Gerhard Rühm (Hrsg.): Die Wiener Gruppe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gerhard Rühm (Hrsg.): Die Wiener Gruppe

Rühm (Hrsg.)-Die Wiener Gruppe

STERN ZU STERN

stern zu stern
unstern
sternlos
höher
verkürzter raum
atemlos
rauch blume
bricht
im raum
blau
blumen steigen
höher
heller gebogen
zeitlos gas
um das licht zu brechen
lichter einbruch
grau
lose rauh
sinkt
glasblumen
ich rauhe
ich atme
rauchlos
stiller
das licht versinkt in blumen
versternt
stirne
starr
sichert sich im raum
losbrechen wie
später: fliessen
im raum
steigt und sinkt
anberaumtes
und entfernt sich fast
stern zu stern
unstein
besonders hoch
sinken
hellere fasen
einbruch der adler
fehlloser bogen
um den stein zu brechen
sickert durch
die blumen versteinen
leises leises gas
beraumter einzug
unendlich steigen
lautloses einsinken
einen
adler und blumen
verstielte steine
laut
atmen
versickert der sand
heller und höher
früher:
fester
fast starr
gegen
zu
an
besonders fest
helle adler
blättern von stern zu stern
verdunkeln
tal
stirne
nähern
gleise
ganz nahe
umraumt
einatmen
glas und glas
steint
steil
gas welkt
gas steint
gas steilt
das dunkel gegen glas
weicht
stein entblättert sich
dem reinen atem
und höher
wähnen
wahnlos
dehnbar
gelöst
in helle
vereinter stein
dehnt sich dehnt
ein reines blau
dunklere fasen
glas blüht die räume zu
glas
einfallendes licht
blumen sinken
fliessen los
blau verwelkt
sichtbar
unreines brechen
reiner bruch
verblättert
hoch
steile taube
hell dunkel
schräger schatten gefälle
während ich steige
tief
teile und augen
weil ich falle
tier
unteil
untief
hier
her
augenstern
rauch
starr zu starr
atmendes untier
und
hohl
einstieg
so lange
versanden
auge oder stern
adler stürzen
sträucher
tauber stein
sickert in den raum
strahlt
adler welken
tauben
stirne
besonnen
besternt
sonne zu sonne
strömend
zeitlos verstielt
versteint
verstrauchter raum
ausfallend
gebogen vereint
gestillter raum
beuge
ausstrahlen

H.C. Artmann
Konrad Bayer
Gerhard Rühm

 

 

 

vorwort

ein jahr nach kriegsende, 1946, gründeten einige moderne maler, zum teil aus dem exil kommend, den artclub (präsident paris von gütersloh). der artclub gewann für die weitere kulturelle entwicklung in wien (also österreich) grundlegende bedeutung. er wurde zum sammelbecken aller – damals noch spärlichen – fortschrittlichen künstlerischen tendenzen. nach sieben jahren gewaltsamer absperrung galt es aufzuholen, was sich inzwischen draussen getan hatte, für uns junge, die bisher verfemte moderne kunst zu rekapitulieren. sie hatte, gerade in österreich, auch vor 1938 nur eine kleine minderheit erfasst; die grossen bibliotheken hatten es versäumt, rechtzeitig ihre wichtigsten dokumente zu sammeln oder sie waren „gesäubert“ worden. wir waren auf verstreute dürftige privatbestände angewiesen. die bruchstückhaften informationen über expressionismus, dadaismus, surrealismus, konstruktivismus wurden gierig aufgenommen, herumgereicht, mühsam zu einem bild zusammengefügt; es hatte fast etwas sektiererisches an sich. man musste zunächst einmal die wichtigsten namen und titel herausfinden, um überhaupt zu wissen, wonach man näher suchen sollte, das machte jeden hinweis, jedes kleinste zitat zu einer aufregenden entdeckung.
der artclub machte von sich reden; in der presse erschienen hämische artikel. schnell wurde deutlich, dass die mehrheit wohl vieles gegen die nazistische kriegspolitik, aber im grunde nichts gegen die „gesunde“ kulturpolitik einzuwenden gehabt hatte. jetzt, da man der ,entarteten kunst‘ wieder offen begegnen konnte, erregte sie die gemüter oft bis zu handgreiflichkeiten. schon wer für sie interesse zeigte, wurde für verrückt, abwegig erklärt – erst recht die, die sie vertraten. in den folgenden jahren wurde es eher noch schlimmer, denn unmittelbar nach beseitigung des naziregimes herrschte allgemeine verwirrung, unsicherheit und die angst, sich durch irgendeine äusserung als nazi zu entlarven. doch die verfolgten des regimes wurden entschädigt – und dazu gehörte ja auch die moderne kunst. so war es möglich, dass sich, aller feindseligkeit zum trotz, eine avantgarde-zeitschrift wie der plan für mehrere jahre etablieren konnte – für uns eine wichtige informationsquelle, zugleich ein forum für die ersten tastenden versuche der jüngeren und jüngsten. wie von selbst fanden sich die paar gleichgesinnten zusammen, man hatte sich bei vernissagen, in konzerten kennengelernt – es waren in den ersten jahren immer dieselben gesichter, die bei den gelegenheiten, moderner kunst zu begegnen, auftauchten. die selbst etwas tun wollten, schlossen sich enger zusammen; in einer atmosphäre von ignoranz und wütender ablehnung war man aufeinander angewiesen, um nicht ganz isoliert zu sein. der artclub – anfangs nur eine vereinigung bildender künstler, die aber auch bald literaten und musiker (zumindest als produzierende gäste) anzog – verfocht keine bestimmte richtung; es genügte unakademisch, fortschrittlich zu sein. programmatische tendenzen und gruppen grenzten sich erst später voneinander ab.
die erste abspaltung vom artclub war die hundsgruppe, damals sozusagen die äusserste linke mit aggressiver note. hervorzuheben sind erich brauer, ernst fuchs, anton krejcar, wolfgang kudrnofsky, maria lassnig und arnulf rainer trrrr – der radikalste unter ihnen. gleich die erste ausstellung, cave canem 1951, erregte ein solches ärgernis, dass es meines wissens zu keiner weiteren mehr kam. der pianist hans kann und ich führten in diesem rahmen unsere ,geräuschsymphonie‘ vor – eine montage reiner geräusche auf tonband. zur gleichen zeit etwa erfanden pierre schaeffer und pierre henry in paris die ,musique concrete‘: wir hatten allerdings, von einem eigenen studio weit entfernt, unsere ,geräuschsymphonie‘ unter primitivsten bedingungen gemacht. wir liessen es daher auch bei dieser manifestation bewenden.
durch die hundsgruppe bekam ich engeren kontakt mit arnulf rainer, der seine bilder mit „trrrr“ signierte. wir stellten fest, dass wir beide nach elementarer reduktion strebten und verbanden uns zu gemeinsamen veranstaltungen, wo ich zb. (1952) „ein-ton-musik“ (am klavier) kreierte, das erlebnis der „pause“ provozierte, meine ersten lautgedichte ausstiess.
der kreis der wiener avantgardisten erweiterte und differenzierte sich, cliquen bildeten sich, umgeben von interessierten und beisitzern. in diesem jahr, 1952, lernte ich h.c. artmann kennen, der von einem längeren aufenthalt in der schweiz zurückgekehrt war. sein erscheinen brachte entscheidende literarische impulse. er machte uns mit neuen namen bekannt, genet, beckett, ionesco, ghelderode – sie waren in frankreich soeben im kommen, die modernen spanier, die er übersetzte.
es war jetzt viel los. der gesellig exklusive strohkoffer, so hiess das neue artclublokal unter der loos’schen kärntnerbar, weil die wände mit schilf austapeziert waren und der fassungsraum sehr beschränkt, zog – nicht zuletzt durch einige turbulente feste – neue besucher an, fast ausschliesslich jugendliche. regelmässig wechselten die ausstellungen, es gab lesungen und konzerte. uzi förster machte mit einer kleinen combo bis zum anbrechenden morgen jazz – zuweilen auch friedrich gulda. besuche von jean cocteau, benjamin britten, orson welles wirkten auch offiziell für den artclub attraktiv, bestätigten zumindest seine existenzberechtigung. bald hatten wir mühe, uns vor unerwünschtem zustrom zu schützen. als es unerträglich wurde, übersiedelte der artclub schliesslich in das wesentlich stillere domcafé in der singerstrasse, dessen besitzer die obere etage für ausstellungen und veranstaltungen zur verfügung stellte. konsumation und kunstbetrachtung waren nun durch eine schmale wendeltreppe getrennt. die treppe nach oben lockte allerdings weit weniger besucher als die, die früher in den keller hinabgeführt hatte.
der kontakt mit artmann intensivierte sich 1953 zu einem freundschaftlichen verhältnis. wir trafen uns immer häufiger, hatten viel zu diskutieren – auch auf dem stück gemeinsamen heimweges in richtung breitensee, wenn es für die letzte strassenbahn zu spät geworden war oder es nach dem kleinen mokka zum fahrgeld nicht mehr reichte. artmann besass ein schon ziemlich mitgenommenes exemplar von soergels dichtung und dichter der zeit – im banne des expresstonismus, das für uns eine wichtige informationsquelle wurde, vor allem die kapitel über den sturm, august stramm und ,dada‘. auch die anthologie der abseitigen, herausgegeben von carola giedion-welcker (bern 1946), hatten wir uns beschafft. im amerikahaus entdeckten wir die last operas and plays der gertrude stein. holz, scheerbart, carl einstein, stramm, schwitters, nebel, behrens, roul hausmann, serner, arp, gertrude stein – das waren dichter, die, sofern überhaupt bekannt, kaum zur kenntnis genommen und als zurecht verschollene aussenseiter abgetan wurden. für uns repräsentierten sie die aufgefundene, eigentliche tradition, der sich unsere bestrebungen organisch anschlossen. wo soll es weitergehen, wenn nicht sinngemäss bei den ,endpunkten‘? in der musik ist der einst als „endpunkt‘ verketzerte webern ein eklatantes beispiel dafür geworden.
während mich am stärksten die ,konstruktivisten‘ beschäftigten, die mit und nicht wie die surrealisten bloss in der sprache arbeiteten (vielleicht auch weil ich von der musik her gewohnt war, in formalen disziplinen zu denken), kam artmann von der schwarzen romantik und dem surrealismus her, der sich anscheinend gerade mit einer österreichischen tradition, etwa den zauberstücken des wiener volkstheaters, überraschend verbinden liess: er wurde am schnellsten assimiliert. auch unter den malern war anfangs die surrealistische gruppe die stärkste. edgar jené und max hölzer gaben 1950 in klagenfurt die surrealistischen publikationen heraus, die viel kursierten und dazu beitrugen, dass man sich über den surrealismus am besten unterrichten konnte. auch die von alain bosquet herausgegebene anthologie surrealismus (berlin 1950) war uns bekannt; sie enthielt für uns wertvolles material. allerdings, was als postsurrealismus (paul celan) eben in mode kam, lehnten wir als symbolistisch verpanschten aufguss ab – das war drauf und dran, eine neue mythisierung einzurichten. wir zogen aus den erfahrungen der surrealisten andere konsequenzen. aber davon später.
im april 1953 verkündete artmann seine

acht-punkte-proklamation des poetischen actes.

es gibt einen satz, der unangreifbar ist, nämlich der, dass man dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein wort geschrieben oder gesprochen zu haben.
vorbedingung ist aber der mehr oder minder gefühlte wunsch, poetisch handeln zu wollen. die alogische geste selbst kann, derart ausgeführt, zu einem act ausgezeichneter schönheit, ja zum gedicht erhoben werden. schönheit allerdings ist ein begriff, der sich hier in einem sehr geweiteten spielraum bewegen darf.
1) der poetische act ist jene dichtung, die jede wiedergabe aus zweiter hand ablehnt, das heisst, jede vermittlung durch sprache, musik oder schrift.
2) der poetische act ist dichtung um der reinen dichtung willen. er ist reine dichtung und frei von aller ambition nach anerkennung, lob oder kritik.
3) ein poetischer act wird vielleicht nur durch zufall der öffentlichkeit überliefert werden. das jedoch ist in hundert fällen ein einziges mal. er darf aus rücksicht auf seine schönheit und lauterkeit erst gar nicht in der absicht geschehen, publik zu werden, denn er ist ein act des herzens und der heidnischen bescheidenheit.
4) der poetische act ist starkbewusst extemporiert und ist alles andere als eine blosse poetische situation, die keineswegs des dichters bedürfte. in eine solche könnte jeder trottel geraten, ohne es jemals gewahr zu werden.
5) der poetische act ist die pose in ihrer edelsten form, frei von jeder eitelkeit und voll heiterer demut.
6) zu den verehrungswürdigsten meistern des poetischen actes zählen wir in erster linie den satanistisch-elegischen c.d. nero und vorallem unseren herrn, den philosophisch-menschlichen don quijote.
7) der poetische act ist materiell vollkommen wertlos und birgt deshalb von vornherein nie den bazillus der prostitution. seine lautere vollbringung ist schlechthin edel.
8) der vollzogene poetische act, in unserer erinnerung aufgezeichnet, ist einer der wenigen reichtümer, die wir tatsächlich unentreissbar mit uns tragen können.

nach den sommerferien wird zur ersten poetischen demonstration aufgerufen:

une soirée aux amants funèbres:
decor:
weisse astern oder chrysanthemen
schwarze kleidung (altfränkisch)
schleifen aus schwarzem flor
schleier
räucherwerk
lampions und schwarzsilberne candelaber

route der procession:
goethedenkmal – oper – kärnthnerstrasse – stephansplatz – rotenthurmstrasse – stamboul – uraniabrücke – franzensbrücke – hauptallee – prater: illusionsbahn.

zeit der procession:
samstag, den 22.8.1953
20:00 uhr.

die damen und herren der procession mögen in absolut schwarzer kleidung und wol auch mit weissgeschminktem gesicht erscheinen. während der procession werden die weissen blumen einer subtilen morbidität vor sich getragen wie auch herbstlich und ultimat brennende lampions oder candelabres.
die melancholie eines flötenspielers geleitet den mit feierlichkeit und tiefer stille schreitenden zug. seine musik ist von strenger klassik. der flötenspieler ist mit frischem efeu bekränzt und seine flöte selbst von dunklem flor umwunden. die perpetuelle verbrennung von specereien und solemnem räucherwerk soll die profunde anmut der ceremonie gebührend unterstreichen.

an den markantesten stellen der procession (c’est a dire: oper – stephansplatz – stamboul – urania brücke – franzensbrücke – hauptallee – illusionsbahn)
werden passagen aus den œuvres von ch. baudelaire, edgar a. poe, gérard du nerval, georg trakl und ramón gómez de la serna im original deklamiert.

auf dem weg von der urania zur kärntnerstrasse kam es durch das stark angewachsene gefolge zu einer verkehrsstörung und die beteiligten landeten schliesslich im strohkoffer. bezeichnend an dieser (ersten) manifestation war die weitgehende gleichsetzung des makabren mit dem poetischen – die im grunde sehr wienerisch ist –, der protest gegen das konventionelle, anonyme, normative, der sich jedoch weniger durch eine aggression nach aussen, als mehr durch ein dokumentiertes, subjektiv bedingtes anders-, eigensein ausdrückte, provoziert durch das belastende ärgernis, das man schon durch die kleinste abweichung vom üblichen hervorrief. – an dieser procession hatte sich auch schon konrad bayer beteiligt, der im umkreis artmanns aufgetaucht war und dazuzugehören begann.
in einem weiträumigen, labyrinthischen keller, den artmann gefunden hatte (im ersten bezirk, ballgasse 10), wollten wir ein avantgarde-theater einrichten. die kleine schaubühne, literarisches theater; leiter & initiator h.c. artmann. günstigerweise war der keller durch ein grosses, halb verschimmeltes holztor unmittelbar von der strasse erreichbar. zuerst mussten allerdings noch berge von schutt und abfall weggeschafft werden. mit unseren kerzen und taschenlampen entdeckten wir, dass es noch tiefer hinunterging: unter unserm theater lagen die historischen katakomben. wir veranstalteten hier als ,club‘ (,franciscan catacombes club‘)lesungen, konzerte und aufführungen, so artmanns neueste pantomimen (die sich für die aufführung durch laien besonders eignen), planten eine inszenierung von eliots sweeney agonistes und liessen für diesen zweck ein stück von gertrude stein übersetzen. die schwierigkeiten der übersetzung erwiesen sich allerdings als so gross, dass sie nie zu ende gebracht wurde. aber es gab ,macabre‘ feste und einige ,poetische acte‘:

in memoriam to a crucified glove on saturday the ninth of january ,1954; rum, beer, dancing in torchlight, new-orleans band; the vaults will be opened fromm 21:00 hours to 5:00 hours.
am 5. februar fand eine ,schwarze messe‘ statt:

das fest des hl. simeon, quasi una fantasmagoria.
am 20. gab es die
soiree mit illuminierten vogelkäfigen.

besonders in erinnerung blieb mir das pompös makabre fest zu ehren der französischen revolution, wo in jakobinerkleidung mittels einer eigens auf der bühne installierten guillotine imaginäre hinrichtungen vorgenommen wurden. die new-orleansband walter terharens (auch bekannt unter dem namen jazzband jesus christbaum spielte dazu auf – oswald wiener als enragierter jazzcornettist machte bereits mit. auf dringendes anraten der polizei musste der club aufgelöst, der keller geräumt werden.

neuer treffpunkt wurde nun (wieder) das café glory (schräg gegenüber der universität). eine ausserordentlich fruchtbare periode begann. es wurde viel diskutiert und geschrieben, fast jeden abend brachte einer von uns etwas neues. wiener rückte seine ersten gedichte heraus, brachte weitere, als er sich überzeugte, wie sehr sie bei uns anklang fanden. gemeinsames wurde sichtbar: eine progressiv radikale einstellung zur kunst, die uns von ausgetretenen wegen wegführte. für die anderen literaten gingen wir entschieden „zu weit“ – in diesen jahren galt das auch für artmann, wenngleich er sich durch seine bisherigen arbeiten ein prestige erworben hatte, auf grund dessen ihm mehr zugebilligt wurde. so bestand bereits intern und noch unausgesprochen das, was später als wiener gruppe hervortrat. die gruppierung ergab sich keineswegs aus einem definierten programm, sondern vorallem auf grund persönlicher sympathien und wohltuender übereinstimmung. sonst auf desinteresse und heftige ablehnung stossend, waren wir freunde, die zufällig alle schrieben und einander schätzen konnten. es brauchte nichts festgelegt werden, denn wir verstanden uns. kritisierten wir uns gegenseitig, so stets im bewusstsein eines exklusiven niveaus, auf dem nur unsere eigenen kriterien angemessen und akzeptabel waren. und eben die kluft zwischen unseren und den kriterien oder fehlenden kriterien unserer kollegen setzte uns von ihnen als „gruppe“ ab.
bei artmann machte sich in den reimen, versen & formeln eine gewisse veränderung seiner schreibweise bemerkbar, eine stärkere betonung des formalen. seiner vorliebe für entlegene sprachen, für den klang „fremder“ wörter folgend, liess er in seine gedichte imaginäre vokabeln einsickern, die die begriffe verwischten, durch phonetische irritationen assoziativ öffneten: ,erweitere poesie‘.
der differenziertere klang gesprochener sprache, der umgangssprache, wurde entdeckt, die transformationen des dialekts, seine „surreale“ bildlichkeit, etwa wenn man redensarten wörtlich nimmt. auch angeregt durch die einbeziehung volkssprachlicher elemente in den gedichten lorcas, wollte artmann entsprechendes mit dem wienerischen versuchen. gleich seine ersten ,dialektgedichte‘ begeisterten mich sehr und regten mich zu eigener produktion an. wir bemächtigten uns sogleich des makabren, „abgründigen“, das das wienerische grosszügig anbietet und widmeten uns mit genuss der schockierenden wirkung ungewöhnlicher zusammenhänge in vulgärem habitus. die verfremdung des dialekts als kulinarischer alltagssprache durch „abstrakte“ behandlung, bis hin zu einer nur noch lautlichen erfassung des wiener dialekts, seines tonfalls, in ,imaginären dialektgedichten‘ bezeichnen weitere möglichkeiten. der dialekt war damit – im gegensatz zur bisher naiven dialektdichtung – als ein bestimmter, manipulierbarer ausdrucksbereich in den materialbestand der neuen literatur aufgenommen. artmann und ich trafen uns, um eine möglichst angenäherte phonetische schreibung, die der einfachheit halber mit den buchstaben unseres alphabets auskommen sollte, festzulegen, gingen aber in einzelheiten auseinander.
wiener formulierte das „coole manifest“ (es ging verloren). neben den unseren trug es noch eine reihe anderer unterschriften. hier wurde der kalauer als pikanterie betrachtet, denn es kommt ja nur auf die betrachtungsweise an; es wird der laune anheim gegeben, an welchen objekten man sich emotionell hochjubelt, was plötzlich ,schön‘ ist. eine distanzierung von der umwelt durch indifferenz wird erprobt, das banale zum eigentlichen erklärt, die beliebigkeit von wertmasstäben entlarvt. nun stand alles zur verfügung, unser geschmack hatte die wahl. wiener und ich erklärten alles mögliche für literatur. schrieben witze ohne pointen (da doch jede aussage, ja der entschluss dazu, eine pointe ist), wiener bediente sich des formularstils, sammelte aufzählungen, notierte geschäftsschilder, ich legte meinen gedichten das vokabular von kreuzworträtseln zu grunde, signierte schriftliche anschläge, partezetteln, gebrauchte löschpapiere usw., kombinierte ausgefallene fotos aus illustrierten und (medizinischen) büchern mit schrecklich passenden texten, wie in der „coolen serie IN MEMORIAM“ usw. der schock wird als unmittelbarster eindruck bewusst in die kunst eingeführt. „eindruckskunst“ statt „ausdruckskunst“. das heisst, das psychologische wird nicht beschrieben oder ausgedrückt, sondern im hinblick auf den konsumenten, sozusagen als dimension, kalkuliert. die auswirkungen des „coolen manifestes“ reichen bis zur kinderoper und der operette der schweissfuss. was mir gefällt, bestimme ich. besonders gefiel jetzt zb. scheerbarts „katerpoesie“.
eine anregung gab uns die begegnung mit jungen chilenischen anarchisten, die artmann auf grund seiner weitreichenden sprachkenntnisse im glory an unsern tisch gebracht hatte. wir diskutierten über eine methodische hervorbringung von literatur, die es jedem ermöglichen sollte, zu dichten. an der entwicklung des „methodischen inventionismus“ hatte auch der konstruktivistische plastiker marc adrian wichtigen anteil, der auf die brauchbarkeit des goldenen schnitts für die permutative verarbeitung des willkürlich, intuitiv oder automatisch aufgestellten wortstocks, geordnet nach wortarten, hinwies und einige beispiele herstellte. jeder griff die anregung auf seine weise auf: artmann seiner art nach mehr intuitiv in seinen „lyrischen verbarien“ und „inventionen“, bayer rechnete mit silben, ich, indem ich gewisse prinzipien der seriellen musik auf die sprache übertrug. eifrig wurden wörterbücher aufgeschlagen. durch permutative ordnung möglichst dissoziierter begriffe zu internen strukturen sollte absolute künstlichkeit erreicht werden, dichtung als gebrauchsanweisung. das sprachliche material sollte, aus einem kausalen begriffszusammenhang gelöst, in einen semantischen schwebezustand geraten, auf „mechanischem“ wege überraschende wortfolgen und bilder erzeugen. in gewissem sinne handelt es sich hier um eine art systematisierung der alogischen begriffsfolgen des konsequenten surrealismus – wie des von uns besonders geschätzten benjamin péret: allerdings wurde die syntax als ein mittel, die diskrepanz zwischen verpackung und inhalt (logischem satzbau und disparaten begriffsfolgen) auszuspielen, meist zugunsten neuer strukturen aufgegeben.
anfang 1954 hatte ich begonnen, „konstellationen“ (wie sie später genannt wurden) mit isolierten begriffen zu machen. eine art „punktueller“ dichtung, in der die einzelnen wörter eigenständigkeit gewannen. beim versuch einer maximalen objektivierung und reduktion des „gedichtes“ auf die totalität des einzelnen begriffs (denn schon die konfrontation mit einem anderen schränkt ihn assoziativ ein) kam ich im extremfall zu „ein-wort-tafeln“. das hierarchische prinzip des satzes wurde zuerst einmal aufgegeben, um die wörter, der fixierung auf aussagen entbunden, wieder zu gleichberechtigten elementen aufzuwerten. die ,konstellation‘ trifft aus dem verfügbaren wortfundus eine signifikante auswahl; ihre gestimmtheit (sie ist das ,persönliche‘ daran) weist sich durch die so herausgestellten beziehungen aus: die semantischen aber auch die materialen, ,konkreten‘. „was in den zeichen nicht zum ausdruck kommt, das zeigt ihre anwendung“ (wittgenstein). die trennung von inhalt und form ist hinfällig: etwas anders gesetzt, bedeutet etwas anderes. eine „lautkonstellation“ enthält (wie die musik) nur materiale beziehungen, nämlich lautliche.
ein freund wies mich auf eine neue schweizer kunstzeitschrift hin, die spirale, die er da gesehen hatte. eugen gomringer, diter rot hatten darin ganz ähnliche gebilde publiziert. gomringer hatte dafür auch schon eine bezeichnung lanciert: „konkrete poesie“. in brasilien gab es bereits eine ganze gruppe, die ,konkrete poesie‘ machte: die noigandres-gruppe. das alles war sehr aufregend, gerade die voneinander unabhängigen kreationen an verschiedenen orten bestätigten ihre aktuelle stringenz. ihre übernationalität, in der literatur ein neues phänomen, ist ein bedeutsamer aspekt der ,konkreten poesie‘, der dem bedürfnis nach einer vereinfachten weltsprache, wenn auch nur im ästhetischen bereich, entgegenkommt. ihre anschaulichkeit entspricht der zeitgemässen forderung nach konzentrierter information. die lebenden sprachen werden syntaktisch immer einfacher, in ihrem wortschatz internationaler. es gibt tendenzen der reduktion auf ein sparsamstes grundvokabular wie das basic-english. code-sprachen, die sich auf die notwendigsten zeichen beschränken. schlagworte, stichworte, zusammenfassung eines prozesses unter einer bezeichnung. rationellste darstellungsmethoden. allgemeine kleinschreibung, die so wieder möglichkeiten zu weiteren differenzierungen bietet (gelegentliche grossschreibung). abkürzungen. die schlagzeile der zeitung, syntaktisch verknappt (weglassen der unnötigen artikel zb.) enthält oft schon im konzentrat den inhalt des artikels. das schriftbild, augenfällig, ist von bedeutung. die ökonomie der mittel, verbunden mit ihrer differenzierung, wird ein ästhetischer programmpunkt. und gerade an diesem punkt distanziert sich die ,konkrete poesie‘ grundsätzlich von den später so geschäftigen epigonen, bei denen die begriffe in der beliebigkeit ihrer vergeudung funktionslos geworden sind, nicht träger, sondern füllsel formalistischer manöver, die ohne relevanz bloss vorwand für emsige produktion sind. – konsequenterweise drängte sich nun eine materialbedingte unterscheidung zwischen ertönenden und sichtbaren texten auf. noch kaum zu übersehende neue ausdruckmittel und möglichkeiten wurden akut. ,schreibmaschintexte‘, ,visuelle texte‘ mit druckbuchstaben, im februar 1955 machte ich mir notizen zu ,plastischen und raumtexten‘, ,mobilen texten‘, einem schrift-film (dazu fehlte es natürlich noch gänzlich an den praktischen voraussetzungen), 1956 stellte ich den blättern mit normierten druckbuchstaben (die ich zeitschriften entnahm und aufklebte) solche mit dem individuellen, expressiven der handschrift gegenüber. im september 1954 schrieb ich das für mich damals programmatische stück rund oder oval, in dem erstmals die prinzipien der ,konkreten poesie‘ auf das theater angewandt werden.
zuerst schloss sich wiener, später achleitner der sogenannten ,konkreten poesie‘ an und verfertigten eine reihe von konstellationen. aber auch auf artmann blieben diese ,abstraktionen‘ nicht ohne einfluss, wobei sie seinem hang zur phantasmagorie keineswegs abbruch taten. vielmehr erreichte er gerade in seiner synthese, wie sie ihm ab herbst 1954 in einer reihe kurzer stücke gelang, eine ausserordentliche originalität. in rascher folge entstanden unter anderen: aufbruch nach amsterdam, die fahrt zur insel nantucket, (1955) das los der edlen und gerechten, nebel und blatt, lob der optik. auf anregung artmanns begannen wir uns (in der nationalbibliothek) mit barockliteratur zu befassen. die studien griffen um sich. wir entdeckten die deutsche literatur neu, verfolgten eine von der schule unterschlagene oder diskriminierte „zweite“, unsere eigentliche tradition nun zurück durch die gesamte literaturgeschichte. während wir ihre sehr nötige revision, eine richtigstellung der personellen proportionen bedachten, hatten diese auseinandersetzungen, vorallem mit der barockliteratur, bei artmann auch unmittelbare auswirkungen auf seine eigene produktion.
wir wollten noch so manches ,richtigstellen‘. die welle der alarmierenden ,halbstarken‘-debattan ging soeben hoch. wegen verschiedener vorfälle hatten die spiesser wieder einmal schiss bekommen. wir sahen dieses ,problem‘ auf unsere weise, wir begrüssten das rebellische verhalten; man müsste dem nur eine richtung geben, natürlich die unsere. wiener hatte mancherlei kontakte zu diesen kreisen, auch bayer. es stellte sich heraus, dass sich die ,halbstarken‘ überraschend für moderne kunst begeistern liessen. ihr jazzenthusiasmus war ein guter anknüpfungspunkt, er machte sie empfänglich für alles unkonventionelle, ,moderne‘. sie begannen auf anraten konzerte mit moderner musik (zb. webern) zu besuchen, anarchistische literatur zu verschlingen. verfremdete oder erfundene vokabeln, die ihnen wiener und bayer (als en vogue) zuspielten, wurden sofort in ihren jargon aufgenommen – zu unserem nicht geringen wohlgefallen. da waren noch unverbaute, vorurteilsfreie menschen, zu jedem abenteuer bereit. bei artmann wurden die chancen eines staatsstreiches mit ihrer hilfe diskutiert, eine diktatur der progressiven jugend über die saturierte, noch von der naziideologie verseuchte ältere generation. wir verteilten bereits die ressorts unter uns. an radikalen programmpunkten fehlte es nicht. ich weiss noch, dass wir die gesamte presse (vor allem die illustrierten) liquidieren, den rundfunk bis zur völligen umbesetzung und programmneugestaltung schliessen wollten (das fernsehen gabs in österreich noch nicht). leuchtreklamen sollten nicht mehr der werbung dienen, sondern rhythmische ,konstellationen‘ blinken, kilometersteine semantische signale tragen, die sich beim vorbeifahren zu einem weiträumigen textgebilde zusammenfügen, düsenjäger sollten „laut- und wortgestaltungen“ in den himmel zeichnen. wiener war bereit, das gesamte erziehungswesen total zu reformieren. bei uns wäre alles nach zweck- und profitfreien, ästhetischen gesichtspunkten gegangen. da uns alle institutionen hoffnungslos reaktionär erschienen, hatten sich die umwälzenden aktionen gegen so gut wie alles bestehende zu richten. uns gefiel diese vorstellung so gut, dass wir, schon im hinblick auf die fade organisationsarbeit, gar nicht mehr daran dachten, sie in die tat umzusetzen (was utopisch war). die vorstellung war uns immer schon ein ziemlich vollwertiger ersatz für den nachttopf, denn wir haben gepisst wo und wann wir dazu bedürfnis spürten. wir kannten keine rangordnung von ,wirklichkeiten‘, und eine trennung von geist und materie ist uns meines wissens auch nie zugestossen. jetzt ist was ich denke. die verwirklichung einer idee war uns oft als ihre reproduktion langweilig – es sei denn, wir wollten uns von ihr überraschen lassen.
am 13. dezember 1954 konstituierten wir uns als club unter dem namen exil – er spielte auf unsere situation im österreichischen kulturleben an. wir mieteten für unsere zusammenkünfte und veranstaltungen die adebar, annagasse 3 (eine querstrasse der kärntnerstrasse). der kreis ist wieder grösser geworden: er umfasst dichter, komponisten und maler – adrian, lassnig und hundertwasser waren zb. verantwortlich für die sektion malerei; es hingen ständig bilder an den wänden, die von den malern nach belieben ausgewechselt wurden (adrian, fraundorfer, frieberger, hundertwasser, lassnig, lehmden, rainer und andere). wir hatten eine eigene band, in der wiener, zuweilen auch bayer (banjo) spielten. auch junge architekten und filmavantgardisten fanden sich später ein. der enge kontakt, den die progressiven vertreter der verschiedenen künste zueinander hatten, wirkte sich fruchtbar aus und war für unseren wiener kreis spezifisch. am 3.1.1955 zeigte ich hier zum ersten mal wort- und lautgestaltung. wiener, der sich eingehend mit griechischer und afrikanischer kultur beschäftigte – er schrieb soeben am roten erdteil, einer phantastischen paraphrasierung des themas afrika –, hielt einen vortrag (mit platten) über afrikanische musik. kölz machte abende mit barockmusik. in der presse wien, 22.1.55, erschien ein artikel über das exil aus dem ich ein stück zitiere, das etwas von der atmosphäre wiedergibt:

… Künstler mit Ambitionen und solche mit Namen – Besucher, die schockiert, und solche, die begeistert sind – ein gutes Geschäft für den Besitzer: das ist das Exil, das ist Wiens Existenzialistenlokal par excellence. Komprimiert auf einen Raum, zentralisiert in einen Klub, weil sie mehr nicht füllen könnten. Besucht von Leuten, die prominent sind, belagert von Journalisten, die nach Sensationen oder zumindest nach Außergewöhnlichem suchen: das ist ein Teil des Wiener Nachtlebens und keineswegs der langweiligste…
Man sucht in Wien kein Vorbild, weil man sich selbst genügt – und weil man vernünftig ist. Es gibt nirgends sonst – auch im Ausland nicht – einen Klub, in dem alle Kunstrichtungen, sowohl die bildende als auch die Musik und die Literatur, aber auch die Graphik und die künstlerische Photographie vertreten sind…

genau zum ende des jahres räumten wir das lokal unter grossem halloh, weil karger, der besitzer der adebar, durch uns bekannt geworden, uns nun als anheizer nicht mehr zu brauchen glaubte und die vereinbarten konsumationsbegünstigungen der exilmitglieder plötzlich gestrichen hatte. unter den lauten klängen der new-orleansband formierte sich unser auszug zu einer spontanen demonstration. es war schon gegen mitternacht, auf den strassen herrschte sylvestertrubel. mit der spielenden kapelle voran, die exilgäste in einer kolonne hinter uns, zogen wir, von einzelnen polizisten vergeblich daran gehindert, mitten über die kärtnerstrasse zum graben, wo wir vor dem stephansdom den durch lautsprecher ertönenden traditionellen dreivierteltakt zum ärger der älteren, zur freude der jungen mit new-orleansrhythmen übertönten. es schlug 12, das neue jahr begann, nicht mehr zu halten zogen wir von historischer stätte (alter markt) zu historischer stätte (beethovenwohnhaus auf der mölkerbastei), wo wir uns durch musik und tanz lautstark bemerkbar machten. eine schar neugieriger folgte oder umdrängte uns.
österreich wird frei. artmann verfasste ein ,manifest‘ gegen die wiederbewaffnung, das 25 unterschriften trägt.

MANIFEST

wir protestieren mit allem nachdruck
gegen das makabre kasperltheater
welches bei wiedereinführung einer
wie auch immer gearteten wehrmacht
auf österreichischem boden
zur aufführung gelangen würde…

wir alle haben noch genug
vom letzten mal –
diesmal sei es ohne uns!

es ist eine bodenlose frechheit
eine unverschämtheit sondergleichen
zehn jahre hindurch
antimilitärische propaganda zu betreiben
scheinheilig schmutz und schund zu jaulen
zinnsoldaten und indianerfilme
(noch kleben die plakate…)
als unmoralisch zu deklarieren –
und dann
im ersten luftzug einer sogenannt
endgültigen freiheit
die kaum schulentwachsene jugend
an die dreckflinten zu pressen!!

das ist atavismus!!!
das ist neanderthal!!!
das ist vorbereitung
zum legalisierten menschenfressertum!!!

wir rufen euch alle auf:
wehrt euch gegen diese barbarei!
lasst euch nicht durch radetzki-
deutschmeister und kaiserjägermarsch
aug und ohr auswischen…
pfeift auf den lorbeer
und lasst ihn den linsen!!!
denkt daran
welche ehre es für österreich
bedeuten würde
bliebe es wie bisher
der einzige staat der welt
der diese unsägliche trottelei
den anderen dümmeren überlässt!!
genau so wie sich der kannibalismus
der urmenschen und höhlenbewohner
überlebt hat
muss nun endlich auch die soldatenspielerei
der vergangenheit überantwortet werden!!

lasst uns die drei milliarden –
oder weissgott noch mehr –
die ein neues bundesheer verschlänge
für kultur und zivilisation verwenden!!
wozu diese schildbürgerintentionen
senilgewordener bürokratengehirne..??

ein österreich
das nach wiederbewaffnung schreit
ist mit dem quakfrosch zu vergleichen
der mit bruchband und dextropur versehen
einen antiken dragonersäbel erheben wollte…

gegeben am 17. mai 1955 in wien

ein protestgang mit transparenten von im ganzen sieben beteiligten endete sogleich in der wachstube der polizei.
unser stammcafé wurde, 1956, das hawelka in der dorotheergasse (beim graben). aber meist trafen wir uns jetzt zuhause. beliebt waren auch gemeinsame idyllische vorstadtwanderungen, bei denen diskutiert, geschwärmt, zuweilen auch unfug getrieben wurde. so erbeuteten wir einmal auf einem in abbruch befindlichen ringelspiel (karussell), am beliebten weg ins liebhartstal, jene grossen handgemalten ringelspielbilder, die später den umschlag von artmanns schwoazza dintn schmücken sollten.
hanns weissenborn, herausgeber der zeitschrift alpha, entschloss sich, ein heft unserer neuen dialektdichtung zu widmen. wie die sache aufgenommen werden würde, erschien ziemlich ungewiss. denn dialektdichtung war noch mit der vorstellung naiver trivialität verbunden. weissenborn hatte daher zuerst etwas sorge, dass diese nummer im rahmen seiner seriösen, gemässigt modernen literaturzeitschrift, als entgleisung betrachtet werden könnte. ,umrahmt‘ von drei ,miniaturen‘ von rené altmann und einer reihe von artmann und weissenborn übertragenen „greguerias“ von ramón gómez de la serna enthielt diese nummer dialektgedichte von artmann und mir und ein neues von ernst kein. auf der letzten seite schrieb weissenborn über den ,schwarzen humor‘, ich über

DIALEKTDICHTUNG.

wir haben den dialekt für die moderne dichtung entdeckt. was uns am dialekt interessiert, ist vorallem sein lautlicher reichtum (besonders im wienerischen), der für jede aussage die typischen nuancen findet. selbst ein einziges wort kann in verschiedenen tönungen auftreten, also individualisiert sein (wir versuchen dies, soweit es mit 26 buchstaben möglich ist, durch eine phonetische schreibung darzustellen), während in der „schriftspreche“ – der dialekt ist eine „gesprochene spreche“ – jedes wort objektiviert und starr erscheint (aber gerade von der erkenntnis dieser ,starre‘ der einzelnen worte sollte die neue ,gehobene‘ dichtung ausgehen, bieten sie sich doch so in form kompakter bausteine an). der surrealismus, der sich stets auf das unterbewusste beruft, hat die nicht unwesentliche tatsache übersehen, dass der dialekt in unserem ,täglichen‘ denken und daher auch in unserem unterbewusstsein eine eminente rolle spielt. seine wirklichkeitsnähe und unmittelbarkeit des ausdrucks schliesslich lässt die chance, durch neue gegenüberstellungen der werte eine verfremdung und damit eine neuwertung derselben zu erzielen, besonders hoch erscheinen. so glauben wir, dem dialekt ganz neue seiten abzugewinnen.

die nummer war in kürzester zeit vergriffen und schlug so ein, dass der kritiker alfred schmeller im wiener kurier (der meistgelesenen wiener tageszeitung) einen euphorischen artikel (mit beispielen) publizierte:

„Wann i, verstehst, was z’reden hätt“, dann würde ich sagen, daß mir jetzt gerade ein paar Gedichte zugeflogen sind, die ich als einzigartig bezeichnen möchte (obses glaum oda ned). Es sind Verse im Dialekt.
Bitte lassen Sie sich durch die eigentümliche Schreibweise nicht gleich abschrecken, sie ist die sogenannte „vonedische“ und will den Wortlaut möglichst getreu nachbilden. Versuchen Sie einmal, zweimal diese Gedichte laut zu lesen, und Sie werden merken, wie über dem ungewohnten Buchstabenbild plötzlich Ihre Zunge zu „schmelzen“ beginnt, wie Ihnen plötzlich die Buchstaben auf der Zunge zergehen. Und beim drittenmal werden Sie dann entdecken, daß diese Gedichte wirkliche Dichtung sind, die von zwei genialen Pülchern stammt: von H.C. Artmann und Gerhard Rühm. (Obses glaum oda ned).
Von früheren ,Mundart‘-Dichtungen unterscheiden sich diese Dialektgedichte nicht unerheblich. Sie sind nicht mehr Impression, nicht mehr abgebildetes Wortgeläute; sie sind schärfer, makabrer, abgründiger, sie sind Selbstironie an der Peripherie, eine geraunzte Variante des schwarzen Humors, von aktiver Resignation durchtränkt und in ihren besten Stücken von unglaublicher Ausdruckskraft… Artmann und Rühm haben nicht nur den Dialekt für die moderne Dichtung entdeckt, viel mehr: sie haben Wien wieder entdeckt.

soetwas war uns bisher noch nicht widerfahren. weissenborn, der sich später ausgerechnet bei erscheinen von hosn rosn baa, dem, neben der schwoazzn dlntn, repräsentativen band der neuen dialektdichtung, den borniertesten kritikern zugesellte (alpha, nov./dez. 59), gab mir sogleich einen vertrag für meinen söbstmeadagraunz, einem zyklus von 30 dialektgedichten, die ebensoviele selbstmordarten zum vorwurf haben. er sollte schon ende 1956 erscheinen, aber der verlag hatte finanzielle schwierigkeiten und es kam nicht dazu. sogar das österreichische fernsehen wurde auf uns aufmerksam und erteilte uns schliesslich nach einem sondierenden gespräch den auftrag, ein fernsehstück im ton unserer dialektgedichte zu verfassen (1957). wir sollten uns nur auf eine „allgemein verständliche“ fabel stützen, in der ausarbeitung aber freie hand haben. artmann und ich entschieden uns für das donauweibchen, eine altwiener volkssage (undine-thema). wir sahen hier vom stoff her motivierte anlässe zu unrealistischen szenen und verfremdeten dialogen. obgleich wir an „allgemeiner verständlichkeit“ an die grenze des von uns vertretbaren gegangen waren, wurden schliesslich doch am fertigen manuskript lächerliche änderungen verlangt, die ich ablehnte. für die übliche konfektionsarbeit hatten sie sowieso ihre massarbeitet, wozu also uns bemühen? auch der wunsch, peter kubelka die regie zu geben, stiess auf widerspruch. das manuskript blieb also liegen. erst 1960 wurde das donauweibchen in teilweise veränderter form unter alleiniger autornennung artmanns gesendet.
1956 entstanden die ersten gemeinschaftsarbeiten. artmann stöberte in seinen grammatiken herum (wörterbücher und fremdsprachige grammatiken gehörten zu seiner lieblingslektüre), kramte ein „lehrbuch der böhmischen sprache“ eines gewissen terebelski aus dem jahre 1853 hervor (oder war es bayer?), in dem sich eine sammlung einfacher sätze fand, die dem durch den inventionismus geschulten blick in ihrer willkürlichen aneinanderreihung als poetische verfremdungen auffallen mussten. artmann und bayer begannen die reihung in diesem sinne zu spezifizieren, wählten aus, gruppierten um – die erste ,montage‘ war fertig. bei der nächsten zusammenkunft in artmanns enger aber inspirativer bude in der kienmayergasse, in breitensee, beteiligte ich mich an der weiteren ausbeutung des buches: die „magische kavallerie“ entstand. die entdeckerfreude feuerte uns zu weiteren montagen an. es lag nahe, andere bücher und sonstige schriftliche dokumente zu verwenden, auch verschiedene gleichzeitig. schon die auswahl des materials war erregend und für das poetische endprodukt natürlich von massgeblicher bedeutung. auswahl und ordnung, die sensibilität, die sich in dem spannungsverhältnis benachbarter sätze erweist, machen die qualität dieser art von dichtung aus. jeder brachte geeignetes material an (bevorzugt waren anfangs ältere konversationsbücher), wir spielten uns aufeinander ein, warfen uns die sätze wie bälle zu. wenn daneben auch jeder für sich den erschlossenen möglichkeiten weiter nachging, war gerade die montage eine technik, die die gemeinschaftsarbeit besonders begünstigte. da wir manchmal – auch voneinander unabhängig – dasselbe material nochmals verwendeten, kann es vorkommen, dass in verschiedenen texten gleiche sätze auftauchen. wir kamen schliesslich zur „montage über die montage“ (aus einem fachbuch über maschinenbau), die wir als monteure gekleidet in einer werkhalle verlesen wollten. – im unterschied zu den dadaistischen „arpaden“ wurde vorgefundenes wortmaterial nicht in ein gedicht eingesponnen oder als ,anreger‘ verwendet, sondern ganze sätze wurden als fertige bestandteile zueinander in neue, poetische beziehung gesetzt; damit stand praktisch das gesamte schrifttum zur verfügung. in anlehnung an den begriff der konstellation (aus einzelnen begriffen) kann man die montage als satz-konstellation auffassen. wir haben auch versucht, aus der verwendung von trivialliteratur durch zusammenhangsverfremdungen in der montage neue effekte zu erzielen. die verwendung von trivialen elementen wirkte damals, als sie noch nicht durch pop-art mode geworden war, auf das literarisch gebildete publikum provakativ oder mindestens exotisch. auch verschiedene stile konnten so anwendbare ausdrucksmittel werden. zuweilen wurden die aufgefundenen sätze auch frisiert oder auf den kontext ausgerichtet. artmann fingierte manchmal die montage oder mischte eigene sätze mit. nicht zuletzt aus diesen „poetischen gesellschaftsspielen“ (den gemeinschaftstext „stern zu stern“ von artmann, bayer und mir machten wir nach einer vorher vereinbarten spielregel) entwickelte sich schliesslich eine bewusste gemeinsame auseinandersetzung mit dem material sprache überhaupt, wie sie dann achleitner, bayer, wiener und ich in sitzungen intensiv betrieben. die montagetechnik wurde nicht nur im strengen sinne für weitere arbeiten bedeutsam, sondern auch bei der konzeption grösserer, komplexerer formen, die im einzelnen nicht unbedingt auf montage beruhen, sowie überhaupt in einem geschärften blick für die plastizität und das spannungsverhältnis benachbarter sätze, auch in einem freien und sogar einem beschreibenden kontext. die wahrnehmung bewegt sich in phasen: ihre ,wirklichkeit‘ hat sprünge.
bei einem sommerfest in arnulf rainers villa in vöslau, 1955, (es war weinlese) lernte ich im allgemeinen trubel flüchtig friedrich achleitner kennen. er gehörte einem anderen kreis an. als damals noch ausübender architekt (im team mit johannes gsteu) war er mit seinen kollegen gekommen, von denen wir nur die arbeitsgruppe 4 (holzbauer, kurrent und spalt; einer war abgesprungen), kurz die „dreiviertler“, näher kannten. zu einem gespräch, das unser interesse aneinander weckte, kam es erst im winter, als wir nach einem konzert des ensembles die reihe (unter leitung von cerha und schwertsik spezialisiert auf neue und neueste musik) an einem wirtshaustisch sassen. achleitner begann sich, von den anderen als aussenseiter anfangs etwas misstrauisch betrachtet, allmählich im café glory einzufinden. an unseren arbeiten zog ihn vorallem die starke betonung des formalen an, im besonderen die „konstellationen“. er beteiligte sich auch an der dialektdichtung, der er mit seinem oberösterreichischen („obdaennsa“) einen neuen ton abgewann. der trockene humor und die formale prägnanz seiner dialektgedichte machte uns allen grosses vergnügen. es bestand kein zweifel mehr, er gehörte zu uns. ab 1957 verfertigte er auch einige sehr originelle montagen. er gab die tätigkeit als architekt bald auf und widmete sich, wie wir alle (auch bayer kündigte seine stellung an der bank), ausschliesslich der literarischen arbeit.
im sommer 1956, als achleitner und ich zur festspielzeit in salzburg waren (achleitner besuchte das architekturseminar von konrad wachsmann), benutzten wir die gelegenheit weiter westlich zu sein, um eugen gomringer in der hochschule für gestaltung in ulm aufzusuchen. es war unser erster kontakt nach ,aussen‘, der nicht mehr abbrechen sollte. in angeregten gesprächen wurde erkundet, inwieweit wir gleiche vorstellungen hatten, woher jeder „dazu“ gekommen war. diter rot kannten wir schon aus der spirale. gomringer (aus der schweiz übersiedelt), hatte soeben erste arbeiten in unserer richtung auch aus deutschland erhalten: claus bremer und helmut heissenbüttel. wir tauschten arbeiten aus; gomringer lud uns zur mitarbeit an einer internationalen anthologie ,konkreter poesie‘ ein, die kadergruppe wurde gebildet. da für dieses projekt kein verleger zu finden war, löste es gomringer in eine fortlaufende reihe von einzelheften auf, die er im eigenverlag herausbrachte. heft 3 enthielt gesammelte ,ideogramme‘ aller mitarbeiter: friedrich achleitner, ronaldo azeredo, carlo belloli, claus bremer, augusto de campos, haroldo de campos, eugen gomringer, josé lino grünewald, ferreira gullar, helmut heissenbüttel, kitasano katuê, décio pignatari, diter rot, gerhard rühm, oswald wiener, emmett williams. heft 4 brachte meine „konstellationen“, das vorweggenommene heft 10 enthält achleitners „schwer schwarz“ (1960). gewissermassen als ersatz für das buch erschien eine kleine „anthologie konkreter poesie“ mit fotos und einigen exemplarischen konstellationen der mitarbeiter als sonderbeilage der spirale nr. 8. während für achleitner und mich diese neue verbindung bedeutung gewann, nahm wiener sie nur vorübergehend wahr, sie betraf ihn nur an der peripherie. bayer und erst recht artmann blieben davon unberührt, denn ihnen lag diese möglichkeit zu schreiben weniger und sie haben sie im strengen sinne nie praktiziert. allerdings betrachteten auch achleitner und ich uns nie ausschliesslich als ,konkrete dichter‘, einfach auch aus einer scheu heraus, durch einen katalogisierenden begriff unser arbeitsfeld eingeschränkt zu sehen, denn prinzipiell ging es uns seit je um eine auseinandersetzung mit dem gesamten bereich der sprache, die in dieser grundsätzlichen form die einordnung in stilrichtungen oder ismen gegenstandslos macht.
im mai 1957 machte die österreichische kulturzeitschrift neue wege (ein im hinblick auf ihren inhalt eher ironisch wirkender titel), herausgegeben vom theater der jugend, erstmals den versuch, uns einem jüngeren leserkreis bekannt zu machen. artmann, der in aufgeschlosseneren kreisen bereits ansehen besass, hatte hier schon mehrmals publiziert. nachdem in einem heft zuvor, sozusagen vorbereitend, einige meiner weniger aufregenden ,märchen‘ abgedruckt worden waren, veröffentlichte ich nun einen kurzen artikel über die neue dichtung mit zwei konstellationen als beispielen. neue gedichte von ernst jandl, der mit seinen jüngsten ,sprechgedichten‘ eine radikale wendung in seiner bisherigen schreibweise dokumentierte, taten ein übriges, um bei den österreichischen erziehungsberechtigten einen skandal auszulösen, der dem lyrikredakteur den posten kostete.
im märz machte artmann den versuch, nach vierjähriger pause die früher auf seine anregung von okopenko herausgegebenen publikationen fortzusetzen. zwei hefte erschienen. ein programmatischer aufsatz von wieland schmied über „das mythologische in der neueren österreichischen dichtung“ war für achleitner, wiener und mich allerdings ein triftiger grund, um auf eine publikation in diesem rahmen zu verzichten – schliesslich waren wir keine atavisten. mystifikation, symbolismus und metaphorik waren uns zuwider – wohl der punkt, an dem wir mit artmann nicht immer übereinstimmten.
am 20. juni 1957 manifestierten wir unsere gemeinsamen bestrebungen und damit uns als ,gruppe‘ in einer monsterlesung, für die uns gerhard bronner in einer dankenswerten laune das intime theater in der liliengasse 3 zur verfügung stellte. achleitner, artmann, bayer, rühm, wiener. das plakat trug unter unseren namen nur den schlichten titel „dichtung“. wir brachten einen querschnitt durch unsere bisherige arbeit – einzel- und simultanlesungen, tonbänder und projektionen, eingestreut auch theoretisches –, bis wir durch den nicht mehr zu überhörenden eintritt der sperrstunde um mitternacht (das programm lief ohne pause durch) zu einem ende kommen mussten. im zuschauerraum gärte es und war mehrmals am rande einer schlägerei.
in diese zeit fällt auch unser „flagellomechanisches manifest“: an öffentlichen plätzen werden mit bleikugelschnüren texte aus einer schreibmaschine gepeitscht, die einzelnen blätter abgestempelt an die umstehenden verkauft; den presseleuten werden in puppengeschirr kaffee und kuchenbrösel gereicht. lesungen in einem strassenbahnwagen und im riesenrad waren geplant. unsere gedichte sollten öffentlich plakatiert werden. artmann und ich beabsichtigten, einen „progressiven heurigen“ zu veranstalten, wo wir, auch im duett, begleitet von ernst kölz, unsere aggressivsten dialektgedichte vortragen wollten.
am 8. august, zur festspielzeit, lasen achleitner, artmann und ich auf einladung der gesellschaft für moderne kunst in der salzburger residenz unsere dialektgedichte. diese lesung wurde für artmann der anstoss zu ersten verhandlungen mit dem reserviert-konservativen otto müller-verlag. aber es bedurfte noch intensiver bemühungen des sonst suspekten hans sedlmayr (verlust der mitte), bis sich der verlag zu seinem bestseller med ana schwoazzn dintn entschloss; einige schärfere gedichte mussten wegfallen (sie erschienen später in hosn rosn baa), einige neue kamen hinzu. trotz des sensationellen erfolges (auch in finanzieller hinsicht – es gab innerhalb kurzer zeit mehrere auflagen; der verlag streifte auch noch einen geldpreis für dieses buch ein), lehnte der verlag die anderen daraufhin angebotenen arbeiten artmanns ab.
1957 begann eine nicht mehr abreissende kette von veranstaltungen und lesungen in wien und ab 1959 auch in graz, wo sich trotz anonymer drohungen und bezeichnender kritik „Ent-„artmänner“ in der Sezession, eine feste gemeinde zu bilden begann. im mai 1958 ermöglichte mir fritz wotruba in der galerie würthle wien I, weihburggasse 9, eine erste grössere ausstellung meiner visuellen texte (wortgestaltung – lautgestaltung).
in einem zeitungsartikel über uns tauchte erstmals die bezeichnung wiener dichtergruppe auf (dora zeemann im neuen kurier vom 23.6.1958). heimito von doderer, der sich uns aufgeschlossen und wohlwollend zeigte, wollte uns seine wöchentliche literaturseite, die er im wiener kurier redigierte, zur freien verfügung stellen. doch ein verantwortlicher redakteur, der die schon gesetzten druckfahnen zufällig zu gesicht bekam, zog sie augenblicklich zurück, worauf doderer, erfolglos auf seiner zugesicherten autonomie bestehend, die redaktion der literaturseite niederlegte; eine haltung, der man nicht allzu oft begegnet.
nach dem überraschenden erfolg der schwoazzn dintn (1958), löste sich artmann unauffällig von uns. nach den jahren, in denen er ohne offizielles echo unter beschränkten verhältnissen geschrieben hatte, fand er sich sozusagen über nacht als bestsellerautor in aller munde. strassenbahnschaffner kannten seinen namen und zitierten aus seinen dialektgedichten; er wurde populär, wie es nur selten einem dichter in österreich gelang – allerdings als ,dialektdichter‘, auf kosten seiner anderen arbeiten.
achleitner, bayer, wiener und ich schlossen uns noch hermetischer zusammen. als ,gruppe‘ wurde es das jahr der engsten zusammenarbeit. weitere gemeinschaftsarbeiten entstanden, die theoretische arbeit wurde intensiv vorangetrieben. zugleich scheint auch in der arbeit jedes einzelnen ein neuer abschnitt zu beginnen. achleitner, wiener und ich entwickelten von den ,konstellationen‘ her komplexere texte. die bahnfahrt nach seckau, wo wiener und ich an einer tagung teilnahmen, benutzten wir dazu, uns notizen zu einer neuen gemeinschaftsarbeit zu machen. die unergiebigkeit der tagung, das heisst also die reichliche freizeit, die wir uns nahmen, gab uns gelegenheit, die notizen auszuführen. das „fenster“ entstand, in dem wir, von nur zwei begriffen ausgehend, „gleis“ und „bogen“ (auch auf den bogen papier bezogen), durch visuelle differenzierungen, seitenverteilung (bewusste einbeziehung des umblätterns), einkleben eines beziehungsvollen farbigen fetzchens, neue dimensionen des buches aktivierten. der text mündet in ein ganzseitiges foto eines sezierten gesichtes, das das assoziationsvermögen des lesers herausfordert. im august schrieb ich den „rhythmus r“, wo auch der tasteindruck (rauh!) in der lesetätigkeit bedeutung gewinnt und verschiedene (auch stilistische) textebenen, durch den zentralen bezugspunkt „r“ verknüpft, einander gegenübergestellt werden. mit den „fröschen“ eröffnete ich die sich über mehrere jahre erstreckende folge der lesetexte. wiener schrieb seine „erste studie“, der noch drei weitere folgten. achleitner stellte „die gute suppe“ her, womit er der montagetechnik eine ganz neue seite abgewann. bayer schloss, neben seinem stück der analfabet (1956), seinen ersten grösseren text ab: „der vogel singt, eine dichtungsmaschine in 571 bestandteilen“. achleitner, bayer, wiener und ich kotzten in zwei nächten die „kinderoper“, in der erwachsene auf dem niveau von kleinkindern, aber aus dem reservoir ihres unterbewusstseins, nahezu automatisch sätze produzieren. noch tage danach wirkten sich diese beiden nächte – wir waren dabei fast in eine art trance verfallen – zum befremden anderer partner auf unsere gespräche aus. im herbst bauten wiener und ich das grossformatige bilderbuch kind und welt „den menschen von morgen“. die fotos sind wieder illustrierten und einem medizinischen werk (missgeburten) entnommen. das buch endet mit einem spiegel, in dem sich der leser mit den missgeburten auf den blättern davor vergleichen kann. im gegensatz zu der aggressivität der fotos strömen die seiten einen intensiven parfümduft aus. das spiegelmotiv haben wiener und ich auch noch in einer weiteren gemeinschaftsarbeit verwendet („spiegel“, ende 1959).
theoretisch beschäftigten wir uns vorallem mit sprachwissenschaft, denkmethoden, wittgenstein, den neopositivisten, der kybernetik; am eingehendsten wiener, bei dem diese auseinandersetzung sich auch unmittelbar in seinen literarischen texten abspielt. in unserem streben nach funktionalität spekulierten wiener und ich über eine schrift, die mit geringstem aufwand genügend differenziert bezeichnen kann. die blindenschrift bot sich an. durch kombination von im ganzen sechs punkten lassen sich alle bekannten sprachlaute (und noch mehr) fixieren – nur sollten bei uns schon aus der anordnung der punkte die verwandtschaftsgrade der einzelnen phoneme hervorgehen. daraus folgte sogleich die notwendigkeit, eine neue sprache zu konstruieren. warum sollte eine weltsprache nicht gleich vollkommen funktionell entwickelt werden? so müsste aus der lautkombination eines wortes schon deutlich werden, welchem sachgebiet es angehört, welcher wortart. die bestehenden sprachen täuschen phonetisch beziehungen vor, wo keine bestehen und verführen so zu mystifikation (,laufen‘ als steigerung von ,gehen‘ steht diesem begrifflich näher als ,haufen‘), eine vollkommen funktionelle sprache (eine fiktion, wie wir bald merkten) müsste auch völlig neue, eben nur durch sie mögliche einblicke geben; denn wir gingen davon aus, dass das denken des menschen dem stand seiner sprache entspreche, daher die auseinandersetzung mit der sprache die grundlegendste auseinandersetzung mit dem menschen sein müsse. neue ausdrucksformen modifizieren die sprache und damit sein weltbild. das besagt natürlich auch, inwieweit unsere dichtung über ihre ästhetische bedeutung hinaus wirksam sein soll. gerade in ihrer unabhängigkeit von einer sanktionierten gebrauchsweise besteht die chance, neue anschauungsformen zu provozieren, zu ,verändern‘.
einer überschätzung, möglicherweise, der sprache und des funktionalismus, der sich bedenklich der ideologie näherte, folgte, besonders bei wiener und bayer, ein stadium der kritik und sprachskepsis. jede aussage ist eine einschränkung und zwar eine beliebige, insofern, als sie eine unter möglichen aussagen ist. je gezielter sie sich formuliert, um so erregter vibriert ihre beliebigkeit. in dieser diskrepanz besteht ihre demagogie. aussagen sind daher entweder anweisungen oder literatur – und wieder wird signiert.
am 11. juli 1958 lasen wir, achleitner, bayer, wiener und ich, im rahmen der wiener festwochen in der secession auf einladung von bertl rauscher. der in der sozialistischen partei das jugendreferat innehatte. man kann nicht behaupten, dass uns diese partei sehr zusagte; wenn wir linke ambitionen hatten, dann waren es der anarchismus, bzw. der trotzkismus, die uns interessierten. aber rauscher war ein junger mann mit aufgeschlossenheit und initiative – unnötig zu sagen, dass er bald in ein anderes ressort und schliesslich nach england versetzt wurde. zuvor allerdings konnte er noch eine galerie gründen, die auch für weniger gern gesehene künstler offenstand und uns die praktischen voraussetzungen für unsere beiden „literarischen cabarets“ schaffen. er mietete für uns einen kleinen theatersaal der künstlervereinigung alte welt (ein paradoxon, das uns gefiel), wien VI, windmühlgasse. eifrige besprechungen und vorbereitungen fanden statt. jeder brachte material an, das meiste wurde gemeinsam für diesen anlass konzipiert – darunter gerade die nummern, die in gewisser hinsicht schon als ,happening‘ hätten bezeichnet werden können, sofern diese bezeichnung schon bekannt gewesen wäre. als kräftigungspillen sollte das publikum zwischendurch chansons serviert bekommen. es naschte sie mit viel vergnügen, aber auch die anderen aggressiveren nummern kamen blendend an (die sitzplätze waren überbelegt, die zuschauer standen dicht gedrängt bis in den flur). alle harrten trotz der unbequemen verhältnisse, des rauchs und des schweisses, aus, bis wir abbrechen mussten – das umfangreiche programm dauerte ungleich länger als wir gerechnet hatten. der kollektiv-masochismus des publikums war eine nicht zu übersehende entdeckung. durch den alle erwartungen übertreffenden starken besuch und das flüsterecho ermutigt (die presse reagierte erst auf die zweite veranstaltung, dann aber spektakulös), entschlossen wir uns anfang 1959 zu einem weiteren abend im grossem rahmen (porrhaus), der neben den restlichen nummern soviele neue enthielt – wir wollten natürlich den weitaus grösseren möglichkeiten des neuen raumes rechnung tragen –, dass wir auch diesmal wieder zu gewaltsamen kürzungen gezwungen wurden, nicht zuletzt durch die polizei, die um uns ausserordentlich besorgt war. im grunde war für uns das „literarische cabaret“ anlass, auf eine lockere weise aspekte eines ,totalen theaters‘ zu erproben (im besonderen „zwei welten“ und die „phasen“). wiener und ich hatten schon ein jahr zuvor einen konstruktionsplan zu einem theaterstück ausgearbeitet, der, auf einer seriellen grundordnung basierend, alle von uns durchdachten sprachlichen mittel und ausdrucksweisen und noch ungeahnte möglichkeiten eines automatisierten theaters durchexerzieren sollte.
durch den erfolg und wirbel um unser „literarisches cabaret“ interessierte sich eine österreichische schallplattenfirma (amadeo) für uns. wir wollten nicht einfach die platte als (reproduktive) konserve benützen, sondern etwas speziell diesem medium angemessenes eruieren. wir entwarfen detaillierte „anregungen für ein ,schallplatten-funktionelles‘ akustisches cabaret“. das interesse schlief aber wieder ein. über eine deutschland-tournee wurde gesprochen; auch aus einer schon ziemlich konkreten einladung zu einem gastspiel im basler théâter fauteull wurde nichts – das organisatorische lag uns nicht.
erstmals kamen wir 1959 mit einem grösseren verlag in ein hoffnungsvolles gespräch: langewiesche-brandt in münchen; achleitner vermittelte das, der den leiter, kristof wachinger, von früher privat kannte. wir stellten einen band zusammen, mit schwergewicht auf der ,montage‘ da sie einen grossteil der gemeinschaftsarbeiten ausmacht, und wir lieber einen bereich unserer arbeit geschlossen dokumentieren wollten als von allem nur etwas. als gesamttitel wählten wir den einer gemeinschaftsarbeit von bayer und mir, der „mustersternwarte“. aber bevor es zu einem vertrag kam, erhielten wir eine absage – das projekt war wachinger doch zu gewagt. ebenso erging es einem band von achleitner und meinem „rhythmus r“ die im gespräch gewesen waren. die zusammenarbeit mit wachinger beschränkte sich schliesslich auf ein paar beiträge achleitners, artmanns und von mir in dem bayrisch-österreichischen mundartlesebuch fleckerlteppich (1959). die „mustersternwarte“ in etwas erweiterter form bot bayer später, als er wegen seines vitus bering verhandelte, dem walter-verlag in olten an, der sie als walterdruck in der nummer 0 ankündigte und einschlafen liess.
1960 erschien in movens, einer dokumentation neuester kunsttendenzen, im limesverlag, „der fliegende holländer“, von bayer und mir.
dem wiener frick-verlag (auf suche nach bestsellern immer etwas zu spät) war es zu ohren gedrungen, dass artmann ja nicht als einziger die neue dialektdichtung betrieben hatte, der name achleitners und der meine waren gefallen. alois engländer, der damalige inhaber des verlags, setzte sich mit uns in verbindung, mit dem vorschlag, gemeinsam mit artmann bei ihm einen neuen dialektband herauszubringen. völlige freiheit in der auswahl und der aufmachung wurde uns zugestanden. trotzdem zögerten achleitner und ich, da wir es nicht riskieren wollten, dass der eindruck eines aufgusses der schwoazzn dintn entstehe. der band müsste ein instruktives vorwort enthalten, verfasst von einem kompetenten aussenstehenden. heimito von doderer war der einzige, der für uns dafür in frage kam, und er willigte gerne ein. ebenso – und das war ja letztlich ausschlaggebend – artmann. dies war ein willkommener anlass zu einer wiederannäherung. unser neubekundetes einverständnis wirkte auf jeden von uns erleichternd – wenn wir auch nicht mehr unmittelbar zusammenarbeiteten, wir waren doch freunde. das buch machte uns plötzlich spass, wir unterschrieben den vertrag. als titel machten wir ein für jeden signifikantes wort ausfindig: „hosn – achleitner, rosn – artmann, baa (knochen) – rühm“. achleitner schnitt unser profil, seines im spiegel, entwarf den umschlag. format, schrift und satzspiegel bestimmten wir gemeinsam. von artmann gab es auch noch eine reihe frühester gedichte, die dem müller-verlag zu scharf gewesen waren; unsere gedichte waren so gut wie unpubliziert. der band wurde zu einer resümierenden dokumentation der neuen dialektdichtung, denn sie war für jeden von uns bereits ein abgeschlossenes kapitel. das buch erregte eher im negativen sinne aufsehen, so sehr es auch von einem gewissen kreis begrüsst und gepriesen wurde (doderer kannte einige gedichte von uns auswendig – natürlich gerade die harten – und rezitierte sie gerne zum peinlichen befremden in gespreizten gesellschaften). wir hatten das im stillen vorausgesehen, denn dieser band wurde aggressiver als die lyrischere schwoazze dintn – sowohl in inhaltlicher als auch in formaler hinsicht, und einem skandal vorbeugende selbstzensur hatten wir natürlich nicht geübt. der spiesser fühlte sich hier tatsächlich auf sein wiener schnitzel getreten und reagierte dementsprechend beleidigt. für einen vortragsabend (9.12.59), wurde ein beliebter burgschauspieler, der komiker richard eybner, gewonnen, gemeinsam mit den autoren im mozartsaal des konzerthauses (zyklus „die berühmte stimme“) aus hosn rosn baa zu lesen. solange eybner die unverfänglicheren gedichte vortrug, ging noch alles gut, doch als die reihe an uns kam, entstand im publikum unruhe, die sich zu einem kleinen pfeifkonzert und rufen wie „in die gaskammer“, „kulturschande“ steigerte, einige besucher verliessen empört den entheiligten saal. wir waren am ende nicht unzufrieden; nur der biedere richard eybner war über seine mitwirkung an so einem ,debakel‘ – um mit stramm zu sprechen – schamzerpört. – übrigens wurde ich auf grund einiger gedichte in hosn rosn baa (vier jahre nach erscheinen des buches) verdächtigt, der opernmörder zu sein (aufsehenerregender lustmord an einem ballettmädchen) und musste mich bei der kriminalpolizei einem verhör unterziehen (schlagzeile im express morgenausgabe, mittwoch den 24. april 1963, „Opernmord: Wiener Mundartdichter muss wegen seiner Verse Alibi erbringen!“).
im jänner 1960 veranstalteten wiener, bayer und ich drei abende in der galerie junge generation (bertl rauscher) am börseplatz im rahmen der ausstellung marc adrian. wiener las wittgenstein, bayer aus seiner projektierten „bayer-zeitung“, ich machte unter dem titel „demonstration“ eine aktionslesung, in der ich begriffe, gegenstände, geschehnisse und aussagen in eine teils geplante, teils zufällige beziehung brachte. diese veranstaltungen, scheint mir, demonstrierten eine weitere station. wiener hat zur laufenden ausstellung einen katalogtext geschrieben, der sie sehr gut erläutert:

(kurze, in der umgangssprache besorgte erledigung der hintergründigen kunst)
nicht offenkundig ist, was zu entdecken übrig liegt. entdeckt werden zusammenhänge, und jedem steht es frei, derselben eine anzahl zu entdecken.
wenn kunst sichtbar macht, entdeckungen also publiziert oder provoziert, ist sie entweder Wissenschaft oder exhibition; sie ist modell oder dokument: dem höflichen interesse am standpunkt oder an der emotion im vorhinein versprochene belohnung. so erklärt sich, dass verständnis auf kunst stösst; kunstwerke sind ,arbeiten‘ der künstler.
ist das kunstwerk ergebnis eines spiels, dann ist es aufforderung zum spielen. die prätentionen schwinden, der hintergrund bleibt: die geschichte und deren erschliessung des zeitgeists.
entkleidet vom mythos, reduziert es sich schliesslich zu schlichter begebenheit; das gleichnis ohne deutung ist immer noch referat. nimmt man ihm darüber hinaus die triviale bedeutung, so bleibt das strukturmodell und die experten tüfteln. barock, ein ereignis als abbildung zu interpretieren!
der kritik ist die art deutung der gattung, das exemplar abbild des sachverhalts; was wunder, dass die ebenen der sprache unbesehen ebenen der wirklichkeit zu werden pflegen! vor derart vielen wirklichkeiten des werks stehen wir und wählen, entdecken, was uns bekannt und übersehen, was uns verborgen ist: vorallem die tatsache, dass uns die standpunkte, zueinander komplementär, sophistisch ihre unschärferelationen verbergen.
ich fordere den teilnehmer am hier arrangierten sachverhalt zu den folgenden massnahmen auf:
1. betrachtung eines der exponierten objekte.
2. betrachtung des objektes in verbindung mit den anderen exponaten.
3. bewegung im lokal.
4. besetzung verschiedener standpunkte.
5. wahrnehmung der möglichkeit, stellungnahmen zu vermeiden.
6. äusserung von kommentaren erst im vertrauten kunstgespräch mit freunden.

anfang 1961 erhielten achleitner und ich von ulrich baumgartner den auftrag, für die kapfenberger kulturtage, die zum grossteil von den österreichischen böhlerwerken getragen wurden, einen einakter zu schreiben, der etwas mit dem gesamtthema „die technik als erlebnis der modernen kunst“ zu tun haben sollte. wir gingen an diese aufgabe auf unsere weise heran. das thema einfach ,poetisch‘ verbrämt zu reflektieren, womöglich noch in einer aufgesetzten fabel, kam für uns nicht in betracht. wir waren uns darüber klar, dass die aktualität künstlerischer arbeit, um als eine solche betrachtet zu werden, nicht bloss eine thematische, sondern vielmehr eine substantielle sein muss, die sich in den mitteln und verfahrensweisen, in der handhabung des materials selbst (in unserem falle also der sprache – speziell der ,sprache der technik‘) dokumentiert. das wussten schon die futuristen und auch sie nicht als erste. nur die meisten unserer kritiker hatten das noch nicht begriffen und zeterten nach der uraufführung unseres stückes SUPER REKORD EXTRA 100 am 13. mai 1961 in gewohnter überheblichkeit über eine „Diskriminierung des (statt richtig ihres) Theaters“.
im juni führte die wiener studentenbühne die arche kosmologie, acht kurze stücke von konrad bayer und gerhard rühm auf. unter diesem sammeltitel hatten bayer und ich unsere kurzen stücke zusammengestellt, um sie bei gelegenheit als buch herauszubringen. bei dieser aufführung handelte es sich nur um eine auswahl. – im august wurde in schweden rund oder oval uraufgeführt.
nachdem ich mich schon 1957 erfolglos um eine unterstützung für das projekt einer publikationsreihe progressiver literatur bemüht hatte, versuchte ich es 1961 nochmals. dr. alfred weickert, sektion für kultur im unterrichtsministerium, hatte mich in einer halböffentlichen diskussion über das „streuungsprinzip“ der demokratischen kunstförderung (ich hatte erklärt, dass wir davon ausgeschlossen würden) ausdrücklich zu einem neuen ansuchen ermuntert. achleitner, bayer, wiener und ich legten die ersten hefte der reihe fest, holten genaue druckkostenvoranschläge ein, ich schrieb ein neues exposé – diesmal sollte es sich nur noch um eine formalität handeln. die sache lief vielversprechend an, doch nach einigen wochen kam die ablehnung. (gomringer hatte nichtsahnend ein belegexemplar meiner soeben erschienenen konstellationen ins unterrichtsministerium geschickt: man sah mit schrecken, was da bald subventioniert worden wäre.) meine frage, ob wir österreich den rücken kehren müssten, um mit einigen erfolgschancen weiterarbeiten zu können, wurde offensichtlich ,positiv‘ beantwortet. das subventionsbudget floss weiter ausschliesslich leuten wie hofrat professor felmayer für seine provinzielle reihe neue dichtung aus österreich (bereits über 100 bändchen) im berglandverlag zu.
mit öffentlicher hilfe war also nichts zu machen. wir überlegten, wie wir mit eigenen mitteln uns ein publizistisches organ schaffen könnten; mit rotaprintabzügen wollten wir uns erst gar nicht einlassen, eine druckerei konnten wir aus eigenen kräften nicht bezahlen. bayer kam über diesen punkt mit gerhard lampersberg ins gespräch, der bereit war, die kosten einer zeitschrift zu tragen. so wurde unter der redaktion bayers die edition 62 gegründet. zwei nummern erschienen in kurzem abstand. obgleich sie bald vergriffen waren, war das defizit so hoch, dass die schon vorbereitete dritte nummer nicht mehr herauskam.
wir hatten in münchen kontakt mit den herausgebern der zeitschrift nota, gerhard von graevenitz und jürgen morschei, aufgenommen. für die nummer 5 war eine dokumentation der wiener gruppe geplant, aber mit der nummer 4 ging die zeitschrift ein.
nachdem kurt fried in ulm in seiner galerie studio f, meine visuellen texte ausgestellt hatte (september 1962), führte das ulmer theater als ersten ,podiumsabend‘ neben stücken von ionesco, spoerri, kriwet und pörtner mein stück gehen auf, das ich auf ermunterung von claus bremer geschrieben hatte („versuchs mit festgelegten und nicht festgelegten aufführungen“). ich begann mich nach möglichkeiten umzusehen, in deutschland zu bleiben.
der „starke toback“, eine gemeinschaftsarbeit von bayer und wiener, erschien in paris, in der dead language press.
eine gewisse unruhe machte sich bemerkbar. eine fast beklemmende ungeduld darüber, noch in wien festzusitzen; zumindest bei bayer und mir. artmann hatte österreich 1960 verlassen. wir fühlten uns hier abgeschnitten, auf verlorenem posten. von einigen wenigen abdrucken in zeitschriften und deutschen anthologien abgesehen, häufen sich unsere unpublizierten manuskripte in der schublade. wir haben hier keine chance. rundfunk, fernsehen, verlagswesen beherrscht ein arroganter provinzialismus. ,avantgardisten‘ sind von vornherein suspekt, die sollen doch gleich ins ausland gehen, in österreich brauch ma des ned.
animiert durch die berichte artmanns fuhr bayer nach berlin. dort erschien im selben jahr (1963) in dem kleinverlag wolfgang fietkau sein stein der weisen. nach seiner rückkehr erzählte er auch von dem erst kürzlich gegründeten gerhardt verlag, der vielversprechend mit max ernst und bellmer begonnen hatte und sich für seinen roman, der in arbeit war und den kopf des vitus bering interessiere. daraus sollte aber noch nichts werden. mitte juni fuhren wir gemeinsam nach berlin. wir fanden sogleich kontakte, bekamen lesungen im rundfunk. in der vorstellung, die publizistisch verlorenen jahre nun auf jeden fall aufholen zu müssen, fuhr bayer zur tagung der gruppe 47. dort lernte er ledig-rowohlt kennen, der ihm einen vertrag für den roman der sechste sinn gab. walter, damals noch in olten, übernahm den vitus bering und wollte danach auch den wiener gruppenband die mustersternwarte bringen. das eis schien gebrochen zu sein.
in wien, wieder im keller, führte das studio experiment am lichtenwerd im rahmen der wiener festwochen im juni nach einem stück von audiberti erstmals artmanns la cocodrilla und bayers bräutigall & anonymphe auf. 1962 war hier auch mein weg nach bern gebracht worden.
die offizielle österreichische literaturzeitschrift wort in der zeit wagte es erstmals (2/64) bayer und mich mit 18 seiten text vorzustellen. da gerieten aber die lokalmatadoren ausser rand und band und es hagelte protestbriefe, die die redaktion auf mehreren seiten treuherzig „zur diskussion“ stellte (7–8/64). tragikomisch, die giftige hilflosigkeit dieser prämiierten datteriche verschiedener altersstufen, akut wohl dadurch, dass sie trotz jausensackerl und schlafwagenbillett vom minoritenplatz über passau nicht hinauskommen. der vertrag des verantwortlichen redakteurs, gerhard fritsch, lief jedenfalls damit ab – ohne angabe des grundes natürlich.
etwa von 1959/60 an hatte sich die kollektive zusammenarbeit in sich überschneidende co-gruppen aufgelöst. wiener distanzierte sich von seinen bisherigen arbeiten in einem stadium allgemeiner skepsis, die für eine ,konstruktive‘ zusammenarbeit nicht gerade förderlich war. er lehnte es damals ab, überhaupt noch etwas und schon gar nicht ,literarisches‘ zu produzieren. bayer wirkte vermittelnd. während er mit mir an der operette der schweissfuss zu arbeiten begonnen hatte, die, wenn auch mit grossem vergnügen, einer gewissen „angefressenen“ stimmung entsprang, animierte er wiener zu gelegentlichen gemeinschaftsarbeiten „starker toback“, „folgen geistiger ausschweifung“) und zur fortsetzung seines ende 1962 begonnenen romans die verbesserung von mitteleuropa. um diese zeit hatten sich unstimmigkeiten, sofern es nach solchen ausgesehen haben sollte, als gegenstandslos erwiesen. emotionelles spielte schliesslich in unseren beziehungen keine nebensächliche rolle. wir waren intime freunde, ein verschworenes team und reagierten dementsprechend empfindlich aufeinander. unsere gemeinschaft vertrug vorbehalte schlecht. entweder man wich sich misstrauisch, „angerührt“ aus, oder steckte dauernd zusammen. wiener und bayer huldigten zuletzt einem extremen individualanarchismus (sie selbst lehnten alle bezeichnungen ab), dem ich mich nur bedingt anschliessen konnte. die kritik, die skepsis an der sprache bewog mich nicht zur verneinung der kommunikation, sondern zu einer neueinschätzung der möglichkeiten innerhalb ihrer aufgeworfenen grenzen. denn, wie man sieht, lässt sie sich, zumindest, ja doch noch dazu gebrauchen, auf ihrem rücken und nicht ohne bravour, die attacken gegen sie zu reiten. und siehe da, formulieren macht spass, und schon erweist sich der kampfplatz als feld der ästhetik. und woanders hab ich mich auch nicht bewegt. und wir sitzen im hawelka oder bei konrad und machen neue pläne. konrad legt uns das programm einer „festwoche der wiener gruppe“ vor, wie er sichs gedacht hat. uraufführungen der kurzen stücke artmanns, der kosmologie, kinderoper, schweissfuss alles das, was früher einmal geplant und nicht ausgeführt worden war. ausstellungen, aktionen, filmvorführungen – bayer hatte in filmen von peter kubelka und ferry radax gespielt und auch am drehbuch von sonne halt (ferry radax) mitgewirkt. aber wer soll das ganze finanzieren und – organisieren? in dieser zeit begründeten wir die tikletie, über die wir uns aber weder öffentlich noch freunden oder unseren frauen gegenüber zu äussern beschlossen – sie sollte für unsere weiteren handlungen bedeutsam werden.
bayer und ich versuchten ein neues lokal aufzumachen. karger wollte uns einen vergammelten abstellraum der adebar unmittelbar neben dem ehemaligen strohkoffer, zur verfügung stellen, wenn wir ihn verwendungsfähig machen würden – wie, blieb uns überlassen. der raum war klein, dafür sehr hoch (über das waagrechte lichtloch, dickes glas, konnte man die passanten der kärntnerstrasse eilen sehen), düster und feucht. von den ausserhalb der wände laufenden rohrlabyrinthen, die wir durch blaue ölfarbe zu auffälliger wirkung brachten, tropfte wasser. die wände liessen wir knallrot anstreichen. im dorotheum ersteigerten wir ein bild napoleons (er steht dort mit grosser geste, verbannt, von wellen umspült, auf einem felsenriff). das war das erste stück unserer einrichtung und nach ihm sollte das lokal auch heissen: napoleon, alte kaffeehaustische und wacklige, halb zerschlissene plüschfauteuils trieben wir auch auf (karger bestand wegen der konsumation auf der aufstellung von tischen). mehr als zwanzig personen konnten wir da nicht hineinpferchen, wir mussten also unsere veranstaltungen oft wiederholen, damit sie alle interessenten sehen konnten. hier planten wir auch eine aufführung der kinderoper; soviele einladungen sollten verschickt werden, dass auf grund des winzigen raumes bei dem erwarteten zustrom ein chaos ausbrechen würde. aber vorallem wollten wir hier regelmässig chansons vortragen, denn wir wollten auch etwas einnehmen. für die eröffnung des lokals schrieben wir gleich im keller, fröstelnd, mit vorgehaltener taschenlampe, ein empfangschanson: „tritt ein und werde krank“. jedenfalls war der keller ein symbol unserer situation hier. ein klavier fehlte noch und die wände wollten nicht trocknen – trotzdem wurde schon an einen eröffnungstermin gedacht. doch im letzten moment gab es schwierigkeiten mit der baupolizei, auch konnten wir uns über unseren gewinnanteil mit karger nicht einigen, die sache vermoderte.
1964 entfaltete jeder für sich aktivitäten, notwendige veränderungen bereiteten sich vor, wenn ihr ziel auch noch ungewiss war. – uzi förster wollte zur eröffnung seines neuen nachtlokals chattanooga, am graben 29, einige spektakuläre veranstaltungen starten. bayer schien das eine gelegenheit zur langgeplanten aufführung der kinderoper. wir hatten nichts dagegen (wir spielen uns in dem stück selbst). er bemühte sich um die einladungen, malte die plakate. nachdem wir am 9. april einen chansonabend gemacht hatten, fand also am 10. um 23 uhr die uraufführung der kinderoper statt. der saal war zum bersten gefüllt – bis aufs podium drängten sich die zuschauer. die stimmung übertraf fast noch die unserer cabarets. da wir laut manuskript während der aufführung essen und trinken mussten und letzteres sehr reichlich taten und auch das publikum darin nicht zurückhaltend war (es wurde während der aufführung serviert – so gut das ging), löste sich schiesslich alles in trubel und johlen auf, spendierter champagner knallte, übersprudelte gleich aus der flasche den zu kleinen mund, gläser flogen durch den saal, ich sah’s über mir flitzen, ich lag besoffen am boden. – dieses gemeinsame auftreten der gruppe nach einer längeren pause wurde zu ihrer abschiedsvorstellung. achleitner wendete sich wieder ganz der architekturtheorie zu. bayer zog sich ins schloss hagenberg in niederösterreich zurück, um an seinem roman weiterzuarbeiten. wiener hatte seinen job bei olivetti und arbeitete an seinem roman. ich übersiedelte zwei tage nach der aufführung nach berlin. in the times literary supplement, september 3/1964 erschien ein rückblickender artikel bayers über „die wiener gruppe“.
als bayer und ich uns bei der frankfurter buchmesse wiedertrafen, viel gesprochen hatten, fassten wir pläne für eine erneute zusammenarbeit unter den veränderten bedingungen – sie sollte wie bisher nicht mehr an einen ort gebunden sein. aber schon einen monat danach beging konrad bayer selbstmord.

Gerhard Rühm, Vorwort, August 1967

 

Beiträge zu diesem Buch:

Reinhard Priessnitz: Provokationen. Texte und Lyrik
Neues Forum, Heft 171–172, 1968

Otto Breicha: Wien hat darüber nur gewitzelt
Kurier, 4.1.1968

Helmut Salzinger: Provokation macht Spaß
Die Zeit, 8.3.1968

Jürgen P. Wallmann: Gekonnte Happenings
Die Welt der Literatur, 28.3.1968

Alfred Treiber: Der protokollierte Mythos
Die Furche, 30.3.1968

Otto Breicha: Zur Wiener Gruppe
Literatur und Kritik, Heft 38, 1969

Lew Ginsburg: Wiener Gruppe – totale Leere…
Neues Forum, Heft 184/2, 1969

O. N.: Die Wiener Gruppe
Neue Zürcher Zeitung, 18.5.1985

O. N.: Literarischer Experimentierclub
Nürnberger Zeitung, 8.6.1985

Eckart Früh: Provokation von gestern
Neue Zürcher Zeitung, 12.6.1985

Riki Winter: Erinnerung an Wiener Gruppe
Neue Zeit, 18.6.1985

Gisela Bartens: Die Wiener Gruppe beisammen
Südost Tagespost, 19.6.1985

Bernhard Praschl: Die Geburt von Literatur jenseits der Tradition
Kurier, 20.7.1985

Jörg Drews: Denkmal der Wiener Gruppe
Süddeutsche Zeitung, 7.8.1985

O. N.: Die Wiener Gruppe mit Bayer
Die Welt, 24.8.1985

vw: Ein moderner Klassiker
Kleine Zeitung, 27.9.1985

G. Kriwanek: Dokumente zum Einfluß der Wiener Gruppe auf die Nachkriegsliteratur
Volksblatt, 27.10.1985

Andreas Friedemann: Erinnerungen an Wiener literarische Cabarets
Münchner Merkur, 10.12.1985

Ulrich Janetzki: Man ging gern zu weit
Der Tagesspiegel, 12.1.1986

 

Gerhard Rühm und der Mythos Wiener Gruppe

die anthologie

lieb er alt er fr(a)itz. kennst mi no? i bin da rühm. seawas! i leb no – und wia r a no. mein guter, es gibt da eine reihe ernster fragen bezüglich und in bezug auf unseren paperbackband beim rowi.

1966 korrespondierte Gerhard Rühm von seiner neuen Wahlheimat Berlin aus mit Friedrich Achleitner über einen geplanten Sammelband zu den Arbeiten aus der gemeinsamen Wiener Zeit. 1967 erscheint dann das „paperbackerl“ herausgegeben von Gerhard Rühm unter dem Titel Die Wiener Gruppe bei Rowohlt. Die Anthologie ist retrospektiv. Sie enthält Texte und Gemeinschaftsarbeiten von Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm und Wiener aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren sowie ein von Rühm verfaßtes Vorwort zur Geschichte dieser Wiener Gruppe.
Rühm erzählt in seinem Vorwort chronologisch geordnet über die künstlerischen Anfänge, Möglichkeiten und Aktivitäten einer Generation der Jungen, die sich radikal vom traditionellen Kunstverständnis löst, sich dem herrschenden Rezeptionsverhalten verweigert und eine neue Vorstellung von künstlerischer Produktion entwirft. Rühm thematisiert nicht nur das soziokulturelle Umfeld, die Künstler, die Kritiker, das Publikum, sondern auch die ästhetischen Traditionen, denen sich diese Gruppe verpflichtet fühlte. Er schreibt die Geschichte einer ersten österreichischen Avantgarde-Bewegung, die sich in den frühen fünfziger Jahren formierte und sich 1964 mit dem Tod von Konrad Bayer auflöste, einer Avantgarde, die im literarischen „Untergrund“ lebte und vom offiziellen österreichischen Literaturbetrieb zur Zeit ihrer Existenz angefeindet oder weitgehend ignoriert wurde.
Die Resonanz, die diese Anthologie nach ihrem Erscheinen Ende der sechziger Jahre auslöste, war und ist beachtlich. Diese erklärt sich nicht nur auf Grund der Zugänglichkeit der bisher größtenteils unveröffentlichten Texte, sondern vor allem wegen der erzählten Gruppen-Geschichte im Vorwort. Mit seinem Blick auf die fünfziger Jahre hat Gerhard Rühm für zahlreiche literarhistorische Darstellungen eine Folie für die künstlerischen wie kulturpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Tradition und Avantgarde in der österreichischen Nachkriegsliteratur geboten. Sein Vorwort wurde im Laufe der Zeit für Forscher und Kritiker eine beliebte und wiederholt referierte literarhistorische Quelle für die kulturpolitischen Verhältnisse in den fünfziger und frühen sechziger Jahren. Besonders die von Rühm gelieferte Geschichte dieser Avantgarde-Gruppe verfestigte sich über Jahrzehnte hinweg im literarischen Diskurs zu Mythen und Legenden. Der von ihm festgelegte zeitliche Rahmen für das künstlerische Wirken der Gruppe, seine Charakterisierung der einzelnen Gruppenmitglieder, die Beschreibung der Arbeitsatmosphäre, die von ihm gezeichnete Traditionsbildung und die kommentierten „Publikationsskandale“ mit den „guten“ und „bösen“ Kritikern, das Ende der Gruppe, das alles findet sich über Jahrzehnte hinweg in der Auseinandersetzung mit der Literatur dieser Zeit wieder.
Schon der publizierte Briefwechsel zwischen Rühm und Achleitner aus den sechziger Jahren gibt Aufschluß über die Genese der Anthologie und über Rühms Versuch, ein möglichst kohärentes Bild der Gruppengeschichte zu (re-)konstruieren. Daß das Gedächtnis von Gerhard Rühm bezüglich der Gruppengeschichte, die er als Vorwort dem Paperbackband bei Rowohlt voranstellen wollte, entschieden Nachhilfe brauchte, zeigt sich deutlich in der Korrespondenz, die er vor der Fertigstellung des Bandes von Berlin aus mit Friedrich Achleitner führte. Dieser sollte sich genau erinnern, wann sie sich „BEWUSST“ kennengelernt haben, wann eine Zusammenarbeit begann, welche Pläne und Kontakte bestanden. Denn Rühm war sich über die Wirkung einer stringent erzählten Geschichte bewußt, wenn er meinte:

ich mach s ja für uns alle und für die hochgeschätzte Nachwelt natürlich und sowie s jetzt erscheint, so ist es dann da!

Und damit sollte er recht behalten. Die Rezeption der Wiener Gruppe ist ab dem Erscheinen des Rowohlt-Bandes bis in die unmittelbare Gegenwart geprägt von den produktions- und darstellungsästhetischen Vorgaben Gerhard Rühms. Denn weder seine Gruppengeschichte noch seine Kommentare zu den methodischen Verfahrensweisen der Wiener Gruppe wurden bisher in der Sekundärliteratur systematisch hinterfragt.

Die Wiener Gruppe in den Printmedien
Grundsätzlich feststellbar wird eine über den österreichischen Raum hinausreichende Rezeption der Wiener Gruppe erst mit der ersten Ausgabe der Anthologie 1967 im Rowohlt-Verlag. Bis dahin war die mediale Auseinandersetzung mit den Autoren fast ausschließlich auf Österreich beschränkt. Richtig verorten läßt sich die Rezeption erst ab 1958, als Dorothea Zeemann in einem Zeitungsartikel im Neuen Kurier anläßlich einer Lesung von Achleitner und Rühm den Begriff „Wiener Dichtergruppe“ verwendete. Bis Ende der fünfziger Jahre sprechen die anderen Kritiker durchwegs nur von den einzelnen Autoren. Vor allem Artmann wird anläßlich der Veröffentlichung von med ana schwoazzn dintn positiv besprochen. Achleitner, Bayer und Rühm laufen in dieser Zeit unter Etikettierungen wie „Epigonen“, „Ent-Artmänner“ oder bestenfalls „junge Dichter“. Oswald Wiener wurde zu dieser Zeit kaum in den Besprechungen erwähnt.
Der Begriff der Gruppe setzt sich dann langsam Mitte der sechziger Jahre in der österreichischen Medienlandschaft durch. 1964 greift ihn Konrad Bayer in seinem Artikel über „hans carl artmann und die wiener dichtergruppe“ und in seiner englischsprachigen Publikation „The Vienna Group“ im Times Literary Supplement auf und setzt ihn programmatisch ein. Eine systematische und internationale Zuordnung der Freunde unter dem Etikett Wiener Gruppe erfolgte aber erst mit dem Erscheinen der gleichnamigen Anthologie 1967. Ab diesem Zeitpunkt wurde dieser Begriff, dem nun auch eine passende Gruppengeschichte zugeordnet war, zum Synonym für die Rezeption eines literarhistorisch beschreibbaren Phänomens.
Die Kritiken zur ersten Ausgabe der Anthologie 1967 erschienen größtenteils in bundesdeutschen Medien und sind inhaltlich durchgängig anerkennend. Aber auch Österreich meldete sich zu Wort. „Wien hat darüber nur gewitzelt“, kommentiert Otto Breicha die Situation rund um die Wiener Gruppe in seiner Besprechung der Anthologie im Kurier. Er kritisiert die Wiener literarische Öffentlichkeit, thematisiert den Skandal rund um die Veröffentlichung von Bayer- und Rühm-Texten in der Literaturzeitschrift Wort in der Zeit 1964 und vermißt insgesamt die Würdigung der Wiener Gruppe in Österreich. Helmut Salzinger referiert in seiner Besprechung in der ZEIT größtenteils die Gruppen-Geschichte in Anlehnung an Rühms Vorwort, betont aber den „Anspruch auf Beachtung, auf Interesse sowohl wie Sympathie“ für die Wiener Gruppe, „denn ohne Bayer hätte Handke es schwerer gehabt“. Auch Jürgen P. Wallmann erzählt nach Rühms Vorlage einiges über das Gruppen-Leben, über die poetischen Verfahrensweisen der Autoren und vergegenwärtigt dem Leser die Happening-Atmosphäre im Wien der fünfziger Jahre.
Beim Erscheinen der erweiterten Neuausgabe der Anthologie (1985) sind die Rezensionen zahlreicher, internationaler gestreut.
Die Kritiker sind sich über die Wichtigkeit der Neuauflage größtenteils einig, was als Anhaltspunkt für die erfolgte Kanonisierung der Wiener Gruppe ab diesem Zeitpunkt gelten kann. „Endlich ist diese Anthologie, die man getrost als Katechismus experimenteller Schreibweisen bezeichnen kann, wieder im Buchhandel“, meint Ulrich Janetzki im Berliner Tagesspiegel, der seinen Artikel fast ausschließlich der Gruppen-Geschichte widmet. Auch Jörg Drews in der Süddeutschen Zeitung freut sich, daß dieser „historische Band […] wieder greifbar ist“, bedauert aber, daß „der Ernst der Sache kaum noch verstanden wird“. „Die Geschichte hat ihr Machtwort gesprochen. Die ,Wiener Gruppe‘ war gewesen“, mahnt Riki Winter in der Neuen Zeit anläßlich der Neuerscheinung der Anthologie. Die Zeit der sentimentalen Reminiszenzen sei der akademischen Aufarbeitung gewichen. Wurden in den fünfziger und frühen sechziger Jahren vor allem die Texte und literarischen Verfahren der Gruppe thematisiert, kritisiert und die Autoren persönlich attackiert, so hat sich das Stimmungsbarometer ab Mitte der achtziger Jahre auf lauwarm eingestellt. Keiner der Kritiker prüft die Texte der Anthologie auf ihre literarische Wertigkeit. Es herrscht Einigkeit darüber, daß die Wiener Gruppe Teil der Literaturgeschichte geworden ist. Dort soll sie bleiben. Eben „Provokation von gestern“, wie Eckhart Früh in der Neuen Zürcher Zeitung die Neuauflage der Anthologie kommentiert.
Neue mediale Präsenz erhielt die Wiener Gruppe Ende der neunziger Jahre durch ihre Präsentation von Peter Weibel bei der Biennale 1997 in Venedig. „Avantgarden von gestern und vorgestern“, kommentiert Michael Cerha im Standard. „Venedig: Die Alten kommen“, warnt Henriette Horny lakonisch im Kurier. Öffentlich thematisiert wurde in den österreichischen Medien vor allem die Aktualität dieses Österreich-Beitrags für eine internationalen Kunstausstellung. Peter Weibels Beitrag zur Historisierung und Rekonstruktion einer Moderne durch das Methodenarsenal des Cyberspace löste teilweise öffentliches Befremden aus. Hubert Christian Ehalt kommentierte die Ausstellung in einem Gastkommentar in der Presse als „Beitrag zu einer falschen Perspektive“:

Die österreichische Präsentation einer Literaturgruppe der fünfziger Jahre auf der Biennale vermittelt zwei Aussagen, die mir beide nicht akzeptabel erscheinen: 1. Die österreichische bildende Kunst hat in der Gegenwart nichts zu bieten. – 2. Der Beitrag ist so zugleich Bestätigung der These, daß Kunst in Österreich immer nur ein Museum der verkannten Genies von gestern ist.

Ehalt bezichtigt Weibel als heutigen Funktionär einer gestrigen Avantgarde der „Perpetuierung“ der österreichischen Rückwärtsgewandtheit im Umgang mit Kultur. Weibel hingegen sieht gerade das Motto der 47. Biennale „Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“ als Herausforderung für die Präsentation der Wiener Gruppe. Er verweist auf die bislang unbeachtete Pionierrolle der Wiener Gruppe für viele Strömungen moderner Kunst. In einem internationalen Rahmen sollte nun endlich auf ihre Antizipation von Produktionsmethoden aufmerksam gemacht werden, die später in Kunstrichtungen wie Fluxus, Happening, Body Art und Performance auftauchten. Daß diese internationale Präsentation der Wiener Gruppe auch Nachwirkungen auf die heimische Kunstszene hatte, beweist die im darauffolgenden Jahr organisierte Wiener-Gruppe-Schau im neu eingerichteten Museumsquartier in Wien. „Späte Ehre für die Pioniere“ in der Heimat, vermerkt Erwin Melchart in der Neuen Kronen Zeitung und verweist in Referenz auf den Biennale-Beitrag auf die Wichtigkeit der Alt-Avantgardisten.

Mythos und wissenschaftliche Praxis
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Wiener Gruppe als einem literarhistorischen Phänomen setzt ebenfalls erst mit der Veröffentlichung der Anthologie ein, wächst im Laufe der siebziger, verdichtet sich vor allem in den achtziger Jahren und erzielt einen Höhepunkt in den späten neunziger Jahren. Die Diskussion über die Wiener Gruppe erfolgte bis in die unmittelbare Gegenwart vor allem über Abhandlungen in fachspezifischen Periodika und Sammelbänden. Wissenschaftliche Monographien gibt es vereinzelt zu den Autoren, aber zum Phänomen der Gruppe und zu ihren Gemeinschaftsarbeiten ist bislang nur die Dissertation von André Bucher über „Die szenischen Texte der Wiener Gruppe“ am Markt. Bucher wie auch andere Forscher verweisen auf ein offensichtliches Forschungsdesiderat, da eine systematische und ausführliche wissenschaftliche Analyse des Gruppenphänomens und ihrer Gemeinschaftsarbeiten noch ausstehe.
Die wissenschaftliche Diskussion erfolgte bisher in einer stattlichen Anzahl von Aufsätzen vor allem hinsichtlich einer literarhistorischen Zuordnung. Mehr als die Hälfte der Beiträge stammt von österreichischen Wissenschaftlern. Sie verweisen auf die Gruppe vor allem unter dem Aspekt der Genealogie einer österreichischen modernen Literatur. Die Untersuchungen reichen anfänglich von Polarisierungen zwischen Tradition und Avantgarde bis hin zu einer Traditionsbildung der österreichischen Moderne. Vielfach wird in den Untersuchungen auf die besondere österreichische kulturpolitische Situation in den fünfziger Jahren hingewiesen. Dabei fällt die Referenz nicht selten auf Gerhard Rühms Vorwort, und Einschätzungen und Zuordnungen wiederholen sich. Diese Vorgangsweise ist aber nicht nur für die österreichische Auseinandersetzung mit der Wiener Gruppe kennzeichnend, sondern bestimmt auch die übrige deutschsprachige wie anglo-amerikanische Rezeption. Immer wieder finden sich Sätze wie: Artmann kommt von der Schwarzen Romantik, Bayer vom Surrealismus, Rühm ist der Konstruktivist, Artmann scheidet nach dem Erfolg med ana schwoazzn dintn aus der Gruppe aus. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch Interpretationsversuche und Analysen von Oswald Wieners „cool manifest“, das keiner der Wissenschaftler vor Augen gehabt haben kann, da es nur in den Beschreibungen von Bayer, Rühm und Wiener existiert. Zur Sprache kommen die „guten“ und die „bösen“ Kritiker, die Skandale rund um die Veröffentlichung von Texten von Rühm und Bayer in der Literaturzeitschrift Wort in der Zeit, wobei immer wieder auf die „Entlassung“ von Gerhard Fritsch als Redakteur anläßlich der Publikation von Texten Rühms und Bayers hingewiesen wird. Heißt es bei Rühm noch „der vertrag des verantwortlichen redakteurs, gerhard fritsch, lief jedenfalls damit ab – ohne angabe des grundes natürlich“, so spricht Rainer Fischer 1980 in seiner Darstellung der Sache bereits von der „Kündigung des Redakteurs Gerhard Fritsch“. Auch nach Kristina Pfoser-Schewig und Ursula Weyrer (1985) mußte Frisch „anläßlich der ernsten Kontroverse als verantwortlicher Redakteur von Wort in der Zeit den Hut […] nehmen“. Gerhard Fritsch wurde tatsächlich vom Stiasny-Verlag, der die Zeitschrift herausgab, am 30. Juni 1965 gekündigt. Der Grund für die Vertragsauflösung war aber nicht das Engagement von Gerhard Fritsch für die jüngere Autorengeneration, sondern der Konkurs des Verlags.
Bei den bundesdeutschen Forschern läßt sich eine weniger exemplarische, mehr theoretische Auseinandersetzung mit der Wiener Gruppe unter dem Gesichtspunkt Kunst und Gesellschaft beobachten. Modelle von Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Niklas Luhmann werden unter den Aspekten Avantgarde, Kollektivkunst und soziale Systeme diskutiert. Der literarhistorische Zugang in der bundesdeutschen Rezeption betont eher die Zuordnung der Gruppe zu internationalen Strömungen konkreter und experimenteller Literatur.
Interessant zu verfolgen ist die Rezeption der Wiener Gruppe im anglo-amerikanischen Bereich. Neben expliziten Verweisen auf die „Nazistimmung“ in den fünfziger Jahren“, findet sich eine flexible Verwendung des Gruppenbegriffes. Eine von Rosmarie Waldrop herausgegebene Anthologie The Vienna Group enthält Texte von Artmann, Achleitner, Bayer, Jandl, Mayröcker und Rühm, ohne daß ein Vorwort Auskunft über die Kriterien für die Auswahl der Autoren und die Zusammenstellung der Texte gibt.
Ab Ende der achtziger Jahre lassen sich Ansätze für ein rezeptionsanalytisches Forschungsinteresse orten. Der Niederländer Eric Vos verweist auf das Problem der Gruppen-Geschichte und versucht Typologien der Rezeption herauszuarbeiten. Gisela Steinlechner bedient sich in einem 1995 erschienen Aufsatz rezeptionsgeschichtlicher, diskursgeschichtlicher und psycho-analytischer Verfahren, um der „ehrenwerten Rebellen“ habhaft zu werden. Leider gibt sie wenig Einsicht in ihre Quellen, aus denen sie ihre Fragen und Thesen entwickelt hat. Originellerweise legt Steinlechner das „von einer nachgetragenen Konstruktion“ ausgehende „Phantom“ Wiener Gruppe in der Folge ihrer Abhandlung auf die Freudsche Couch und entlockt dem „Familienroman der Wiener Gruppe […] den Wunsch nach einer Verwandtschaft […], die das Eigene nicht als unentrinnbares Schicksal aufoktroyiert, sondern auch Fremdes, Unerwartetes, Polyglottes in die Nachkommenschaft einschleust“. Übergeordnete Bedeutung spricht der Wiener Literaturhistoriker Wendelin Schmidt-Dengler 1995 in seinen Bruchlinien der Wiener Gruppe zu:

Die Wiener Gruppe [wird] als ein Mythos gehandelt, ohne deren Aktionen das, was sich im ästhetischen Bereich 1968 in Österreich getan hat, nicht möglich, ja nicht einmal denkbar gewesen wäre. Und die Wirkung der Wiener Gruppe reichte in der Folge weit über die Kunstszene hinaus.

Damit bescheinigt Schmidt-Dengler der Wiener Gruppe entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der modernen österreichischen Literatur und die Vorwegnahme „von Theorien, die erst zwanzig Jahre später akademisch und öffentlich im Zusammenhang mit Literatur diskutiert wurden“. In diesen Tenor stimmt dann auch Peter Weibel 1997 mit seinem Beitrag zur Biennale ein, wo die Bedeutung der Wiener Gruppe nicht nur in einen nationalen, sondern in einen internationalen Kontext gestellt wird.
Mit Referenz auf die Genealogie der österreichischen Moderne erleben Gerhard Rühm und die Wiener Gruppe als Vertreter einer frühen Avantgarde in den neunziger Jahren ihre verspätete Anerkennung im österreichischen Literaturbetrieb. Sie werden zum Repräsentations- und Ausstellungsobjekt einer österreichischen künstlerischen Identität, die sich aus der Tradition der Moderne begreift.

Über Mythen und Legenden
An der (Re-)Konstruktion der Wiener Gruppe im literarhistorischen Diskurs hatte Gerhard Rühm nicht nur als Künstler, sondern auch als Kommentator regen Anteil. Er selbst hatte in seinen Kommentartexten solche Lesarten nahegelegt, die sich im Laufe der Zeit zu Mythen verformten. Einer der Mythen rankt sich um die Existenz der Gruppe selbst:

Wenn ich von der Wiener Gruppe spreche, beziehe ich mich immer nur auf die fünf offiziellen Mitglieder, die sich zwischen 1952 und 1955 aus einem ,,Kreis avantgardistischer Künstler um den Wiener Art-Club“ zu einer Gruppe zusammengeschlossen hatten und über die Gerhard Rühm in seiner Anthologie Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener schreibt.

Die Art und Weise, wie sich Dagmar-Sonja Winkler in ihrer Festlegung der Wiener Gruppe auf die Darstellung von Gerhard Rühm bezieht, ist repräsentativ für den Umgang einer nicht geringen Anzahl von Forschern und Kritikern mit dem Phänomen der Wiener Gruppe. Daß sich die Bestimmung der Gruppe aber nicht so einfach greifen läßt, bemerkte schon André Bucher bei seiner Analyse der szenischen Texte der Wiener Gruppe. Er behilft sich damit, daß „man“ von der Wiener Gruppe spricht, „auch wenn im einzelnen, etwa bezüglich der Beteiligten und in der genauen Datierung, durchaus unterschiedliche Darstellungen existieren, die ihrerseits auf differierende Perspektiven der beteiligten Autoren selbst zurückgehen.
Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gruppenmitgliedern beziehen sich nicht nur auf Datierungsfragen und gruppeninterne Probleme, sondern überhaupt auf die Frage der Existenz der Wiener Gruppe. H.C. Artmann, der selbst von Rühm und Bayer als Leitfigur dargestellt wird, bestreitet 1972 in einem Gespräch mit Hilde Schmölzer die Existenz der Gruppe:

Es hat nie eine Wiener Gruppe gegeben. Das ist eine journalistische Erfindung. Wir haben uns nie als Gruppe gefühlt. Ich glaube ja, daß die Gruppe, die sich 1949, 1950 um die Neuen Wege gebildet hat, für die österreichische Nachkriegsliteratur viel wichtiger gewesen ist.

Und auch 1995 bekräftigt Artmann in einem Interview auf die Frage nach der Wiener Gruppe seinen Standpunkt:

Und da heißt es: „Er wurde ausgeschlossen aus der Wiener Gruppe[…] Es hat nie eine gegeben. Da ist niemand ausgeschlossen worden. Das sind so Germanistenscherze halt […] so überlieferte Sachen, die sie wo gelesen haben, daß einer das und das gesagt hat.

Gerhard Rühm spricht in seinem Vorwort zur Anthologie hingegen explizit von der Existenz einer Wiener Gruppe, die sich zwar nicht programmatisch formiert, sondern sukzessive aus einem exklusiven Gemeinschaftsgefühl von gleichgesinnten Freunden herausgebildet habe.
„Sie haben ein gewisses elitäres Verhalten an den Tag gelegt“, meint Ernst Jandl, befragt zum Thema Wiener Gruppe. Immer wieder wird im wissenschaftlichen Diskurs über den österreichischen Avantgardismus auf ihn und Friederike Mayröcker und ihre Nähe zur Wiener Gruppe hingewiesen. Jandl, der gern als „Onkel“ der Wiener Gruppe gehandelt wird, hat sich selbst hinlänglich über seine Beziehungen zu Rühm, Artmann, Bayer und Wiener geäußert. Er spricht über seinen und Mayröckers Kontakt zu Artmann und Rühm, über den Austausch literarischer Texte und über die Reserviertheit von Bayer und Wiener seinen Arbeiten gegenüber. Jandl erwähnt gemeinsame Lesungen, Mißstimmigkeiten und Eifersüchteleien von Rühm wegen der Publikumswirksamkeit seiner Texte. Für ihn läßt sich das „Kapitel“ Wiener Gruppe letztlich nur über eine klare Abgrenzung auf der Grundlage ihrer Gemeinschaftsarbeiten definieren:

Die eigentliche Wiener Gruppe waren fünf Leute: Artmann, Bayer, Achleitner, Rühm und Wiener; die sind dadurch definiert, daß sie durch einige Jahre hindurch in verschiedener Zusammensetzung Gemeinschaftsarbeiten gemacht haben. Da gibt es ein dickes Buch von Rühm, wo er das belegt durch die Texte, die sie miteinander gemacht haben. Und wer an diesen Gemeinschaftsarbeiten nicht mitgemacht hat, gehört nicht zur Wiener Gruppe.

Artmann negiert das Bestehen der Gruppe, spricht von journalistischer Erfindung, Gerhard Rühm rekonstruiert mit ihrer Geschichte eine Avantgarde-Bewegung im „restaurativen“ Wien der fünfziger Jahre. Jandl reduziert den Gruppengeist auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, eben die gemeinschaftlichen künstlerischen Produktionen. H.C. Artmann, Andreas Okopenko, Wieland Schmied sprechen von anderen avantgardistischen Gruppierungen der fünfziger Jahre, deren Einfluß auf die österreichische Nachkriegsliteratur nicht weniger bedeutend gewesen seien. Andreas Okopenko erzählt in seinen Erinnerungen über die schwierigen Anfänge österreichischer Progressiv-Literatur nach 1945 von den unterschiedlichen Kreisen, Gruppen und Formationen, die zu dieser Zeit die Kulturlandschaft um Wien prägten. Nach seiner Darstellung gab es in einer ersten Formation die Plan-Autoren, die in der 1945 wiederaufgenommen Zeitschrift Plan (1945–48) von Otto Basil publizierten, den Hakelkreis, die Weigel-Gruppe, die Autoren um die Zeitschrift Neue Wege, den Arbeitskreis um die Zeitschrift publikationen einer wiener gruppe junger autoren, den Zweiten Hakelkreis und die Avantgardisten, die sich im Umfeld des Art Club sammelten, wozu Okopenko auch die später so genannte Wiener Gruppe zählt.
Gruppen und Kreise von Modernisten und Avantgardisten hat es nach unterschiedlichen Darstellungen in den fünfziger Jahren mehrere gegeben. Auch der Begriff einer Wiener Gruppe scheint in der Anwendung auf verschiedene Phänomene bereits in der journalistischen Öffentlichkeit präsent gewesen zu sein. Er wurde zunächst weder von den Autoren noch den Rezensenten einer einzelnen konkreten Formation zugeordnet. Erst 1958 faßte – wie bereits erwähnt – Dorothea Zeemann im Neuen Kurier die Freunde Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm und Wiener unter dem Begriff „Wiener Dichtergruppe“ zusammen. Diese Zuordnung setzt sich erst langsam und vor allem erst mit dem Erscheinen von Konrad Bayers Artikel über hans carl artmann und die wiener dichtergruppe und seine englischsprachige Publikation The Vienna Group im literaturwissenschaftlichen Diskurs durch. Bayer hat in seiner Darstellung besonders den Einfluß Artmanns auf die künstlerische Dynamik der Gruppe verwiesen. Er referiert die „ACHT-PUNKTE-PROKLAMATION DES POETISCHEN ACTES“ und Artmanns „MANIFEST“ zum österreichischen Staatsvertrag. Beide Texte finden sich fast wörtlich in Rühms „vorwort“ 1967 wieder. Rühm hat Bayers Artikel im wesentlichen als Vorlage für seine Gruppen-Geschichte benutzt. Bayer schreibt auch bereits über den „methodischen inventionismus“, die Dialektdichtung und die Montagen, die Rühm ebenfalls im „vorwort“ der Anthologie als die künstlerischen Verfahrensweisen der Gruppe nennt. Grundsätzlich hat sich Rühm, vor allem was die Datierungen und Chronologie der Aktivitäten betrifft, an die Vorlage von Bayer angeschlossen, bei der Charakterisierung der Gruppendynamik und der erwähnten Persönlichkeiten seine eigenen Akzente gesetzt und verstärkt auf das feindliche kulturpolitische Klima der fünfziger Jahre hingewiesen. In diesem Sinne ist die Intention von Rühms Text weitaus politischer und polemischer zu verstehen als etwa Bayers und Wieners Darstellungen der Gruppenaktivitäten.
Sieht man nun – vierzig Jahre später – den Stellenwert, der dieser Gruppe auf die Entwicklung der modernen österreichischen Literatur zugeschrieben wird, so hat sicherlich Gerhard Rühms Darstellung meinungsbildend im literarischen Diskurs gewirkt. In der wissenschaftlichen wie journalistischen Rezeption der Wiener Gruppe wird fast ausnahmslos seine Darstellung referiert. Man fragt sich nun, warum die anderen Gruppierungen der fünfziger Jahre im literarhistorischen Diskurs marginalisiert wurden. Ein Grund dafür ist sicherlich das Fehlen eines Chronisten, der mit einer Gruppengeschichte ihren Einflußbereich abgesteckt und dokumentiert hätte. Ein anderer, daß es bislang keine Veröffentlichung von Gemeinschaftsarbeiten in einem renommierten Verlag gibt. Denn erst die im Rowohlt-Verlag erschienene Anthologie mit den gesammelten Gemeinschaftsproduktionen und der dazugehörigen Gruppen-Geschichte hat die Wiener Gruppe im literaturgeschichtlichen Diskurs verankert und auch über die nationalen Grenzen hinaus publik gemacht. Daß dieser Band in der vorliegenden Form erscheinen konnte, hing zum Großteil von den Ambitionen Gerhard Rühms ab. In diesem Sinne wurde er sicherlich zum „ER-FINDER“ der österreichischen Nachkriegs-Avantgarde und legte den Grundstein für die spätere Zuschreibung einer Traditionsbildung innerhalb der österreichischen modernen Literatur. Daß Ende der sechziger Jahre die Zeit für das Erscheinen der Geschichte einer Avantgarde-Bewegung günstig war, hängt auch mit allgemeinen kulturpolitischen und sozialen Veränderungen dieser Zeit zusammen. Die Abrechnung und Konfrontation mit „den Alten“ und „dem Ungeist“ der Kriegsgeneration war bereits ein öffentliches Thema. Im literarischen Bereich brachte in den sechziger Jahren die Gründung des Forum Stadtpark in Graz mit seinem Publikationsorgan manuskripte eine entscheidende literarische wie kulturpolitische Dynamik in Gange, die schließlich in die Abspaltung der Jungen vom österreichischen Pen-Club und in die Etablierung der Grazer Autorenversammlung 1973 mündete.

Von Clubs und anderen Aktivitäten
ein jahr nach kriegsende, 1946, gründeten einige moderne maler, zum teil aus dem exil kommend, den artclub (präsident paris von gütersloh). der artclub gewann für die weitere kulturelle entwicklung in wien (also österreich) grundlegende bedeutung. er wurde zum sammelbecken aller – damals noch spärlich – fortschrittlichen künstlerischen tendenzen.

Entscheidende Impulse für die österreichische Avantgarde und das Entstehen der Wiener Gruppe wird im Diskurs immer wieder dem Art Club zugeschrieben. Der Großteil der Kritiker und Wissenschaftler verweist dabei auf Gerhard Rühms Darstellung in seinem Vorwort zur Wiener Gruppe. Rühm wiederum bezieht sich dabei, was die Frage des Kennenlernens und die Einführung der Person Artmanns betrifft, teilweise auf die Vorlage von Konrad Bayers Aufsatz über „h.c. artmann und die wiener dichtergruppe“. Auch Andreas Okopenko kommt in seiner Abhandlung über „Die schwierigen Anfänge österreichischer Progressiv-Literatur“ auf die Wichtigkeit des Art Clubs zu sprechen. Die Schwerpunktsetzung erfolgt bei den Autoren je nach Intention. Rühm berichtet in diesem Zusammenhang vom feindlichen kulturpolitischen Klima, der Gruppen- und Cliquenbildung, von Interessensschwerpunkten, die sich in diesem Umfeld herausbildeten. In Bayers Darstellung dominiert die Faszination über die Künstlerpersönlichkeit Artmann. Okopenko wiederum verwendet den Art Club als Abgrenzungs- und Zuordnungsmodell der unterschiedlichen modernistischen Kreise.

Der andere surreal-modernistische Vorstoß kam vom Österreichischen Art Club, der angeblich 1946 vor einem Dalibild entstand und im Frühjahr nach der offiziellen Gründungsversammlung vom 10. Jänner 1947 (unter dem Präsidenten Gütersloh ) seine erste Ausstellung in der Neuen Galerie laufen ließ.

Was die Autoren über den Art Club schreiben, findet sich zum Teil in der journalistischen und wissenschaftlichen Bearbeitung wieder. Daß die gelieferten Angaben nicht immer kritisch überprüft wurden, zeigen allein schon die Mythen, die sich um das Gründungsdatum des Clubs ranken. Rühm spricht allgemein vom Jahr 1946, während sich Okopenko auf eine Gründungsversammlung vom „10. Jänner 1947“ beruft. In der Sekundärliteratur zeigt sich, wer welchen der beiden Autoren sein Vertrauen schenkt. Aber seit 1981 sollte man es besser wissen. Denn da erschien die von Otto Breicha editierte Publikation über den Art Club, worin sich auch eine Chronik des Vereinsgeschehen findet. Laut dieser Vereinsgeschichte wurde die österreichische Sektion des Art Clubs im Februar 1947 gegründet und bestand offiziell bis 1960. Albert P. Gütersloh, Otto Demus, Gustav Kurt Beck beantragten die Vereinsgründung am 12.3.1947 in der Polizeidirektion Wien. Am 14.4.1947 erging der Bescheid des Bundesministeriums für Inneres mit der Anerkennung der Vereinsgründung.
Darüber, daß der Art Club als geistiges Umfeld und Ort der Begegnung für die Autoren der späteren Wiener Gruppe von wesentlicher Bedeutung war, sind sich Kritiker und Forscher weitgehend einig. Eine wichtige Rolle wird in diesem Zusammenhang der Straße als Ort der öffentlichen Kundgebung oder dem Kaffeehaus als privat-öffentlicher Zusammenkunft zugeschrieben. Nach Alfred Doppler war „eine der ersten literarischen Veranstaltungen der Gruppe […] 1953 eine Prozession durch die Wiener Innenstadt mit schwarzen Kleidern und mit weiß geschminkten Gesichtern“. Wer zu dieser „Soiree“ letztlich aufrief, geht aus Bayers und Rühms Darstellung nicht hervor. In beiden Fällen wird der Agens nicht genannt. Laut Rühm „wird zur ersten poetischen Demonstration aufgerufen“, nach Bayer „wird der erste act durchgeführt“. Beide Sätze finden sich unmittelbar anschließend an die Auflistung von Artmanns „achtpunkte-proklamation des poetischen actes“.
Viktor Suchy sieht die Anfänge der Wiener Gruppe dagegen im Club exil.

Diese fünf Autoren schlossen sich zum Club exil zusammen. Der Name sollte die Situation dieser jungen Avantgarde, ihre Nichtbeachtung, ja Ächtung im Kulturleben der Stadt Wien und Österreichs symbolisieren.

Nach Suchys Schlußfolgerung präsentierten sich diese Mitglieder des Clubs exil erst in der Edition von Gerhard Rühm als Wiener Gruppe. Über die Existenz dieses Clubs lieferte Gerhard Rühms Vorwort die entsprechende Referenz. Laut Rühms Angaben bestand der Club, der sich nach seinen Angaben am 13. Dezember 1954 konstituierte, aber nicht nur aus den Mitgliedern der späteren Wiener Gruppe, sondern umfaßte „dichter, komponisten und maler“.

Zum Fall H.C. Artmann
nach dem überraschenden erfolg der schwoazzn dintn (1958), löste sich artmann unauffällig von uns. nach den jahren, in denen er ohne offizielles echo unter beschränken verhältnissen geschrieben hatte, fand er sich sozusagen über nacht als bestsellerautor in aller munde.

Artmann kommt von der „Schwarzen Romantik“ und geht nach dem Erfolg seiner schwoazzn dintn. Artmann der Poet, Artmann der Surrealist, Artmann der Dialektdichter. Das sind gängige Zuordnungen, die sich im Laufe der Jahre im literarhistorischen Diskurs verfestigt haben. Artmann selbst befragt, haßt nichts mehr als diese Stempel, die ihm von den „rezensenten wie den tüchtigen burschen von der germanistik“ aufdrückt werden und bringt mit seinen Stellungnahmen ganz schön Verwirrung in das Bild von der linearen Geschichte der österreichischen Avantgarde. Zunächst bestreitet er die Existenz einer Wiener Gruppe, spricht von journalistischer Erfindung und meint, „der Konrad hat das Wort Wiener Gruppe wahrscheinlich nie gehört. Aber die Frau Zeemann hat sich überall reingemischt. Sie hat sich immer so als Literatenmutter aufgespielt.“
Die Wiener Gruppe hat ihm vielleicht Dorothea Zeemann, aber die „Schwarze Romantik“ und den Surrealismus hat ihm ganz sicherlich Gerhard Rühm beschert. Schon im Vorwort zur Herausgabe von Konrad Bayers der sechste sinn etikettiert Rühm Artmann eindeutig als einen, „der ausgesprochen von der schwarzen romantik und vom surrealismus herkam“. Diese Einschätzung wiederholt er dann in seinem Vorwort zur Anthologie Die Wiener Gruppe. Diese Formel pflanzte sich in der Rezeption bis herauf in die unmittelbare Gegenwart fort. So argumentiert André Bucher noch 1992, daß „Artmann […] dabei die surrealistische Linie bis zurück zur schwarzen Romantik [verfolgte], Rühm, der von der klassischen Musik herkam, zusammen mit dem Architekten Achleitner eher die konstruktivistische“. Schon 1968 hatte sich Helmut Salzinger in seiner Rezension über Die Wiener Gruppe seinen Reim auf der Grundlage von Rühms Zuordnung der Mitglieder der Gruppe gemacht:

Im Grunde beruhte es wohl auf einem Mißverständnis, daß die Gruppe sich überhaupt um Artmann bildete. Er war dann auch der erste, der absprang. Ihm als späten Romantiker konnten die konstruktivistischen Theorien nichts sagen, und für Bayer gilt das ebenfalls.

Auch über das Ausscheiden von Artmann aus der Gruppe nach dem Erfolg seines Dialektbandes 1958 sind sich die meisten Kritiker und Wissenschaftler einig. „Nach dem überraschenden Erfolg seines Dialektbandes med ana schwoazzn dintn (1958) löst sich Artmann von der Gruppe“, meinen Kristina Pfoser-Schewig und Ursula Weyrer in direkter Anlehnung an Rühms Darstellung. Noch exakter, aber auf der gleichen Quellenbasis beruhend, datiert Dagmar-Sonja Winkler den Abgang Artmanns:

Aber schon im Herbst 1958, nach der Herausgabe von Artmanns Dialektgedichtband Med Ana [sic!] schwoazzn dintn […] schied er aus der Gruppe aus.

Die angeführten und noch zahlreicher belegbaren Referenzen zeigen, welche prägende Macht die Darstellung der Gruppen-Geschichte durch Rühm auf die folgende Rezeption hatte.
Ähnliche Differenzen zeigen sich in den Darstellungen der Autoren auch, was das Ende oder die Auflösung der Wiener Gruppe betrifft. Darauf möchte ich an dieser Stelle nicht im einzeln eingehen, sondern auf die Thematisierung dieses Problems in meinem Aufsatz über „Geschichten und Legenden um H.C. Artmann und die Wiener Dichtergruppe(n)“ verweisen.

Schluss
Grundsätzlich sollte mit dieser exemplarisch ausgewählten Präsentation zur Mythenbildung rund um die Geschichte der Wiener Gruppe auf diskurssteuernde Mechanismen hingewiesen werden, die sich durch die Art der Integration von Primär- in Sekundärtexte ergeben können. Von entscheidender Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der Literatur der Nachkriegszeit waren und sind Gerhard Rühms Kommentartexte. Mit seiner Geschichte der Wiener Gruppe kann er als Diskursbegründer im Sinne Foucaults gesehen werden. Seine im Vorwort der Anthologie erstellten Wertschätzungen und Zuordnungen wurden im literarhistorischen Diskurs immer wieder aufgegriffen und als Evidenzen in unterschiedliche Argumentationsmuster eingearbeitet. Damit folgten Kritiker und Kommentatoren unbewußt der Intention von Rühms Paratexten, ohne die Rolle des Autors bei der Festschreibung des Mythos Wiener Gruppe zu hinterfragen.
Rühms Beitrag zur Rekonstruktion der Wiener Gruppe als Mythos und Realität war und ist ambivalent. Als Diskursbegründer, der in seinem Vorwort nicht nur eine konsistente Gruppengeschichte konstruierte und Erklärungsangebote für die Beziehungen zwischen Kunst, Gesellschaft und Politik der Nachkriegszeit bereitstellte, hatte er entscheidenden Einfluß auf literarhistorische Diskussionen. Dennoch kann Rühm nicht als „Erfinder“ der Wiener Gruppe im engeren Wortsinn gelten, da er als Autor nicht außerhalb seiner erzählten Geschichte steht, sondern die Anfänge seiner künstlerischen Laufbahn aufs Engste mit den gemeinsamen Aktivitäten des Wiener Freundeskreises verbunden sieht. Immer wieder identifizierte er sich und seine weitere künstlerische Entwicklung mit der von ihm präsentierten Rekonstruktion einer Nachkriegsavantgarde. Davon zeugen nicht zuletzt seine Versuche, die Geschichte der Wiener Gruppe weiterzuschreiben und sie in eine Geschichte des Berliner Kreises überzuführen. Dieses hohe Maß an Selbstidentifikation verleiht Rühms Paratexten eine gewisse Authentizität, die sicherlich zu ihrer Präsenz im literarhistorischen Diskurs beigetragen hat. Entscheidend für diesen Erfolg ist die Integrationsfähigkeit dieser Texte in umfassende Erklärungsansätze von Kunst und Kultur der österreichischen wie auch bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Das zeigen die länderspezifischen und periodentypischen Paradigmenbildungen in der Auseinandersetzung mit der Wiener Gruppe. Steht in den sechziger und siebziger Jahren vor allem in der bundesdeutschen Rezeption die Thematisierung der Rolle und Funktion von Kunst im gesellschaftlichen Leben im Vordergrund, so läßt sich bei den österreichischen Forschern für diese Zeit die Thematisierung von Avantgarde hinsichtlich einer österreichischen Traditionsbildung erkennen. In der österreichischen Auseinandersetzung wurde diese Nachkriegs-Avantgarde genealogisch verortet, die Gruppe selbst als Bindeglied zwischen Tradition und Moderne betrachtet. Diese genealogische Einordnung der Wiener Gruppe zeugte sich dann ab den achtziger Jahren zunehmend in der österreichischen Forschung fort und setzte sich in den neunziger Jahren endgültig im aktuellen Kanon fest.
Die Wiener Gruppe ist vierzig Jahre nach ihrem rekonstruierten Bestehen zum Schau- und Repräsentationsobjekt der österreichischen Kultur geworden und das nicht zuletzt durch Gerhard Rühms Initiative. Rühm selbst zeigt sich jüngst über seine Rolle als Diskursbegründer leicht verunsichert, denn die Geister, die er rief, wird er nun nicht los. So bedauert er nun, daß die Namen der Gruppenmitglieder „zu sehr immer nur mit der Wiener Gruppe verbunden werden und man sich viel zu wenig dafür interessiert, was später entstand“.

Melitta Becker, aus Kurt Bartsch und Stefan Schwar (Hrsg.): Gerhard Rühm, Literaturverlag Droschl, 1999

Gerhard Rühm verweigert Computer und Internet

– Der Doyen der österreichischen Literatur spricht über die Dynamik in der Wiener Gruppe. –

Köln, Rathenaupark, eine grüne Insel in der Altstadt-Süd. In einem Jugendstilhaus residiert der Doyen der österreichischen Literatur. Ohne Computer, ohne Internet, in einer Großwohnung mit Musik- und Schreibzimmer sowie Atelier im Souterrain. 1964 ist Gerhard Rühm aus Wien nach Berlin gezogen – man darf auch sagen: geflohen vor Anfeindungen, Missgunst, Unverständnis und der Chancenlosigkeit der radikalen Avantgarde. 1976 übersiedelte er an den Rhein. Von 1972 bis 1996 lehrte er als Professor Freie Grafik in Hamburg an der Hochschule für bildende Künste. Vor zehn Jahren, zum 80. Geburtstag, erhielt der Neu-Kölner die Ehrendoktorwürde der Uni seiner neuen Heimatstadt.
Nach Wien kommt er zu den Sitzungen des Österreichischen Kunstsenats, zu Empfängen für die Träger des Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst sowie zu raren Auftritten mit Musik und Poesie. Im Februar 2020 wurde in Wien sein 90. Geburtstag gefeiert in den 3 Hacken in der Singerstraße, seit den Fünfzigerjahren ein Lieblingslokal der Wiener Gruppe. Er weiß noch nicht, dass das Traditionswirtshaus inzwischen verkauft und geschlossen ist.

Ich hoffe, da wird sich nichts ändern, die Innenräume waren ja so stimmungsvoll.

Er hofft vergebens.
Rühm empfängt im Salon. An der Wand eine frühe Buntstiftzeichnung von Günter Brus, lange wie eine Fahne, mit drei Rühm-Porträts, das unterste mit dem Dichter in einer Gloriole. Rabenschwarzes Kurzhaar über dem starren runden Gesicht. Bisweilen stört das Augenfeuer eines mephistophelischen Schelms den Anschein chinesischer Weltweisheit. Oder ist es doch nur Common Sense jeder altgewordenen Pioniergeneration, wenn er klagt:

Wir leben in einer Zeit, in der alles ein bisschen bergab geht. In einer restaurativen Periode überhaupt.

Konkret erläutert er das am Beispiel des Westdeutschen Rundfunks – bei dem er 1984, als dort der legendäre Klaus Schöning Wortkunstchef war, Welt. Ein deutsches Requiem produzierte und damit den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewann. Die klassische Moderne, Zwölftonmusik, Schönberg, Berg, Webern oder Edgar Varèse, werde im WDR so gut wie überhaupt nicht mehr aufgeführt.

Wenn, dann von Schönberg nur Jugendwerke, bis zur „Verklärten Nacht“. Das große Hauptwerk, das spätere, wird totgeschwiegen. In den Siebziger-, Achtzigerjahren war es dauernd am Programm.

Der Kinderspielplatz vor Gerhard Rühms Fenstern im Hochparterre ist seit Corona mit Baugittern abgeriegelt. Kein junges Ohr lauscht jetzt dem alten Herrn, wenn er vormittags eine Stunde Klavier spielt – barocke Musik, Neue Musik. „Ich übe auch eigene Sachen, die muss man doch in den Fingern behalten“, sagt der Sohn eines Solobassisten der Wiener Philharmoniker, der mit 22 beim Zwölftöner Josef Matthias Hauer Privatunterricht nahm. Doch das bevorzugte Instrument bei seinen Auftritten, viele gemeinsam mit seiner Frau Monika Lichtenfeld, ist seine Stimme.
Beider für April im Wiener Museumsquartier angekündigtes Konzert fiel aus. Am 18. September wird es nachgeholt in der Reihe 452 Jahre Wiener Gruppe in der Alten Schieberkammer auf der Schmelz: Erste Hälfte solo, zweite Hälfte Sprechduette. Wie kam die Organisatorin Ulrike Tauss auf 452? Sie zählte die Jahre seit der Geburt von Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener zusammen. Am 20. September treten dort Rühm und Wiener zur Diskussion über Literatur und Revolution an – die Überlebenden der Wiener Gruppe, und beide Kulturkampfveteranen.
In Industrie und Handel würde man Gerhard Rühm den Markenführer der Wiener Gruppe nennen. Er stellte 1967 die erste Selbstdarstellung der fünf für ein Rowohlt-Buch zusammen. Davor als Allererste das Etikett Wiener Gruppe in eine Zeitung gebracht zu haben, rühmte sich Dorothea Zeemann, die Lustleidensgefährtin von Heimito von Doderer – der für den ersten Sammelband von Dialektgedichten Achleitners, Artmanns und Rühms 1959 (hosn rosn baa) ein Vorwort beitrug. Rühm über die frühen Jahre:

Wir waren sehr radikal und auch unduldsam, vom heutigen Standpunkt aus gesehen. Mit jemandem, der normale Gedichte geschrieben hat, haben wir uns nicht beschäftigt. Auch nicht persönlich. Wir haben uns damals schon regelmäßig privat und in Kaffeehäusern getroffen. Ich war besonders streng. Wenn jemand nicht wusste, wer August Stramm oder wer Anton Webern ist, durfte er sich gar nicht an unseren Tisch setzen. Für mich war entscheidend die konstruktive Wortkunst des Sturm-Verlags in Berlin mit Herwarth Walden als Herausgeber.

Markentreue Gruppenbildung setzt Abgrenzung, auch Ausgrenzung voraus. So von Eugen Gomringer, der als Begründer der Konkreten Poesie gefeiert wird. „Gomringer“, sagt Rühm, „kam viel mehr vom Französischen her, so wichtig wie für mich August Stramm und Kurt Schwitters, war für ihn Mallarmè, vor allem sein großartiger ,Würfelwurf‘.“
Die Wiener Gruppe sei zwar von den Kollegen immer freundlich behandelt und sogar zu Veranstaltungen eingeladen worden, „aber wir galten als verrückt, man sagte uns nach, dass das, was wir machen, mit Literatur nicht mehr viel zu tun hat.“
Ernst Jandl schrieb im Gedicht „verwandte“:

der vater der wiener gruppe ist h.c. Artmann
die mutter der wiener gruppe ist gerhard rühm
die kinder der wiener gruppe sind zahllos
ich bin der onkel

Rühm ahnt die Frage: Warum war Jandl nicht dabei?

Er hat bis damals eher konventionelle, aber nicht immer schlechte Gedichte geschrieben – Stadtgedichte, wir nannten das ,Trümmerlyrik‘. Ich habe mit Ernst darüber diskutiert, dass man so nicht mehr schreiben kann. Er hat mich etwa 1956 zu sich eingeladen, in eine düstere Wohnung, in ein Zimmer mit vielen Büchern. Das war ein ganz entscheidendes Treffen. Ich habe damals auf ihn eingeredet. Er hat überhaupt erst nach unserem Gespräch begonnen, seinen Stil zu entwickeln.

Rühm blieb ein kritischer Beobachter.

1957 schrieb Jandl sein erstes neues Gedicht: ,bestiarium‘, mit Tiernamen, das hat er mir gezeigt und mir gewidmet. Später erschien es im Buch laut und luise – ohne die Widmung. Ich habe ihn darauf angesprochen. ,Dir hat’s ja nicht gefallen‘, hat er gesagt. Ich war gewohnt, so zu diskutieren, doch Ernst war sehr empfindlich. Wir hatten aber menschlich immer eine sehr gute Beziehung, waren gut befreundet und haben viele gemeinsame Veranstaltungen gemacht. Ich war in der Wiener Gruppe eigentlich der Einzige, der Jandl wirklich geschätzt hat. Und der H.C. natürlich auch. Obwohl er in einem anderen Boot gesessen ist. Der Handke hat ja nie ein Wort über die Wiener Gruppe verloren, außer dass es ,Werkstatt-Lyrik‘ sei; dass man so was schreibt und dann erst richtig loslegt.

Hans Haider, Wiener Zeitung, 17.8.2020

 

 

Die Wiener Gruppe 1 + 2

 

 

 

Zum 80. Geburtstag des Herausgebers:

Michael Lentz: Spiel ist Ernst, und Ernst ist Spiel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.2.2010

Paul Jandl: Dem Dichter Gerhard Rühm zum 80. Geburtstag
Die Welt, 12.2.2010

Zum 85. Geburtstag des Herausgebers:

Apa: „Die Mutter der Wiener Gruppe
Salzburger Nachrichten, 12.2.2015

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Vita + ÖMKLG +
Archiv 1 & 2 + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumGalerie Foto Gezett +
Dirk Skiba AutorenporträtsBrigitte Friedrich Autorenfotos +
Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Gerhard Rühm liest seine seufzer prozession am 10.11.2009 in der Alten Schmiede zu Wien.

 

Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld lesen unter anderem Sprechduette beim Literaturfestival Sprachsalz im Parkhotel bei Hall in Tirol (10.–12.9.2010)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00