Weiß (I)

Die Verstehenswelt ist, nach hermetischem Dafürhalten, eine Tagwelt. »Ist denn nicht«, fragt und antwortet zugleich der Hermetiker, »die Nacht ursprünglicher als der Tag?«

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Man könnte dies, versuchshalber, bei Mandelstam überprüfen. Als Hermetiker hat Mandelstam wenig übrig für die gleißende Helle der apollinischen Tagwelt, die ungewöhnliche Schärfe seines Verstands verfolgt kein hermeneutisches Interesse; Mandelstam will nicht wissen, nicht erkennen, vielmehr setzt er das Unverstandene und damit Unverständlichkeit überhaupt durch, indem er es vergegenwärtigt. Das Auge der Wespe, der Fliege, des Malers ist das privilegiertes Instrument, sein Sehen ist weniger auf Erkennen angelegt als vielmehr auf die Sichtbarmachung des Sichtbaren … ein sehendes Sehen.
Deshalb wohl die Prominenz der Nacht, die Nichtigkeit des Tags in Mandelstams Dichtung. Die Farbe Weiß, die wie die Sonne und der Mittag für rationale Erkenntnis steht, kommt in Mandelstams Gedichten nur marginal und fast ausschließlich in trivialem Zusammenhang vor … weiße Hand, weißer Turm, weiße Säulen, weißes Zimmer, weißer Schnee, weißer Vorhang, weißer Dampf etc. Wohingegen für die All- und Unfarbe Schwarz ein bunter Metaphernreigen aufgeboten wird … schwarzer Wind, schwarze Flamme, schwarze Liebe, schwarze Sonne, schwarze Ferne, schwarzes Meer, schwarzes Segel, schwarzes Eis, schwarze Bläue, schwarzes Buch, schwarze Kerze, schwarze Erde, schwarzer Glanz, schwarzer Mond etc.; vorwiegend also kühne, paradoxal überhöhte Metaphernbildungen, in denen die Dominanz von Schwarz so weitgehend totalisiert wird, daß sie auch … wie bei der schwarzen Sonne, beim schwarzen Eis … Weiß umgreift.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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