Gregor Laschen (Hrsg.): Eine Jacke aus Sand

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Gregor Laschen (Hrsg.): Eine Jacke aus Sand

Laschen (Hrsg.) / Schwerdtfeger-Laschen-Eine Jacke aus Sand

PHÖNIX

1

Hier muß er gewesen sein, der Ort
wo geschrieben war
„Er verschwand…“

Nicht in einem Wald, wie am Anfang gedacht
oder im düsteren Spiegel eines Sees
nein hier, mitten im Herzen der Stadt.

Wer sich umschaut, sieht sich selbst kommen
auf sich zu die breiten Trottoirs, leere Schaufenster
entlang an langen Warteschlangen vorbei

Wer zurückgeht, sieht seinen Irrtum jetzt –
das Geschäft verlassen, und Pappschachteln leer
auf den geborstnen Marmorfliesen.

Und nur im Weitergehn mit allen Einheimischen
begreift er daß die Stadt belagert ist
besetzt auch der kleinste Balkon.

Er sieht ein daß alles verloren ist
und die Stadt zwar aus Beton gegossen
doch eine wahrhafte Stadt wartet andernorts

Und daß er dorthin auf dem Weg ist
wie all die andern, die so tun
als ob sie hier zuhaus sind, alle Wege kennen
die Namen der Straßen.

Irgendwo andernorts
liegt ein Stadtplan vor leeren Gesichtern
nie mehr aufzuführen, durch niemand und nichts.

„Weitergehn!“ so gebärdet sich ein Polizist –
und sie verschwinden in den Fußgängerschacht
und tauchen fügsam in den Grund.

Ein leerer Platz nun

„Er verschwand…“

Mehr stand nicht auf dem Stein.

 

2

Viele Träume gibt es

Von Städten die verschwunden
sind und niemals existierten
von unterirdischen Städten
von Städten thronend über Wolken.

Diese Stadt, in einer Nacht erträumt.

Die Bewohner sie gehen seit damals
in der Fußspur von früher, wie immer
mit federndem Schritt wie die Toten
die auf dem Markt zusammenströmen.

Der unvermeidliche Engel bläst die Trompete
auf dem Turmumgang: denn es ist Zeit! –

Und im Kaffeehaus, inmitten raschelnder Gespräche
ist jemand der dies aufschreibt
seit langem schon oder zum ersten Mal.

 

3

Er lächelt hinter seinem Bürotisch
bedeckt mit Asche und verbotnen Büchern, schmal
bebrillt, das Gesicht einer Gallionsfigur.

„Wenn ich an Jalta denke
fängt es zu schneien an, vor mir
hinter mir allein noch eine weiße Ebene
keine Fußspur, nirgends Vogelkrallenspuren

Ein Junge bin ich und schüttle den Schnee
in der Glaskugel: und die Familienfotos leben wieder
und nachts hör ich das Schmelzwasser
triumphierend rauscht es in die Gossen.“

Und sein weißes Haar schilfert
seine Pantoffeln in der Schwebe
und die Armbanduhr tickt immer lauter.

Er arbeitet an seinem Vergessen
bis er sie nicht mehr aushält: er speit
die Stadt und Kirche um Kirche aus

freigelassen fliegt er, träger Engel
mit bleiernem Flügelschlagen tief
über das Katzenkopfpflaster.

Dann Grabsteine – und die endlose Landstraße
so weit das Auge reicht.
Poznan. Jalta.

Die Pantoffeln des bleiernen Engels
machen sich stampfend in die Spur.

Wie das Innenleben einer Kohlenzeche
so sieht die Gegenwart der Zukunft aus:
schwarze Gänge, Labyrinthe voller Warteschlangen

Doch die Förderschächte bis über die Erde
sind zugeworfen mit dem Schuttgestein
der verschwundenen Städte.

Niemand, der noch darauf achtet
daß die Wachtürme besetzt sind
und die Förderräder sich noch drehen –

Im Herzen der Gesteine
regt sich etwas, schüttelt seine Federn
und bläst die Asche von sich ab…

Wie es aussieht.

J. Bernlef
Übersetzung Wolfgang Hilbig

 

 

 

Vorsatz

Erinnerungen /
sind keine Erinnerungen. //
Erinnerung ist Perzeption.

Hans Faverey

„Eine Jacke aus Sand“: Titel eines zyklischen Gedichtes von Frans Budé aus Maastricht, ruft reiche und gründliche Bilder auf im Hof der Wörter, Dichter und Dichtung, nicht allein der hier vorgestellten sechs niederländischen Les- und Ton-Arten:

die Jacke aus Sand,
die um meine Schultern hängt
und klappert, wenn ich geh…

Wie bei den vorangegangenen vier Begegnungen der Werkstatt POESIE DER NACHBARN – mit Dänemark, Ungarn, Spanien und Island – hat der Spiel-Raum dieses Konzepts „Dichter übersetzen Dichter“ auch diesmal, die schöne Spannung zwischen Nach-Dichtung und mehr worttreu-gebundener Übertragung voll ausmessend, des öfteren in eine deutsche Mehrsprachigkeit geführt, auf immer freiem Fuß zum Original stehend dieses aber nicht aus dem Auge verlierend, es gleichsam vom adäquaten deutschen Versfuß her begrüßend: genau und eigen.
Viel mehr gibt es als das hier Versammelte für uns bei unseren Nachbarn zu entdecken. Die begrenzte Teilnehmerzahl an diesen Begegnungen, aber auch Verhinderungen, schließen andere Namen und Werke, ebenso wichtig, und hoffentlich nur für diesen Augenblick aus, auch diesmal: gerne hätte ich Cees Ouwens, Jacques Hamelink, Huub Beurskens, Wiel Kusters dabeigehabt, Lucebert und Judith Herzberg auch, die schon eher bei uns bekannt wurden, Remco Campert auch, die in den Niederlanden sehr populären Gedichtwerke von Rutger Kopland und Ed Leeflang, und: – und Hans Faverey, dieses Projekt kennend, dessen früher Tod vor drei Jahren seine Mitwirkung verhinderte. Rein Bloem auch, sparsamst publizierend, ein wirklicher Kenner der Weltsprache Poesie in allen Sprachen, dem Faverey früh schon das folgende Gedicht zuschrieb, das – wie so oft bei großen Gedichten – über seine Adresse weit hinausgreift und zurückzeigt auf seinen Urheber:

Moest het zijn dat deze hier
daar is gaan liggen om zijn
bloed de vrije loop te
kunnen laten, en die papaver
tot op de bodem uit te putten –

de vlakte, tot aan de einder

leeggestroomd; met de lucht
daarenboven zieh eindelijk
gladgestreken: het voor-
hoofd van een blinde
die tuurt in zijn verte.

 

Mußt es sein, daß der hier
da sich hinlegte, um seinem
Blut freien Lauf
lassen zu können und den Mohn
bis auf den Grund zu erschöpfen –

die Ebene, bis ans Ende

leergeströmt, mit der Luft
darüberhin, sich endlich
glattgestrichen: die Stirn
eines Blinden,
der starrt in seine Entfernung.

Gregor Laschen, Vorwort

 

Ein vielstimmiger Chor

„Dieu lisait dans son livre et tout étalt détruit“, so eine Zeile Victor Hugo’s, die als Motto den am 7. Juli 1990 erschienenen Gedichtband Het ontbrokene (Das Fehlende) ziert. Am 8. Juli starb der Dichter dieses testamentarischen Bandes, der eine vielsagende „Reihe gegen den Tod“ enthält. Er hieß Hans Faverey (1933–1990), und er schrieb:

En hoe weerloos ligt daar niet
tussen de varens langs de beek,
al zo verstrikt in zijn netten,
nog na te lachen een clown
om al dit hierzijn om niet.

Und wie wehrlos liegt da nicht
zwischen den Farnen den Bach lang,
so verstrickt schon in seine Netze,
ein Clown und lacht noch nach,
um all dies Hiersein um Nichts.

Mit Faverey, diesem Nonfigurativen, diesem abstrakten Mystiker, dem lakonischen Sprachkünstler, dem Meister des transzendenten Witzes, der auch den eigenen Tod lyrisch einschreibt in sein Thema der Wirklichkeit als einer nur in der suchenden Sprache des Gedichts existierenden Realität, mit diesem Faverey starb das Herz der niederländischen Lyrik. Ein internationales, musikalisches Herz, geboren im südamerikanischen Surinam, gestorben in Amsterdam. Faverey dichtete – als ein mit der Leichtigkeit eines Apollinaire sprechender Celan – in einer internationalen Tradition, die sowohl von einer lakonischen als auch einer hermetischen Sprachführung gekennzeichnet ist.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verbinden sich in der niederländischen Lyrik immer wieder zwei Traditionen, eine experimentelle und eine realistisch-symbolistische. Kennzeichen der beiden nationalen Traditionen sind eine offensichtlich prinzipielle Einbettung in internationale Poetiken und zugleich eine extrem auf Sprachverfeinerung gerichtete Qualität. Die Niederlande unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von der deutschen Lyrik, wenn es dem einzelnen Dichter überlassen ist, in seine Mischung von Poetikalität und Weltbetrachtung unabdingbare Individualität einzubringen.
So flach die Niederlande sind und so eindeutig und gerade die Polder sich zwischen den großen niederländischen Flüssen hinziehen, so hügelig, gebirgig und bunt sieht es in der Lyrik aus. Es gibt keine typisch niederländische Lyrik, es sei denn, daß sie niederländisch spricht, ihre Zunge sich de facto niederländisch, jedoch in der Orientierung international bewegt. Was die Lyrik anbelangt, wirkt sich in den Niederlanden alles auch unterschiedlich aus: man erfährt zum Beispiel alle Jahreszeiten – den Frühling, den Sommer, den Herbst, den Winter –, es gibt südliche und nördliche Temperamente, in einem ganz bestimmten Sinn kennt man fließende Übergänge zu anderen Ländern und Sprachen, zugleich möchte und kann man international denken. Damit verbunden ist aber auch das kaum unterdrückte Verlangen, auch darauf erpicht zu sein, sich wie die Jahreszeiten, die einzelnen Länder, die Temperamente zu unterscheiden: voneinander und von Lyrikern aus anderen Ländern.
Das aber ist selbstverständlich die stille Voraussetzung, nach der einer, der Dichter wird und Gedichte schreibt, seine Wörter im Leben zurückläßt. Das ergibt alles in allem einen vielstimmigen Chor, der sich sozusagen ,übersetzend‘ und zugleich in eigener Sache gelten läßt. Es gibt in der heutigen niederländischen Lyrik eine Gruppe Dichter, die konventionelle Sonette schreibt, es gibt eine Lyrik in der hermetischen Tradition, es gibt eine lässige Lyrik der Moderne, eine internationale Lyrik mit supranationalen Themen. Daneben gibt es die einzelnen Dichter, die einzelnen, eigensinnigen Menschen, die sich eine Sprache zugedacht haben, in der sie sich wiederzuerkennen wissen. Die niederländische Lyrik hat viele Stimmen – und jede einzelne ist es wert, gehört zu werden.
So zum Beispiel die Gedichte des 1938 in einer Bauernfamilie geborenen H.H. ter Balkt, einem der hier vorgestellten Niederländer. Ter Balkt war zunächst Journalist, dann Grundschullehrer, seit 1983 ist er freischaffender Schriftsteller. Er debütierte 1969 mit Boerengedichten (Bauerngedichte) unter dem Pseudonym Habakuk II de Balker, nach dem alttestamentarischen Heilsprofeten Habakuk, unter dem damals zeitgemäßen Motto:

Lieber stolpre ich durch Brennnesseln als Lyrik zu lesen.

Ter Balkt schreibt eine Lyrik mit roher, krächzender, engagierter Stimme, die von zwei Gesetzen beherrscht wird: dem der Gegenwirkung und dem des Unfriedens. Für ihn gilt die Formel, der Dichter sei derjenige, der sich nicht mit seinem Schicksal zufrieden gibt. Eine Lyrik des Blues, Russisch manchmal, mit holländischer Thematik, eine Lyrik, die barsch plädiert für Authentisches, Natur und wirkliches Leben – wild und vital assoziierend in einer Sprache, die etwas zu sagen, etwas auszusagen haben möchte.
K. Michel, ein junger niederländischer Lyriker, sagte von ihm, ter Balkt habe keinen „epistemologischen Zweifel. Keine Gedichte, in denen es sich um die Prozedur des Entstehens handelt, keine Distanz zu dem Ding-an-sich. Keine Distanz zu den Dingen, sondern Engagement für die Dinge. Er lebt zusammen mit den Dingen, er lebt mit ihnen mit. Das Schicksal eines Sauerkrautfasses berührt ihn genauso wie das Schicksal des Bauernknechtes Frederik van der Heide.“ Ter Balkt faßt seine internationale Orientierung (von Oswald von Wolkenstein bis zu Majakowski) auf als Stellungnahme eines Zeitgenossen aus einem kleinen Ort im Osten der Niederlande, der sich verantwortlich fühlt für die Verletzungen, die der ganzen Welt, der Natur und Kultur, zugefügt werden – Dichtung als „ein bäuerlicher Prospekt gegen die Verkommenheit der Postmoderne“ (Gregor Laschen).
Im Vergleich zu Ter Balkt ist J. Bernlef, geboren 1937 im kleinen St. Pancras, eher ein Lyriker der Großstadt – er wohnt in Amsterdam und ist ein Dichter mit einer großen Liebe zum Jazz. Bernlef ist außerdem ein bedeutender Übersetzer aus dem Schwedischen, unter anderem von Gustafsson und Tranströmer, zudem Rezensent und deshalb intensiver Leser der internationalen Lyrik, ein international erfolgreicher Romanautor, vor allem durch das Buch Hersenschimmen (Hirngespinste, 1990). Bernlef schreibt Lyrik: kompakt, präzise, modernistisch und lakonisch, über das Schweigen, das Vergessen, über erstarrende und verrinnende Zeit, über die flüchtige Weise, in der wir die Welt wahrnehmen und festlegen in Bildern und Fotos – eine starke Sprache, so stark wie der Wolf, der sich (in einem Bernlef-Gedicht) in einem weiten Schneefeld die Wörter vom Fell schüttelt, um spornstreichs verschwinden zu können. „Das ideale Grenzgebiet ist für den späteren Bernlef die Winterlandschaft, in der die Spuren im Schnee nur zum Teil die Spuren einer anderen Wirklichkeit sind“, so die Formulierung von Hugo Brems und Ad Zuiderent; ein Befund, der Bernlef als lyrischen Bruder Gerrit Kouwenaars zu erkennen gibt.
Es sind aber nicht nur etablierte Dichter, die in diesem Band vertreten sind. – Der freiberufliche Werbetexter Tonnus Oosterhoff (*Leiden 1953) publizierte 1991 den Gedichtband Boerentijger (Bauerntiger), in dem er sich auf vielen Sprachebenen bewegt. Zu seinen Themen gehören u.a. die Erinnerung an die Kinderzeit – ein kleiner Affe mit roter Mütze auf einem Lehrbild in der Schule, Lassie aus der Fernsehserie – und Erinnerungen an die Zeit, als man im Bett lag, voller Grauen Stimmen und Poltern hörte auf dem kalten, dunklen Dachboden. Sein Gedicht „Knopendoos“ macht dieses Grauen hörbar – in drei deutschen Fassungen, die etwas von den schönen Möglichkeiten der Übersetzungskunst deutlich machen. Es ist dies eine Lyrik, die erinnert an „Klompen aus Porzellan, gefüllt mit haagse hopjes“ (eine Süßigkeit aus Den Haag), sagte Peter Rosei im Gespräch mit Oosterhoff.
Oosterhoff hat ein scharfes Auge fürs Absurde, in Bild und Gebärde, er schreibt eine szenische Poesie mit sich überstapelnden Stimmen, mit erstaunlicher, neosurrealistischer Aufmerksamkeit fürs Detail und für die kleinen, tragischen Witzigkeiten des Lebens. Er kombiniert Bilder, ist in einer erfrischenden Weise frei von der Sogkraft der auf Sprachlichkeit fixierten hermetischen Tradition und ihr zugleich leichtfüßig verhaftet. Oosterhoff schreibt Texte, in denen Kritik hörbar wird, die man gesellschaftlich nennen kann, wenn man neben dem sozialpolitischen Bereich die Privatsphäre und das Alltagsleben mit einbezieht: es ist die humorvolle Kritik eines Abendländers, die Ideologie verschiebt und Denkraster verfärbt. Gerade durch eine unerwartete Kombination von Bildern, durch die Wildheit, die von seinen Worten ausgeht, kommt eine gewisse Nähe zum Werk ter Balkts zum Vorschein.
In einem ganz anderen Ton schreibt Anna Enquist (*Amsterdam, 1945). Sie ist erst vor kurzem in der niederländischen Literaturlandschaft aufgetaucht. Anna Enquist studierte Klavier und Psychologie und arbeitet als Psychoanalytikerin. Ihr Band Soldatenliederen (Soldatenlieder), der anscheinend ohne die schwere Last der modernen Lyriktradition auskommt, wurde ein großer Erfolg. Anna Enquist schreibt über Nähe, über sichtbare Erfahrung, über Musik und Gemälde, über die Wärme der Familie, die Endlosigkeit einer Schlittschuhfahrt auf den holländischen Seen und Flüssen: sie erzählt, und sie verändert sich. In der Nähe von Ouderkerk schnallt sie sich Schlittschuhe an und gleitet „überm schwarzen Eis“. Ihre Gedichte haben einen narrativen Zug, das Subjekt der Erzählung ist eine von Geschichte und Erfahrung – insbesondere der Erfahrung anderer – emotionalisierte Person, die verschwundene Szenen in lyrischen Sätzen rekonstruiert und sie aufführt, als seien es Schlüsselszenen, so ausschlaggebend und entscheidend wie die Urszene.
Hat die Lyrik von Anna Enquist einen langen Atem, so schreibt Frans Budé aus Maastricht (*1945) eine verschlüsseltere, kurz andeutende Lyrik. Wenn er Verschwindendes festhalten will, bleibt er bei sich und eigenstimmig: „Ja – / ich will etwas bewahren, bevor / ich, alsbald, verschwinde, Scham / vor mir, die Zärtlichkeit / von Sein“, schreibt er zum Beispiel. Budés Gedichte möchten festhalten und aufheben, die Geräusche, die Geliebte, aber auch das Meer, das Feuer. Sein letzter Band, 1991 erschienen, heißt De onderwaterwind (Der Unterwasserwind), ein Wort für ein nicht zu unterscheidendes, dennoch vorstellbares Phänomen. Budé ist nicht zufällig auch Maler, und er malt auch seine Gedichte in hermetischer Tradition mit zugleich schaudervollen wie intensiv durchlebten, ja durchliebten Farbstrichen aufs Maltuch, aufs Papier. Seine Gedichte sprechen wenig, sagen viel. Der niederländische Dichter und Romancier Huub Beurskens wies 1989 in „Die Scham, nicht der Tod. Ein paar Bemerkungen zu den Gemälden von Frans Budé“ (die horen 161/1991) auf die Verwandschaft Budés zur Lyrik von Paul Celan und Nelly Sachs hin, er sprach von der „angemessenen Scham“, mit der ein zeitgenössischer Maler und Dichter im Leben stehen müßte:

Die Dichtung des Frans Budé bewegt sich mit und innerhalb dieser Scham. Aus seinen Gedichten spricht eine ungeheure Faszination für den Tod. Jedoch ist die Faszination für das Leben, „die Zartheit des Seins“, genauso groß. Budé ist fortwährend durch den Blick und das Antlitz der anderen und des Anderen gefesselt. Eigentlich sind Budés Gedichte unterdrückte Hymnen, geschrieben an die Geheimnisse in uns und vor allem um uns herum, hymnische Versuche, mit diesen Geheimnissen ins Gespräch zu kommen. Das heißt übrigens nicht, daß aus seiner Lyrik kein Erstaunen über die Schamlosigkeit des Menschen hervorgeht, der sich von Mal zu Mal alles zueignet.

Diese fünf Dichter reagieren in ihrer Dichtung alle auf eine zu Anfang der fünfziger Jahre einsetzende Entwicklung in der niederländischen Lyrik, eine, die die immer schon anwesende Tendenz der Internationalisierung in eine eigene Sprache übersetzt. In der Nachkriegszeit hatte die junge Generation die Hoffnung auf gesellschaftliche und kulturelle Erneuerung gesetzt, so Hans Joachim Schädlich im Nachwort zu seiner Anthologie niederländischer Lyrik (Gedichte aus Belgien und den Niederlanden, Berlin: Volk und Welt, 1977), und aus dem Protest gegen die anders verlaufenden Entwicklungen wuchs die Dichtung und Malerei der sogenannten Experimentellen. „Die Versuche der experimentellen Dichter weckten erneut Interesse für die expressive Funktion des unterbewußten Bildwortes“, schreibt er und weist damit vor allem auf Lucebert hin. Lucebert und ein anderer grand old man der niederländischen Lyrik, Gerrit Kouwenaar (*Amsterdam 1923) gehören zu dieser Gruppe der neoavantgardistischen ,Vijftigers‘ (die Fünfziger), die einen großen Einfluß auf die nachkommenden Lyrikgenerationen hatte.
Lucebert und Kouwenaar sind in diesem Sinn die Paten der neuen niederländischen Lyrik. In der Linie Lucebert und „durch ihn hindurch“ schreiben die hier vertretenen Lyriker ter Balkt und Oosterhoff. Die Poesie von Bernlef, Budé und in gewisser Hinsicht auch die von Anna Enquist ist nicht denkbar ohne eine Reflexion auf die Arbeit Kouwenaars.
Kouwenaar stammt aus einer Welt bildender Künstler, Dichter und Journalisten. Er gehörte zur Cobra-Bewegung und hat diese Nähe zur bildenden Kunst immer beibehalten. Er gilt in den Niederlanden als einer der wichtigsten Dichter der Nachkriegszeit. Kouwenaar schreibt eine eindringliche Sprache, die in den Gedichten zugleich unpersönlich wie partikular laut wird, eine auf die genaueste Formulierung zielende, sprachlich-sinnliche Lyrik, in der versucht wird, den Reflexionen und den Emotionen ihr Recht auf Eigenständigkeit zu geben. Die Reflexionen und Emotionen werden sozusagen „eingezäunt“, in den Garten des Gedichts eingeschlossen.

Nimm zum beispiel ein gedicht, man pflanzt
einen garten ins nichts, denkt darin ich
zähme jede personalform, ich

sage wahr wie ein zaun einen schaden.

Bei Kouwenaar schreibt nicht das lyrische Ich, sondern das lyrische Man: man hört zu, man spricht, man fühlt den Körper, man bannt und empfindet den Tod. Kouwenaar debütierte im Jahre 1941. Sein letzter Band heißt Een geur van verbrande veren (Ein Geruch verbrannter Federn), ein einmaliger Band, der von der Kritik besonders gerühmt wurde wegen der Bilder und der zu gunsten einer neuen Klarheit zurückweichenden Abstraktion.

*

Ein vielstimmiger Chor, die niederländische Lyrik, hier hörbar im Echo eines deutschen vielstimmigen Chors. Stimmen überstapeln sich, wie immer ist der Effekt nicht meßbar.„Dieu lisait dans son livre et tout était détruit“, schrieb Hugo. Wer weiß, ob es im offenbar nicht vernichteten göttlichen Lesebuch nicht Lyrik zu lesen gibt, auch niederländische.

Ton Naaijkens, Nachwort

 

Informationsseite für Poesie der Nachbarn

 

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