Jürgen Theobaldy: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Fragen eines lesenden Arbeiters

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon –
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?

Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen.

 

Die Tradition ist umkämpft

Geschichtsbücher sind lange Zeit, ehe sie von Fachbüchern abgelöst wurden, bevorzugte Lektüre sich bildender Arbeiter gewesen. Wie das Gedicht hier öffnen sie den Blick auf Räume und Zeiträume, sie entwickeln eine perspektivische Schau der Epochen und reizen zum Widerspruch, wenn die offene oder uneingestandene Wertung der Ereignisse dem aktuellen Erkenntnisinteresse nicht mehr genügt. Denn was mit der Entscheidung des Historikers für seine Art der Darstellung in den toten Winkel rückt, vermißt der Leser, der im Zugriff auf das Vergangene die Gegenwart zu sichten sucht. Die schlichte Frage: Was bleibt? enthält ihren Zündstoff. Und wo die Geschichte nur von den Siegern geschrieben wird, schwindet aus der Welt, was von den Unterlegenen zu erfahren, wenn nicht zu lernen gewesen wäre.
Nun gibt es aber Unterlegene immer auch im Lager der Sieger. Die Geschichtsbücher, die der „Arbeiter“ liest, scheinen den Anteil der Namenlosen an den Taten der Großen als gering einzustufen. Hier setzen die „Fragen“ an. Ingrimmig und nicht ohne Witz schreitet die erste und längste Strophe fort von der Fron des Häuserbaus über Grenzbefestigungen, Triumphbögen und Paläste zum sagenhaften Untergang eines sagenhaften Reichs, bei dem die sozialen Abhängigkeiten bis zuletzt auf groteske Weise bestehenblieben. Als mache die Herrschaft über andere blind vor der nahenden Katastrophe, weil die eigenen Privilegien immer noch näher sind. Nicht nur die Berichte des
Club of Rome drohen dies im Weltmaßstab zu bestätigen.
Mit einem scharfen Schnitt wendet sich die zweite Strophe dem Kriegsruhm zu. Die mythenbeladene Sieben spannt den Bogen vom alten Theben nach Potsdam, Andeutung eines Zahlenspiels, das der Zahlenmagie wohl nichts hinzufügen will. Danach werden die Verse lapidar und ziehen Schlußstriche; die beiden letzten fassen die Problematik der Geschichtsschreibung auf das knappste zusammen. Aber ist das Gedicht nur eines über deren Probleme? Brecht hat es 1935 im Exil geschrieben und vier Jahre später den „Chroniken“ in den „Svendborger Gedichten“ vorangestellt, einer Sammlung, die alle Facetten seiner politischen Lyrik zeigt, vom Kinderlied über das Agitationsgedicht bis zum Lobgesang auf einen damals schon von Stalin zugerichteten Kommunismus.
Die „Fragen“ indes halten die Mitte zwischen Agitprop und aufgesetztem Lehr- oder Ermutigungsgedicht. In den sechziger Jahren hörte ich sie aus Megaphonen auf Oster- und Friedensmärschen, wo sie die Gewißheit stiften sollten, daß sich da eine künftige Mehrheit zusammenfinde. Seit mit dem Ende des Kommunismus in Osteuropa auch hier die Schlacken der Ideologie abgefallen sind, lassen sich die Fragen nicht mehr mit Antworten verwechseln; mehr noch als nach diesen verlangt das Gedicht nach weiteren Fragen. Erstaunlicherweise, da doch ein „Arbeiter“ liest, spricht es von keinen Revolutionen. Weil Usurpatoren selbst die siegreichen an sich rissen und dann ihr eigenes Geschichtsbild in Auftrag gaben? Die russische Revolution war für Brecht schon damals mehr als Zeitgeschichte, wie Chroniken über die „Große Metro“ in Moskau und Lenin ehrende „Teppichweber von Kujan-Bulak“ belegen. Wer bezahlte ihre „Spesen“?
Das Gedicht enthält sich jeder Auskunft. „Fragen“ ist sein erstes und sein letztes Wort. Dazwischen stehen die Vorbehalte und Einwände eines Dichters, der auf seinem Grabstein, wenn überhaupt, für seine Vorschläge geehrt sein wollte. Aber Vorschläge von Dichtern werden nie angenommen. Sie sind auch nie schon deshalb richtig, weil sie von Dichtern stammen. Daß jedoch Geschichtsschreiber heute Brechts Fragen stellen, ehrt sie und ihn.

Jürgen Theobaldyaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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