm sich zwei Meter über dem Boden zweiteilt, erkenne ich plötzlich ein kopfstehendes Mädchen mit leicht gespreizten, nach oben gestreckten Beinen. Das Auge des Betrachters kann alles sehen wollen, es kann absehen von gewissen Details, kann sie schlicht übersehen. In Momenten des Ein- oder Hineinsehens kommt es mir gelegentlich vor, als würde gleichzeitig auch ich gesehen; als würde sich das Objekt meines Interesses auch für mich interessieren. Ich als Interesse dessen, woran ich – hier, jetzt – interessiert bin? Ich als Ansehung dessen, was ich sehe? Bin ich denn also im Akt der Wahrnehmung nie nicht gleichzeitig Subjekt und Objekt? Subjekt des Betrachtens, Objekt des Betrachteten! Vielleicht kreuzt sich in meinem Auge das Sehen mit dem Gesehenwerden? »Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht!«

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