Gennadij Ajgi: Wind vorm Fenster

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gennadij Ajgi: Wind vorm Fenster

Ajgi-Wind vorm Fenster

UND – EINER DER LETZTEN WINTER
(statt eines Epilogs)

etwas matt-weisses klinisches
im feld gab für das gleiten den anstoss
– lasse Gott uns gesunden durch diese stille –
und der weg vorm fenster wie vorm tor
verlosch immer feuchter und trauriger
„das ist der ganze“ schien’s zu flüstern „lebenspfad
aaaaahienieden“

 

 

 

Ist was nichts als ist

– Ziemlich still hier: Vermischte Gedichte von Gennadij Ajgi. –

Gennadij Ajgi, der seine Muttersprache als Sprache seiner Lyrik aufgab, ist ein Musterbeispiel für Treue gegen sich selbst. Der 1934 in einem tschuwaschischen Dorf geborene Dichter, der auf Boris Pasternaks Rat hin 1960 zum Russischen überging, schafft seit Jahrzehnten eine Lyrik, die nie der Aktualität hinterherzulaufen braucht. Ajgi blieb in Rußland schändlich lange ungedruckt – erst 1991 konnte ein Buch von ihm erscheinen. Da war er längst in diverse Sprachen übersetzt.
Wie sehr sich Ajgi eigensinnig treu geblieben ist, belegt erneut ein kleiner Gedichtband, der von Felix Philipp Ingold aus verstreuten Manuskripten des Dichters komponiert wurde und reizvoll jede Chronologie durchbricht. Nicht die Entstehungsjahre sind hier sklavenartig zum Ordnungsprinzip erhoben, sondern die Kontinuität der Gesten und Motive. Ajgis Lyrik widersetzte sich schon immer jener Nutzbarkeit und mußte – ein Glück – keine Abnutzung erleiden. Die Verweigerung von Nützlichkeit ist schon dem frühesten, von 1959 stammenden Prolog-Gedicht programmatisch eingeschrieben:

In keiner sprache
bin ich vonnutzen.

Die Lyrik Gennadij Ajgis hat an Intensität und Geheimnisreichtum nicht ihresgleichen. Sie pflegt bewußt magische, schamanistische Gesten, verleiht den schlichtesten Dingen, dem Elementaren, eine sakrale Aura – und beruft sich zugleich in kühn auf das Weiß des Blattes versprengten Lyrik-Fetzen auf die radikale futuristische Avantgarde in Rußland, auf Chlebnikow und Krutschonych, auf die Abstraktionen eines Malewitsch. Doch bei Ajgis futuristischer Genealogie ist Vorsicht geboten: Einmal hat er sich in einem Interview auch als „Antifuturisten“ bezeichnet, der sich gegen jede Instrumentalisierung des Menschen auflehne.
Diese Gedichte haben ihre eigene, behutsame Musik, von der sie gelegentlich auch handeln, etwa in dem 1993 entstandenen „Auftauchen des Ufers“:

gesang zieht durchs laubgrün:
musik – ein däumling!
das grün findet das kind – das unter
meinen lidern schwimmt!

Kein Wunder, daß sich zeitgenössische Komponisten an dieser Lyrik versucht haben. So ist eines der schönsten Gedichte des Bandes, „Nun immer Schnee“, in der Vertonung durch Sofia Gubaidulina international bekannt geworden. Schnee ist bei Ajgi ein vielfach verwendetes Bild für die Fülle des Lichts wie für das reine Dasein: „doch ist was nichts als ist.“ Schon in einem Gedicht von 1973 heißt es:

der schnee mag zurückkehren zum Schöpfer. Leuchtend – als licht.

Nicht nur das reine Weiß (diese Möglichkeit einer Geburt) beschäftigt Ajgi, sondern auch das Kindsein, die unverfälschte kindliche Weltsicht. Manchmal wird man an sein bezauberndes Buch Veronikas Heft (deutsch 1986) erinnert, das Gedichte auf die ersten sechs Lebensmonate seiner Tochter versammelte. Hier nun findet er in einer alten Notiz beim Zeichnen mit der Tochter jene „stille des hierseins“, die so viele seine Gedichte auszeichnet. Im Titel des Gedichtes aber steht ein Geräusch: „Wir rascheln.“ Die kraftvolle Zartheit dieser Gedichte bewahrt sich ihre Stille jenseits der Bedrohungen, weniger als Gewißheit denn als Wunsch:

lasse Gott uns gesunden durch diese stille.

Ralph Dutli, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.6.1998

Seit 1959/60 schreibt der Tschuwasche Gennadij Ajgi

seine Gedichte in russischer Sprache – übrigens auf Anraten von Boris Pasternak. Eine faszinierende Mischung, die sich aus den Mythen der tschuwaschischen Volksüberlieferungen speist und zugleich in einem tiefempfundenen orthodoxen Glauben wurzelt. Andererseits stehen Ajgis Verse im Bann von Baudelaire und den französischen Symbolisten, bilden eine dynamische Lebensform suprematistischer Reduziertheit:

Die sprache – in der dichtung – existiert, um das auszudrücken,
was – in – ihr
nicht existiert.

Existentielles Erleben wird bei Ajgi nicht geschildert oder beschrieben. Die Verse selbst werden zum Werkzeug des Empfindens, Worte werden zu Werken, Buchstaben zu Lauten und damit erst wird der Versuch unternommen, doch etwas zu vermitteln. Das Aufbrechen klassischer dichterischer Formen ermöglicht ein Hineinkriechen in Empfindungen, zertrümmerte Worthülsen setzen Empfindungen frei. Die Stille selbst wird zum Wert erhoben. In der Wahrnehmung von Lauten werden Gerüche kombiniert, Farben und Gefühle ersetzen konventionelles Erzählen. Poesie ist nur sich selbst Untertan!
Der in Moskau lebende Gennadij Ajgi hielt seine poetische Verwurzelung im Dialog mit Künstlern, Musikern und Dichterfreunden – russischen wie nichtrussischen – aufrecht. In seiner Heimat wurde Ajgi über Jahrzehnte nicht publiziert und erst in jüngster Zeit als eine der eindrucksvollsten Stimmen wahrgenommen.

Volker Strebel, Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12, 1999

Die Verwobenheit von Sein und Sprache

In den Gedichtminiaturen des russisch schreibenden Tschuwaschen Gennadi Ajgi (geboren 1934) verbindet sich ein behutsames Weltempfinden mit höchster lyrischer Sprachkunst. Immer wieder versucht Ajgi, Fragmente seiner Sinneseindrücke auf Papier zu bannen – dabei eröffnet sich ein impressionistischer Erfahrungsraum, der gleichzeitig Sprachraum ist. Die Erscheinungen des Lebens existieren für Ajgi nicht isoliert; alle Dinge sind aufeinander bezogen. Dem Menschen obliegt es, den geheimen Text in der allgemeinen Textur der Welt zu entziffern. Auf diese Weise wird sogar das Fernste als Hypostase des Nächsten erkennbar:

ein stern: zunächst nur er: und bald schon
– du: dann mehr und mehr – ich.

Felix Philipp Ingold hat aus Ajgis vielseitigem lyrischem Werk, das aber als ein grosses Gedicht gelesen werden kann, einige Stücke ausgewählt und in einer feinsinnigen Übersetzung dem deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht. Es gelingt Ingold, jene Musikalität von Ajgis knapper Sprache zu bewahren, die auch die Grundlage verschiedener Vertonungen durch Sofja Gubajdulina darstellt.

Ulrich Schmidt, Neue Zürcher Zeitung, 15.8.1998

 

 

1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.

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Nachrufe auf Gennadij Ajgi: der Freitag ✝ der Standart ✝  NZZ ✝
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Zum 75. Geburtstag des Autors:

Volker Sielaff: Die Welt als Welt-All und Welt-Markt
poetenladen.de, 21.8.2009

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