Gregor Laschen (Hrsg.): Lyrik aus der DDR

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gregor Laschen (Hrsg.): Lyrik aus der DDR

Laschen (Hrsg.)-Lyrik aus der DDR

AN DEN ABEND

Um ein Haus ereignet sich alles.

Drinnen:
Da du den blauen Vorhang
Am Fensterhimmel
Beiseite schiebst;
Wo der Leuchter mit dem Mond
Und den Sternen brennt, und
Vielleicht hat das ein Elektriker
Vor Jahrmillionen einmal angelegt.

Und draussen:
Da ich zu dir hinaufschaue
Und wie ein Wald stehe.
Ach, wie stille ist es in mir geworden,
Seit die Bäume schwarz sind.

Uwe Greßmann

 

 

Nachwort

I
Jede Anthologie setzt sich dem Risiko aus, darauf hingewiesen zu werden, dass dieser oder jener Autor, dieses oder jenes Gedicht hätte berücksichtigt werden müssen. Dass dieser oder jener Autor, dieses oder jenes Gedicht doch besser hätte ausgespart werden sollen. Solche Korrektur wird auch auf diese Versammlung von Gedichten aus der Deutschen Demokratischen Republik anzuwenden sein, vielleicht auf besonders begründete Weise, sicherlich hüben wie drüben unterschiedlich motiviert.
Seit Ad den Bestens Zusammenstellung von Gedichten mit dem zeitbewussten Titel Deutsche Lyrik auf der anderen Seite aus dem Jahre 1960 ist das vorliegende Buch der erste umfassendere Versuch, Lyrik aus der DDR den Lesern im westlichen deutschsprachigen Raum vorzulegen. Immer noch, von Ausnahmen abgesehen, aber auch längst nicht mehr so offensichtlich und leichtfüssig obenhin, war dabei die Signatur von der „anderen Seite“ zu beachten als Befund auf dem hiesigen Büchermarkt, im Bewusstsein westlicher Leser. So mögen einige Anmerkungen von Nutzen sein, um nachzuprüfen, wie dieses Buch entstanden ist und unter welchen Bedenken die vorliegende Auswahl zustande gekommen ist.
Bei der Verabredung des Projekts mit Renate Nagel vom Benziger Verlag Zürich zu Beginn dieses Jahres gingen wir davon aus, eine Versammlung von in der DDR entstandenen Gedichten zu versuchen nach Gesichtspunkten, die, das versteht sich, am ehesten unter der Kennmarke „Sprachqualität“ – wie immer auch zu begründen – zu erkennen seien. Im Verlauf der Sammlung von Texten zu diesem Buch wurde ein weiterer Gesichtspunkt deutlicher, dessen Beachtung sich kaum verschieben liess, ging es darum, ein umfassendes Bild der lyrischen Szenerie in der DDR zu vermitteln. Also die möglichst konzentrierte Präsentation dessen, was überhaupt vorhanden ist, was gedruckt und gelesen wird oder gelesen werden möchte, was Folgen hat, wenn Gedichte Folgen haben. Folgen in der Reflexionsqualität und auf der möglicherweise ästhetischen Genussebene der Gesellschaft, Folgen innerhalb der literarischen Tradition, auf der Produktionsebene.
Dass schliesslich eine gewisse Voreingenommenheit, ja Fixierung der Herausgeber (von mir aus als Leser) im Verstehen dessen, was „Sprachqualität“, dessen, was „repräsentativ“ sein kann, sich in der Auswahl gleichsam rücklings und eigenmächtig niederschlägt, scheint – angesichts der Geschichte von vorliegenden Anthologien – schon selbstverständlich, soll hier aber auch gewiss nicht in Abrede gestellt sein.
Bei dem Versuch, einen möglichst gründlichen Eindruck von den vorhandenen Sprech-Positionen in der lyrischen Szenerie der DDR zu vermitteln, blieb bestimmend der sprachqualitative Anspruch an den einzelnen Text: seine „besondere“ Anstrengung der Sprache, die sprachliche Aktualisierung und Konstituierung dessen, was er mitteilt, einfach: seine Künstlichkeit. Unter diesem Gesichtspunkt haben wir versucht, jeweils die Spitze der verschiedenen vorhandenen Sprech-Möglichkeiten zu präsentieren. Ein Anspruch, der die Qualitätsunterschiede zwischen den Texten wohl des öfteren unversöhnlich ins Blickfeld rücken mag, sich aber doch weitgehend als Dokumentation dessen, was an lyrischem Sprech-Vermögen da ist, versteht. Soweit ich sehe, ist dabei keine Formulierung von paradigmatischer Bedeutung übersehen worden, auch dann, wenn einzuräumen ist, dass mancher Text eher im Sinne einer Zusage als der Einlösung zu lesen ist.
Die vorgesehenen Texte von Wolf Biermann fehlen in diesem Buch. Verlag und Herausgeber können nur versichern, dass diese Entscheidung nicht leicht gefallen ist. Biermanns Einverständnis, die Anthologie schliesslich ohne seine Texte zu publizieren, um das Projekt nicht zu gefährden, hat diesen Entschluss wesentlich bestimmt. 

II
Es erscheint sinnvoll, eine Beschreibung der lyrischen Szenerie in der DDR an dieser Stelle auf die allernotwendigsten Hinweise zu beschränken, auf Stichworte zu bestimmenden Themen und formalen Möglichkeiten, wie sie durch die hier versammelten Texte repräsentiert werden.
Rückt man die lyrische Produktion aus der Bundesrepublik nach 1945 dabei etwas gewaltsam und vergleichsweise an die Seite dessen, was in der DDR produziert worden ist, so fällt zunächst auf, dass eine Möglichkeit lyrischen Sprechens in der DDR bislang total ausgespart worden ist: jene, die unter der Signatur Konkrete oder Visuelle Poesie in der Lyrik der BRD einen beachtlichen Rang einnimmt. Des weiteren und nach näherem Hinsehen: eine vergleichbar extreme Anstrengung der Sprache und ihre Thematisierung wie bei Paul Celan oder auch Ernst Meister ist nur in Einzelfällen und in Annäherungen zu beobachten, etwa in den späten Gedichten Erich Arendts, in manchen Gedichten Johannes Bobrowskis, dessen lyrische Reflexion auf die Sprachtheorien Hamanns und Herders – „Ohne Wort keine Welt“ / „Geist und Wirklichkeit existieren nicht neben, vor oder ausserhalb der Sprache, sondern werden in ihr erst erreicht“ – zunehmenden Einfluss auf jüngere Lyriker (Sarah Kirsch, Kito Lorenc, Wulf Kirsten oder auch Friedemann Berger) gewinnt.
Im übrigen belegen diese Texte Inhalte, ihre Tradition und variierende Tradierung, dazu den Gebrauch von formalen Möglichkeiten wie sie auch in der westdeutschen Lyrik vorzufinden sind. (Im Hinblick auf sprachliche Realisierung ist es dabei zunächst recht belanglos, ob Enzensberger bundesrepublikanische, Volker Braun Missstände der jungen sozialistischen Gesellschaft seines Landes im Gedicht moniert: in beiden Fällen geht es um das „Gedicht“, dessen Qualität allein oder zuerst durch die sprachliche Anstrengung, die unternommen wird, sich erweist. In dieser Anstrengung stehen beide Texte nebeneinander. Und erledigen gleichsam nebenbei jenen ungeheuren theoretischen wie kulturpolitischen Aufwand um den „Sozialistischen Realismus“ als (Schreib- oder Denk-)Methode. Wenn überhaupt, dann hat diese Begrifflichkeit einen Sinn als inhaltliche, thematische Kategorie: realistische Beschreibung sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse).
Konnte man in den fünfziger Jahren noch mehr oder minder beunruhigt davon ausgehen, dass die in jeder Hinsicht für Literaturproduktion und Literaturproduzenten überragende Figur Johannes R. Becher war – sein Einfluss auf die Lyrik Maurers etwa, Kubas, Fürnbergs, aber auch auf den Beginn bei Fühmann, Deicke, Preissler, Cibulka u.a. ist unüberhörbar –, und dieser Einfluss nur in wenigen Fällen durch Bertolt Brecht – wie etwa im Werk Günter Kunerts – korrigiert wurde, ändert sich das Bild Mitte der sechziger Jahre zunehmend. Arendt und Huchel blieben immer von den Positionen Bechers wie Brechts relativ unberührt, Bobrowski nahm von Anfang an eine unangetastete, eigene Stellung ein, die Kunert ungefähr zur gleichen Zeit ebenfalls erreichte; mit dem Erscheinen der berühmten Anthologie Sonnenpferde und Astronauten 1964, herausgegeben von einem der besten Kenner der lyrischen Szene in der DDR, Gerhard Wolf, kündigte sich eine neue Generation an: neben Texten von Volker Braun, Uwe Gressmann und Sarah Kirsch enthielt der Band Gedichte von Wolf Biermann, die bislang einzige Publikation seiner Arbeiten in der DDR. Wenig später veröffentlichten Karl Mickel, Reiner Kunze, Wulf Kirsten wichtige Gedichtbände. Mehr als ein Generationenkonflikt zeichnete sich ab: mit vehementem Einsatz wird ein Nachholbedürfnis formuliert, das sich mindestens in gleicher Weise auf Inhalte wie auf ästhetische Möglichkeiten richtet. Eine Thematisierung mag dabei besonders ins Auge fallen, die von all diesen jüngeren und jüngsten Autoren mehr oder minder deutlich anvisiert wird: die lyrische Reflexion auf den eigenen Staat, auf „mein Land“, nicht selten im Gegenüber zum „anderen Deutschland“ der BRD. Volker Brauns Gedicht „Landgang“ – es mag hier stellvertretend für viele andere stehen – schliesst mit den Versen:

An einem Morgen, jeden Tag
Seh ich ein Land
Über dem blanken Fluss
Die Stadt, unbekannt. Das hier
Wer weiss, mag mein Land sein.
Es ist Mittwoch. Nicht sehr zugetan
All den Gegenständen, mitleidlos, geb ich
Was mich berührt dem Fluss. Die Luft

Dröhnt, die Rauchpfeile verfinstern
Den Himmel wieder. Auf dem Asfalt bewegt sich
Industrie auf Industrie zu. Langsam wächst der Beton
Hell um das Eisen zwischen die Bäume ein. Manchmal
Scheint mir ein Weg bekannt. Diesen
Umgeh ich. Als wäre alles neu wähl ich
Unter den Landschaften. Fern
Steh ich, nur mit den Sohlen, im Land.

Hinzuweisen bleibt daneben auch auf eine weitere thematische Tendenz, die erst mit den jüngeren Autoren so unverstellt ins Gedicht gerät wie bei Sarah Kirsch, Friedemann Berger, Wulf Kirsten, Andreas Reimann u.a.: das Interesse für eine wie auch immer strukturierte Innenwelt, von den Verfechtern einer „objektiven“ Aussenwelt nicht selten als pervertierte Wühlerei in den Innereien eines geschichtslosen Subjektivismus kritisiert. Diese wenigen Hinweise mögen hier genügen. Die in diesem Buch versammelten Gedichte aus der DDR sprechen für sich selbst. Es wäre schön, wenn diese Versammlung von Texten manchen Leser dazu verführt, der Literatur aus der DDR jenes Interesse entgegenzubringen, das ihr gebührt. 

Gregor Laschen, 1973, Nachwort

 

Erstmals wird hier der Versuch unternommen,

einen repräsentativen Querschnitt durch die Lyrik der DDR zu bringen: eine Lyrik, die durch ein geschärftes Sprachbewußtsein und die Auseinandersetzung mit der neuen gesellschaftlichen Realität gekennzeichnet ist. Die Anthologie enthält Gedichte so bekannter und bedeutender Autoren wie Johannes Bobrowski, Peter Huchel, Erich Arendt, Günter Kunert; sie berücksichtigt jedoch besonders stark die Werke jüngerer und jüngster Lyriker: Volker Braun, Reiner Kunze, Sarah Kirsch, Karl Mickel, Bernd Jentzsch.

Benziger Verlag, Klappentext, 1973

 

Lyrik

Deutsche Lyrik auf der anderen Seite hiess die erste 1960 von dem Holländer Ad den Besten im Westen Deutschlands herausgegebene Anthologie mit Gedichten aus der DDR. Es dauerte dreizehn Jahre, bis nun eine zweite, ähnlich umfassende Sammlung Lyrik aus der DDR erscheinen konnte. Sie ist von Gregor Laschen herausgegeben, der seine Dissertation über Lyrik der DDR schrieb und heute Dozent für deutsche Literatur in Utrecht ist.
In seinem kurzen Nachwort nennt Laschen die Kriterien, nach denen er die Auswahl getroffen hat: es ging ihm um eine Sammlung repräsentativer Texte, die zugleich Qualitätsansprüchen genügen. Sodann zeigt er – ein wenig summarisch – auf, was die DDR-Lyrik von westdeutscher Poesie unterscheidet (– etwa das Fehlen Konkreter Lyrik, der Verzicht auf die extreme Anstrengung der Sprache und ihre Thematisierung), und er skizziert mit knappen Strichen die Eigenentwicklung dieser Dichtung: von der starken Beeinflussung durch Johannes R. Becher in den fünfziger Jahren bis hin zu den jüngsten Autoren mit ihrem Interesse an der „Innenwelt“, was von den Dogmatikern bisweilen noch als „geschichtsloser Subjektivismus“ kritisiert wird.
Die Auswahl, die Laschen getroffen hat, darf als gelungen bezeichnet werden, und auch die Proportionen stimmen. Die „grossen Alten“ der DDR-Lyrik (Huchel, Arendt, Bobrowski) sind mit einer ihrer Bedeutung entsprechenden hinreichenden Zahl von Texten vertreten, und auch bei den jüngeren Autoren scheinen mir die Akzente richtig gesetzt zu sein. Erfreulich, dass Laschen auch solche Autoren zu Wort kommen lässt, die bislang in der DDR noch keinen eigenen Gedichtband veröffentlichen konnten, die aber gleichwohl Beachtung verdienen. Mit Recht hat der Herausgeber dafür Lyriker wie Deicke oder Preissler nicht berücksichtigt, die sich in der DDR gern selbst in Szene setzen und deren Namen deswegen zwar drüben häufiger genannt werden, deren Verse aber qualitativ meist höchst unzulänglich sind. Als ein Schönheitsfehler muss angemerkt werden, dass Laschen von Reiner Kunzes aus drei Stücken bestehendem Gedicht „Das kleine Auto“ nur den ersten Teil abdruckt, der sozusagen die Exposition für die beiden folgenden und hier fehlenden Texte darstellt.
Mit welchen Schwierigkeiten ein westdeutscher Herausgeber von DDR-Lyrik heute noch zu kämpfen hat, geht aus Laschens Bemerkung hervor, die Entscheidung, auf Texte von Wolf Biermann, zu verzichten, sei nicht leichtgefallen; jedoch habe sich Biermann selbst damit einverstanden erklärt, die Sammlung ohne seine Lieder erscheinen zu lassen, um das Projekt nicht zu gefährden. Noch immer also erteilen DDR-Verlage Abdruckgenehmigungen nur unter der Bedingung, dass Biermanns Name verschwiegen wird. Noch immer scheint man in der DDR nicht zu bemerken, wie lächerlich man sich im Westen mit einem solchen Boykott selbst macht.

J. P. W., Die Tat, 26.1.1974

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + KLG + ArchivKalliope
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Nachrufe auf Gregor Laschen: Tagesspiegel ✝︎ Badische Zeitung

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