Gregor Laschen & Wolfgang Schiffer (Hrsg.): Ich hörte die Farbe Blau

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gregor Laschen & Wolfgang Schiffer (Hrsg.): Ich hörte die Farbe Blau

Laschen und Schiffer (Hrsg.)-Heim-Ich hörte die Farbe Blau

WALE MENSCHEN

Die Meerdächer zu durchstoßen
aaaaaim Raketenflug
doch einzig um das Klar
aaaaades Himmels zu trinken
dann abtauchen, tief…

Wenn nun wir
aaaaaangehörten zwei Welten
Wal-Menschen
aaaaaund durchstießen den Himmel
und tränken die Finsternis
aaaaades Gewölbes
eh wir abtauchten
aaaaains Lichtmeer

wären dann wir
aaaaaklarsichtiger
in den Schatten unseres Lebens?

Hannes Sigfússon
nachgedichtet von Kito Lorenc

 

 

 

POSTKARTE AUS ISLAND

Als ich mich beugte, die Strömung zu prüfen, paar Meter
weg von der heißen Quelle, hörte ich nichts,
nur den Modderschlick und sein Geblubber.

Dann meinen Führer im Rücken, der sagte:
„Mundwarm. Sie müssen natürlich wissen,
daß
Mund ein altisländisches Wort für Hand ist.“

Du mußt wissen (aber Du weißt das längst),
wie normal dieser Druck, dieser Hauch sich anfühlte,
wenn die Innenhand des Wasser meine nahm.

Seamus Heaney

Wie bei den vorangegangenen drei Begegnungen der Werkstatt POESIE DER NACHBARN (Dichter ,übersetzen‘ Dichter) – mit Dänemark, Ungarn und Spanien – hat auch die Begegnung mit Dichtern und ihren Gedichten aus Island, die Begegnung mit einer der ältesten Sprachen der Welt Türen zum ganz Anderen hin, ins schöne Fremde eröffnet und eine Berührung mit einer Identität ermöglicht, von der der Schriftsteller Sigurdur A. Magnússon 1991 sprach:

Es gibt ein unglaubliches Interesse für Sprache in Island. Ich glaube, die meisten Isländer wissen, daß das unsere Identität ist. Wenn wir die Sprache verlieren, so sind wir selbst verloren.

Nichts mehr ist zu wünschen, als daß von diesem Wissen – und seiner ,Normalität‘ – ein Teil in unserem Sprachraum Heimat nähme.
Gedichte sind mehr als geeignet, gute zumal, dabei zu helfen. So wie das vor ein paar Jahren auf dem jährlichen Fest der Poesie Poetry International in Rotterdam gelesene „A Postcard from Iceland“ des Iren Seamus Heaney.
Ich danke allen, die die Begegnung mit Dichtung aus Island ermöglicht haben: vor allem meinen isländischen und deutschen Kollegen; meinem Mit-Herausgeber Wolfgang Schiffer und Franz Gíslason, der die deutschen Interlinearversionen der Gedichte herstellte und – wie Wolfgang Schiffer – den interpretatorischen Boden für manche Nachdichtung bereithielt, desgleichen Ilona Priebe.
Ich danke Dorothea Reese-Heim für den „Bildtext“ zu diesem Band. Besonderen Dank an Ingo Wilhelm und seine Mitarbeiter aus Mainz und im Künstlerhaus Edenkoben: Ulrike Thelen, Claudia Beuerlein, Stefanie Lohnes und Volker Beyer, ohne deren Anteilnahme am Projekt heute nicht ein so schönes Ergebnis vorläge.
POESIE DER NACHBARN: Das fünfte Buch in dieser Reihe wird Dichter aus den Niederlanden vorstellen.

Gregor Laschen, Vorwort

Poesie in Eis und Feuer

„Island ist ein kleines Land, weitab von anderen Völkern.“ – Mit diesem Zitat aus einem isländischen Geographiebuch charakterisiert der Schriftsteller Guđbergur Bergsson den Inselstaat im äußeren Nordwesten Europas und umschreibt damit augenzwinkernd eine Problemlage seiner Nation, die sich gleichermaßen mischt aus geographischer Ferne, relativer Vernachlässigung von seiten anderer Länder und einem ausgeprägten Traditions- und Nationalbewußtsein der Isländer selbst.
Terra incognita ist dieses nur etwa 250.000 Einwohner auf einer Fläche von 130.000 qkm zählende Land in vielerlei Hinsicht dennoch nicht. Bekannt ist seine Geschichte, die um 870 mit der ersten dauerhaften Besiedlung, der Landnahme durch norwegische Wikinger begann, durch nach Unabhängigkeit strebende Menschen, die der feudalen Entwicklung ihres Heimatlandes zu entkommen suchten. Bereits im Jahr 930 etablierten sie auf Island eine von staatlicher Macht und Beeinflußung freie Gesellschaft, deren höchste Instanz das Althing, die gesetzgebende und rechtsprechende Versammlung freier Bauern war. Weitgehend bekannt und steter Quell neuer wissenschaftlicher Forschung wie touristischen Natur- und Abenteuerdrangs ist unter anderem seine geologische Beschaffenheit, sei es die der Fjorde, Täler und Seen, der Hochebenen und Gletscher wie natürlich der Vulkane, denen die Insel im Bereich der Kontinentalspalte zwischen Europa und Amerika ihr Entstehen verdankt. Bekannt, zumindest in kultur- und besonders in literaturinteressierten Kreisen, ist Island natürlich auch als das Land der Edda und – mit Einschränkungen – der Skaldendichtung, vor allem aber der Sagas, jener im Spätmittelalter aufgezeichneten Familiengeschichten, die in Europa erstmals in Form realistischer weltlicher Prosa von der nunmehr über 1.000 Jahre zurückliegenden Zeit der Landnahme und der späteren Christianisierung berichten.
Diesen literarischen Schätzen des sogenannten „Goldenen Zeitalters“, den Isländern nicht zuletzt durch die weitgehende Bewahrung der altnordischen Sprache noch heute überaus beliebter Lesestoff und daher intensiv vertraut, galt seit jeher ein besonderes Interesse der Deutschen, das sich in einer früheren und gründlicheren Aneignung als anderswo dokumentiert. Der neueren isländischen Literatur, vor allem der zeitgenössischen gegenüber herrschte jedoch eher Zurückhaltung, ja, nach dem zweiten Weltkrieg schien es für lange Zeit sogar so, als sollte im Gegensatz zur mittelalterlichen die moderne literarische Landschaft Islands nahezu unvermessen bleiben.
Mag es nach dem Versuch der Vereinnahmung der „nordischen“ Literatur durch den Nationalsozialismus an Berührungsängsten der Verleger oder an fehlenden literarischen Scouts und Übersetzern gelegen haben, Tatsache ist, daß mit Ausnahme der Werke des Nobelpreisträgers Halldór Laxness, und selbst die eigentümlich verstreut ediert und nicht selten von zweifelhafter Übertragungsqualität, und der Neuauflage der Romane Gunnar Gunnarssons, der zum Teil auf dänisch geschrieben hatte, Island auf dem deutschen Markt im Prinzip nicht vertreten war. Eine Bibliographie weist zwar noch einige wenige vergriffene Titel nach, Sammelbände und Einzelpublikationen, die vornehmlich in der damaligen DDR publiziert worden waren, aber gemessen am reichen literarischen Leben in Island hatten bis etwa Mitte der 80er Jahre erstaunlich wenige zeitgenössische Autorinnen und Autoren das deutsche Lesepublikum erreicht. Und selbst als sich danach, nicht zuletzt durch die Risikobereitschaft kleinerer Verlage, die Situation zu verbessern begann, richtete sich das Interesse überwiegend auf Prosa; die neuere isländische Lyrik blieb hierzulande weiterhin so gut wie völlig unbekannt.
Erschienen sind bis heute mehr oder weniger nur erste Beispiele verschiedener Lyriker in der lsland-Anthologie der Zeitschrift die horen, der poetische Zyklus Die Zeit und das Wasser von Steinn Steinarr und erst jüngst eine Werkauswahl von Stefán Hörđur Grimsson unter dem Titel Geahnter Flügelschlag (beide im Kleinheinrich-Verlag). Der vorliegende Band versteht sich auch als ein weiterer Schritt, diesem unbefriedigenden Zustand abzuhelfen.

*

Bevor nun auf die hier vorgestellten zwei Dichterinnen und vier Dichter und ihre Stellung in der modernen isländischen Poesie näher eingegangen werden soll, bedarf es noch der Beantwortung einer sich aufdrängenden Frage und eines kurzen historischen Exkurses. Die Frage: Kann denn, angesichts von nur 250.000 Isländern mit einer Sprache, die von niemandem sonst gesprochen wird, die Behauptung vom Reichtum des literarischen Lebens überhaupt Gültigkeit haben? Einige Zahlen mögen als Beleg dienen. Der isländische Schriftstellerverband zählt zur Zeit etwa 320 Mitglieder, und da nur aufgenommen wird, wer mindestens zwei Bücher oder analoge Werke publiziert hat, liegt die Vermutung nahe, daß schon allein aufgrund dieses Reglements die Hälfte aller Autorinnen und Autoren darin nicht vertreten ist.
Im isländischen Verlegerverband sind gut 50 Mitglieder organisiert, zumindest 10 der Verlage sind von größerer Bedeutung für die schöngeistige Literatur. Ihre jährliche Buchproduktion umfaßt bei einer Gesamtauflage von ca. 1.000.000 Exemplaren durchschnittlich mehr als 1.000 Titel, davon etwa ein Drittel aus dem Bereich der Belletristik mit 30 bis 40 isländischen Originalromanen und doppelt sovielen Lyrikbänden, von denen manche, durchaus nicht ungewöhnlich, auch in Eigenverlagen erschienen.
Statistisch gesehen kommen somit auf jeden Isländer 4 Bücher pro Jahr, und der Umgang damit, vor allem mit der Lyrik, ist trotz wachsender Medienzerstreuung und vielerlei Ansprüchen einer Informationsgesellschaft alles andere als passiv: Man kennt seine Dichter und nicht nur in Fachkreisen debattiert man über ihre Arbeiten und Qualitäten häufig mit demselben Eifer wie über wichtige Staatsangelegenheiten.
Der Exkurs: Island, noch heute ohne eigenes Militär, hat nie Kriege mit anderen Nationen geführt, doch verlor es selbst seine Unabhängigkeit und kam 1262 zunächst unter norwegische, später mit Norwegen unter dänische Herrschaft. Für beinah sechs Jahrhunderte geriet das Land in eine erzwungene Isolation, die es von den kulturellen und politischen Entwicklungen des Kontinents abschnitt. Das Handelsmonopol der Dänen erschwerte jeden wirtschaftlichen Kontakt, die daraus resultierende ökonomische Misere wurde besonders im 17. und 18. Jahrhundert verschärft durch Naturkatastrophen, folgenschwere Vulkanausbrüche mit Seuchen und Hungersnöten. Die Bevölkerung, drastisch reduziert, existierte buchstäblich nur noch am Rand des Überlebens.
Und dennoch, selbst in dieser Periode schlimmsten Elends, stagnierte die kulturelle Tätigkeit nicht völlig, unter anderem wurde bis zum Ende der sogenannten „dunklen Jahrhunderte“ die allgemeine Schriftkundigkeit erreicht. In der Folge erinnerte sich das Island des 19. Jahrhunderts mehr als zuvor wieder des „Goldenen Zeitalters“.
Jón Sigurdsson, Politiker und Gelehrter, wurde zur Leitfigur des Kampfes um die erneute Unabhängigkeit. Die wiedererblühende Dichtung, von den romantischen und nationalen Ideen des Festlands geprägt, pries in überwiegend altnordischer Formtradition, das heißt, mit Stab- und Endreim und in strikter Metrik, die Schönheiten des Landes und die Reinheit der Sprache; sie verkündete ein neues Zeitalter, das politische Autonomie und nationale Identität versprach. Diese Bewegung dauerte im Prinzip in verschiedenen Formen an bis zum zweiten Weltkrieg, ja, bis zur vollständigen Unabhängigkeit von Dänemark und Gründung der parlamentarischen Republik Island im Jahre 1944.
Der zweite Weltkrieg brachte die weitgehende Isolation der Insel zu einem abrupten und nicht von allen akzeptierten, wie es manchmal zu hören ist, „segensreichen“ Ende. Die Besetzung durch die Engländer im Jahr 1940 und ein Jahr später durch die Amerikaner bedeutete für das Land einen Einschnitt, der nicht nur die Öffnung kultureller Grenzen und größeren Wohlstand brachte, sondern auch in radikaler Weise die bisherige Lebensform veränderte; innerhalb kürzester Zeit vollzog das Land den Sprung von einer primär bäuerlichen Gesellschaft auf die Stufe einer urbanen Industriegesellschaft mit allen international-politischen Implikationen und Konsequenzen.
Besonders umstritten in der Bevölkerung war der Gründungsbeitritt Islands zur Nato und das spätere Einverständnis der damaligen Regierung zur Stationierung amerikanischer Truppen, die die Insel zu einem wichtigen militärstrategischen Punkt im nordatlantischen Raum machte. Vor allem Schriftsteller und Intellektuelle bezogen in dieser Auseinandersetzung aktiv Stellung, so Halldór Laxness mit seinem Roman Atomstation. Am radikalsten aber reagierte die Lyrik auf die gesellschaftlichen Veränderungen, sie meldete mit Vehemenz den Anspruch der Moderne an.
Eine Schlüsselrolle spielte hierbei Steinn Steinarr, vor allem mit seinem bereits erwähnten Zyklus Die Zeit und das Wasser, ein schmales, aber in seinen eine surreale Einheit schaffenden Symbolverschränkungen und Bildevokationen gewichtiges Werk, das zweifellos durch die Beschäftigung mit Autoren wie Garcia Lorca, T.S. Eliot, Ezra Pound oder der schwedisch-schreibenden Dichterin Edith Södergran angeregt und bestätigt wurde.
Darüberhinaus war es vor allem eine Gruppe von fünf Dichtern, die mit ihren Debüts in den Jahren 1946 bis 1953 das überwiegend konservative, noch bäuerliche Publikum mit neuen Inhalten und einer ungewohnten Ästhetik konfrontierte, die sich entschieden von der normativen, durch Edda- und Skaldendichtung nachhaltig beeinflußten Formtradition lossagte. Das Mißfallen der Leserschaft brachte ihnen zunächst das abschätzig gemeinte Etikett „Atomdichter“ ein, als vermeintliche Exponenten ausländischer Unkultur wurden sie den Traditionalisten gelegentlich sogar zur Zielscheibe des Spotts.
Die Tatsache, daß die „Atomdichter“ jedoch niemals eine literarische Schule oder Bewegung darstellten, sondern eher als eine lose, in sich sehr heterogene Gruppe zu sehen sind, muß allerdings als Hinweis dafür gesehen werden, daß ihre kritische Reform lyrischer Traditionen keine willkürliche, allein durch ausländische Trends beeinflußte Entscheidung war, wie mancher behauptete, sondern allein einer tiefen persönlichen Notwendigkeit entsprach, neue dichterische Mittel zu finden, um ihre Visionen in einer veränderten politischen und sozialen Realität adäquat zum Ausdruck bringen zu können.
Zur Gruppe der „Atomdichter“, deren revolutionäre Bedeutung für die isländische Poesie inzwischen natürlich längst erkannt ist und ihren Vertretern höchste literarische Ehren eingebracht hat, gehören Stefán Hörđur Grímsson, Sigfús Dadason, Jón Óskar, Einar Bragi und der in diesem Band vorgestellte Hannes Sigfússon. Bereits sein erster Band Dymbilvaka (Karwoche), entstanden im Leuchtturm von Reykjanes und 1949 publiziert, weist jene Merkmale auf, die das Werk des Dichters bis heute prägen: die Darstellung seines zertrümmerten Weltbildes, die zwischen Hoffnung und Apokalypse schwankende Ausdeutung der Zukunft der Menschheit, ein oftmals geradezu hermetischer Stil, der von der schmerzhaften Reibung, vom Zwiespalt zwischen sozialer Botschaft und dem Ringen um eine individuelle poetische Sprache zeugt.

*

In Hannes Sigfússon einen der Repräsentanten der beginnenden Moderne in der isländischen Nachkriegslyrik zu sehen, wird niemand bezweifeln wollen; weniger eindeutig kann dies allerdings über die weiteren fünf Autorinnen und Autoren dieses Bandes in Bezug auf die nachfolgende Entwicklung gesagt werden.
Die fortgeführte Auseindersetzung mit der Formtradition wie der kreative Umgang mit der ästhetischen Innovation der „Atomdichter“ haben in Island zu einer gegenwärtigen poetischen Landschaft geführt, die gekennzeichnet ist durch eine Vielfalt der Stimmen, einen großen Reichtum an Ausdrucksmitteln, durch Abgrenzung, Synthese und Nebeneinander alter und neuer Formen. Selbst die gewichtigsten Nuancen dieser Entwicklung in einer Auswahlanthologie zu berücksichtigen, ist unmöglich; für den Versuch, quasi „durch die Generationen“ markante Eckpfeiler der zeitgenössischen isländischen Lyrik zu setzen, sind die Beispiele dieses Bandes jedoch sinnfällige, bei aller individueller Ausprägung auch verweisende Belege.
Matthías Johannessen, ein vielseitiger Autor und in seiner Arbeit als Chefredakteur der größten Tageszeitung Islands und deren Kultur-Beilage Lesbók engagierter Förderer literarischer Diskussion und internationalen Austauschs, hat dabei unverkennbar die „offene“ Gedichtform weiterentwickelt, ohne allerdings darauf zu verzichten, traditionelle Gestaltungselemente in den freien Vers und mythologische Bezüge in zeitgenössischen Kontexten zu verweben. „Sein Gedicht“, so sagt es der isländische Kritiker Pórdur Helgason, „ist das Gedicht, das durch die Straßen geht, ein Gespräch anfängt mit den Zeitgenossen, ihnen Altes wie Neues zu berichten hat, und sich für alles interessiert.“ Deutlicher noch als bei Johannessen sind die Rückgriffe auf die nordische, aber auch christliche Mythologie in vielen Gedichten Baldur Óskarssons, die ihm im Zusammenwirken mit dem Gebrauch einer eigenwilligen Metaphorik und der Wiederbelebung komplex ausdeutbarer veralteter Worte und Wortformen als Stilmittel den Ruf eingebracht haben, einer der „dunkelsten“ unter den isländischen Modernisten zu sein. Baldur Óskarsson sieht sich selbst in der Tradition der „Atomdichter“, doch ist sein Schaffen nachweislich stärker angeregt durch den Konkretismus und den Surrealismus auf dem Kontinent; eine Befruchtung, die auch in seiner Beschäftigung mit der Malerei zum Beispiel von Giorgio de Chirico und Max Ernst ihre Wurzeln und poetische Wirkung hat.
Ingibjörg Haraldsdóttirs Werk ist geprägt von den langjährigen Aufenthalten der Autorin in Kuba und Rußland. Gleichsam von außen wirft es einen Blick auf Island, Zielpunkt eines „lyrischen Ichs“, das sich fremd fühlt in den kulturell so unterschiedlichen Ländern und feststellen muß, daß diese Fremdheit auch dann existentiell bleibt, wenn die Rückkehr erfolgt ist. Diese Erfahrung überlagert alle Bereiche: das Selbstverständnis, die zwischenmenschlichen Beziehungen, den politischen und kulturellen Diskurs, die Sprache als Instrument der Verständigung. Dies mitzuteilen, gelingt Ingibjörg Haraldsdóttir in einfachen, schmucklos-transparenten Bildern. Wiewohl ihr der kreative Formenstreit in der isländischen Lyrik alles andere als unbekannt ist, haben die lange geographische Distanz und die Aneignung vornehmlich spanischer Literatur ihr offensichtlich eine Stilbildung erleichtert, die weitgehend frei ist von klassischen rhetorischen Mitteln.
Würde man Linda Vilhjálmsdóttir, mit 34 Jahren eine Vertreterin der jüngsten isländischen Lyrik, fragen, ob sie sich in einer der beiden Traditionslinien sehe, der mittelalterlichen und deren nationaler Renaissance oder der avantgardistischen der „Atomdichter“, so wäre ihre Antwort zweifellos ebenso mehrdeutig wie der Umgang mit einschlägigen literarischen Motiven in manchen ihrer Gedichte selbst. Erschienen ist, nach früheren Veröffentlichungen in Literaturperiodika, von der als Krankenschwester tätigen Autorin bislang erst ein Gedichtband, doch dieser erregte sogleich große Aufmerksamkeit. Vor allem ihre Liebesgedichte zeugen von bedingungsloser Emotionalität, werden zu provozierenden poetischen Psychogrammen weiblicher und zwischenmenschlicher Befindlichkeit. Auffälliges Stilmerkmal ist dabei die ungewohnte Verwendung von Farbwörtern, die, häufig als Gegensatzpaare gesetzt, seelische Zustände in ebenso treffsicheren Bildern aufreißen, wie sie der Beschreibung von Landschaft eine Metaebene geben, die über pure Naturlyrik hinausweist. Linda Vilhjálmsdóttirs literarische Perspektive ist die einer jungen Frau im modernen, städtischen Island heute, doch halten ihre Gedichte stets auch Zwiesprache mit Formen und Topoi der Tradition, und dies, wie ihre Kritikerin Silja Ađalsteinsdóttir sagt, mit „charmanter Selbstsicherheit“, gelegentlich, so ist hinzufügen, sogar mit ironischer Distanz und Selbstironie.
Als „Homer Islands“ wird der Jüngste der hier vorgestellten Lyriker bezeichnet: Gyrđir Elíasson. Zwei Romane, zwei Bände mit Erzählungen und acht Lyrikbände hat er bereits veröffentlicht und dabei vor allem in seiner Poesie Entwicklungen durchschritten, deren Abschluß noch lange nicht zu sehen ist. Einem sozial engagierten Realismus in den 70er Jahren setzte er in seinen ersten Publikationen eigene Symbolsysteme entgegen, löste die Worte von der Wirklichkeit ab, bis sie zu Chiffren eines individuellen poetischen Kosmos wurden. Mit der gleichen sprachlichen Sensibilität fing er später in Erzählgedichten und lyrischer Prosa isländisches Milieu, den Alltag ein, schichtete auch Phantasmagorien aufeinander, die sich ebenso aus den Schrecken der Konsumwelt speisen wie aus Motiven heimatlicher Fabelkunst und anhaltendem Gespensterglauben. Bei all dem kennt Gyrđir Elíasson sich aus in der modernen Poesie der Welt; eher als auf die isländische Tradition und auf Europa scheint sein Blick jedoch auf Amerika gerichtet; ja, in jüngster Zeit findet eine Art mystischer Einstellung zur Natur ihre Analogie in der Einfachheit sprachlicher Bilder, die auch auf eine intensive Auseinandersetzung mit asiatischen Traditionen schließen läßt.
Und doch gilt selbstverständlich auch für ihn, was Matthías Johannessen in einem Interview allgemein zur isländischen Poesie und ihren Urhebern sagt:

Die Isländer haben immer viel von fremden Völkern gelernt, doch haben wir stets darauf geachtet, uns wie der Lachs zu verhalten. Auch wenn der Lachs Krebse frißt, wird er deswegen nicht selbst zum Krebs. Unsere Insel liegt weit draußen im Meer, und wir müssen mit dem Meer, den Bergen und den Gletschern kämpfen. Dieses Land fließt in unserem Blut, es ist unser Blut, und dieses Land ist anders.

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Bleibt zum Schluß die Hoffnung, daß dieser Band auch etwas von diesem „Anderssein“ vermitteln möge, auf anhaltende, neugierig machende Weise. Danken möchte ich für Hinweise und Anregungen zu meinem Text: Sæemundur Halldórsson in Bonn sowie Franz Gíslason und Eysteinn Porvaldsson in Reykjavik.

Wolfgang Schiffer, Nachwort

 

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Wolfgang SchifferRauchzeichen über isländische Literatur in der Sendung Ich sag mal – Bibliotheksgespräch.

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Wolfgang Schiffer: 40 Jahre Literaturleben.

 

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Nachrufe auf Gregor Laschen: Tagesspiegel ✝︎ Badische Zeitung

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