Lilja Brik: Schreib Verse für mich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Lilja Brik: Schreib Verse für mich

Brik-Schreib Verse für mich

ERINNERUNGEN

In meinen Erinnerungen will ich weder von dem Revolutionär noch von dem literarischen Kämpfer Majakowski erzählen. Majakowski als Verfechter bestimmter künstlerischer Prinzipien, an die er sich nicht mehr „heranschimpfen“ konnte, und den Bolschewiken Majakowski kennen alle, die ihn gelesen haben, ob sie ihn nun mögen oder nicht. Beides lasse ich aber nicht deshalb außer Betracht, weil es mir unwichtig erschiene – im Gegenteil, es bedeutet mir sehr viel, denn es war Bestandteil unserer Liebe und Partnerschaft –, sondern weil ich meine, daß es besser Gegenstand unserer Literaturforschung und Geschichtsschreibung bleiben sollte. Meine Aufgabe sehe ich eher darin, eine Seite des Dichters und Menschen Majakowski zu schildern, von der nur wenige wissen, nicht aber einen anderen Majakowski zu zeigen – weil es diesen nicht gibt. Majakowski ist ein unteilbares Ganzes.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei noch erwähnt, daß ich, als Majakowski und ich zusammenfanden, schon mehr als ein Jahr nicht mehr Ossip Briks Frau war. Von einer „ménage à trois“ kann nicht die Rede sein. Als ich Brik sagte, daß Majakowski und ich uns liebten, antwortete er, er könne mich verstehen, wünsche sich aber, immer bei mir zu bleiben. Dies schreibe ich, damit dem Leser alles Folgende begreiflich wird.

 

Der Selbsterhaltungstrieb
treibt manchmal zum Selbstmord.

Stanislaw Jerzy Lec

Mit Majakowski hat mich meine Schwester Elsa im Sommer 1915 in Malachowka bekannt gemacht. Eines Abends saß ich mit ihr und Ljowa Grinkrug auf der Bank vor unserer Datsche.
Der glimmende Punkt einer Papirossa. Ein gedämpfter sanfter Baß:
„Eli! Sind Sies? Kommen Sie ein Stück mir?“ Ljowa und ich blieben auf der Bank.
Spaziergänger kamen vorbei. Es fing an zu regnen. Ein kleiner, leise raschelnder Sommerregen. Wo Elsa nur blieb? Unser Vater war sterbenskrank. Unmöglich, ohne sie nach Hause zu kommen. Man würde sich Sorgen machen: Wo ist sie? Mit wem? Wieder mit diesem Futuristen?! Das nimmt noch mal ein böses Ende…
Wir zogen den Mantel über den Kopf, saßen wie auf Kohlen. Eine halbe Stunde verging, eine Stunde… Der Regen war zum Glück nicht stark, doch im Wald, unter den Bäumen, leider nicht zu bemerken. Dort war wohl manches nicht zu bemerken, auch nicht die Zeit!
Elender Regen! Nirgends ein Lichtblick! Schade, daß es schon so dunkel war, gern hätte ich Majakowski genauer gesehen. Ein Hüne jedenfalls… Und eine schöne Stimme…
Vor dieser Begegnung hatte ich Majakowski schon einmal gesehen, aber nur von weitem – in Moskau, bei einem Balmont-Jubiläum im Literatur-und-Kunst-Zirkel. Was dort alles gesprochen wurde, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch, daß es in den höchsten Tönen geschah, nach Jubiläumsart eben, und daß nur Majakowski aus der Rolle fiel. Er sprach „im Namen Ihrer Feinde“. Früher, so sagte er, mag es „schön für die Stufen“ gewesen sein, „unter den Füßen zu beben“, er seinerseits ziehe heutzutage den Fahrstuhl vor. Das gefiel mir, hatte Pfiff. Brjussow soll ihm an einem der nächsten Zirkelabende die Leviten gelesen haben: Zu einem Jubiläum, wie kann man nur!, dabei aber sichtlich voll Schadenfreude, daß Balmont eins abgekriegt hatte.
Balmont nahm die Zeremonie ohne ein Fünkchen Selbstironie entgegen. Von Verehrerinnen gestützt, taperte er umher, und als ein Fräulein heranflatterte und halb wimmernd, halb tirilierend um einen Begrüßungskuß bat, hielt er ihr vollkommen ernst und feierlich den gespitzten Mund hin.
Brik und ich bestaunten Majakowski, waren aber nach wie vor von ihm befremdet; besonders ich konnte mich nicht genug über diese Skandalhelden entrüsten, bei denen kein Auftritt ohne zertrümmerte Stühle und Polizei abging. Wir unternahmen nicht einmal den Versuch, dahinterzukommen, worum es ihnen ging.
Und dieser gemeingefährliche Futurist hatte meine Schwester in den Wald entführt!
Endlich das Glimmen der Papirossa. Ein weißes Oberhemd. Elsa in Majakowskis Jackett.
„Was fällt dir ein! Du weißt, ohne dich kann ich nicht heim! Da glucke ich wie eine Blöde im Regen…“ „Birte, Wladimir Wladimirowitsch, was habe ich Ihnen gesagt?“
Majakowski steckte sich an der Kippe eine neue Papirossa an, schlug den Kragen hoch und verschwand im Dunkeln. Ich, inzwischen klitschnaß, schimpfte mit Elsa, schleppte sie wütend ins Haus. Unsere Mutter beklagte sich über Majakowski: Dauernd kommt er anspaziert, sitzt die halbe Nacht bei der kleinen Elsa; neulich mußte sie sogar noch mal aus dem Bett, um ihm den Marsch zu blasen. Und am andern Tag, was hat er ihr da erklärt? Er sei „zur Tür raus und zum Fenster wieder rein“! Majakowski mokierte sich über unser Bild „Die Toteninsel“, versuchte es uns zu verleiden. Als er Elsa einmal nicht angetroffen hatte, hinterlegte er eine gelbe Visitenkarte im Format dieser Reproduktion. Mutter reichte sie ihm mit der Bemerkung zurück: „Wladimir Wladimirowitsch, Sie haben bei uns Ihr Aushängeschild vergessen.“
Majakowski war damals ein Stutzer – Cutaway, Zylinder usw. All diese Sachen hatte er freilich aus der Sretenka, der Straße mit den Geschäften für Billigkonfektion. Gelegentlich fiel er mit seinem Stutzertum auf die Nase. Einmal hatte er eine Verabredung mit Elsa, wollte mit ihr nach Sokolniki. Doch nachts verlor er beim Kartenspiel, und so erschien er am Morgen in Cutaway und Zylinder, gezwungen, „seine Dame“ statt mit der Droschke mit der Straßenbahn auszufahren.
Wir wohnten damals in Petrograd, hatten eine winzige Wohnung. Eines Abends, etwa einen Monat nach unserer zufälligen Begegnung in Malachowka, läutete es an der Tür, gleich darauf hörte ich aus der Diele eine Stimme, die mir bekannt vorkam, und plötzlich stand Majakowski vor mir – groß, hübsch, braungebrannt (er war aus dem finnischen Kuokkala gekommen); im Nu dominierte er den ganzen Raum und begann was das Zeug hält zu prahlen – es gebe keine besseren Gedichte auf der Welt als seine, wir verständen sie aber nicht, könnten sie nicht mal lesen; so genial seien nur noch die von Achmatowa. Damals fand ich es furchtbar peinlich, wenn jemand sich selber herausstrich, und ich sagte liebenswürdig, doch spitz, leider hätte ich seine Gedichte noch nicht gelesen, wolle mich aber gern bemühen, sie zu verstehen; wenn er also welche mithabe… Er legte mir eins auf den Tisch – „Mama und ein von den Deutschen erschlagener Abend“. Ich las es vor. Majakowski wunderte sich, daß ich ohne zu stocken las, und fragte mißtrauisch: „Gefällt es Ihnen nicht?“ Ich antwortete: „Nicht besonders.“
Unser Vater war gestorben. Ich fuhr nach Moskau zu seiner Beerdigung. Von dort kam Elsa nach Petrograd mit, wo sich auch Majakowski einfand, wieder von Kuokkala herübergekommen. Nach der Begrüßung musterte er mich nachdenklich, ein Schatten flog über sein Gesicht, und er sagte: „Sie sind katastrophal mager geworden…“ Diesmal war er ganz anders als bei seinem ersten, so überraschenden Besuch. Keine Spur Hemdsärmligkeit mehr. Schweigend, beunruhigt sah er mich an.
Wir flüsterten Elsa zu: „Laß ihn bloß nichts lesen!“ Aber sie scherte sich darum nicht, und so kam es, daß wir an diesem Tag erstmals sein Poem Wolke in Hosen hörten.
Aus Platzmangel hatten wir die Tür zwischen beiden Zimmern ausgehoben. Majakowski lehnte sich an den Türsturz, zog ein Heft aus dem Jackett, warf einen Blick hinein und steckte es wieder weg. Er überlegte einen Moment. Dann ließ er die Augen umherschweifen, als hätte er einen weiten Hörsaal vor sich, sprach den Prolog und fragte lässig, mit leiser, mir unvergeßlicher Stimme:
„Ihr meint wohl: Malaria? Fieberdelirien? O nein: das ist in Odessa geschehen.“
Wir hoben den Kopf wie gebannt, ließen bis zum Schluß kein Auge von ihm.
Er stand aufgerichtet, ohne ein einziges Mal die Haltung zu wechseln. Sah niemanden an. Ging in dem, was er sprach, ganz auf. Klagte, wetterte, spottete, forderte, eiferte, raste. Zwischen den Kapiteln machte er eine kleine Atempause.
Schon saß er wieder am Tisch und verlangte in gespielt laxem Ton einen Tee. Ich schenkte ihm hastig ein. Ich schwieg, doch Elsa frohlockte: Seht ihr wohl!
Brik fand als erster die Sprache wieder. Wer hätte das gedacht! Unglaublich! In der ganzen Poesie kenne er nichts Besseres. Majakowski sei ein ganz großer Dichter, selbst wenn er nichts anderes mehr schreiben sollte. Er ließ sich das Heft geben und behielt es den ganzen Abend in der Hand. Das alles war für uns wie die Erfüllung eines langgehegten Traums. In letzter Zeit hatten wir kaum noch Lust zum Lesen gehabt. Alles, was an Poesie erschien, kam uns langweilig und läppisch vor – es wurde nicht richtig und nicht von den Richtigen und nicht das Richtige geschrieben. Aber hier war alles beisammen: richtig, der Richtige, das Richtige.
Majakowski saß neben Elsa und schlürfte Tee mit Konfitüre. Er strahlte. Ich brachte kein Wort heraus.
Majakowski nahm Brik das Heft weg, schlug es auf, fragte mich: „Darf ich es Ihnen widmen?“ und schrieb mit gesammelter Miene über die Überschrift: „Für Lilja Jurjewna Brik“.
In Kuokkala hatte er die Wolke schon Gorki und Tschukowski vorgetragen; Gorki, so sagte er, habe sogar geweint.
Tschukowski gestand uns später „unter dem Siegel der Verschwiegenheit“, Majakowski versetze ihn derart in Aufregung, daß er nicht arbeiten könne, wenn er sich ebenfalls in Kuokkala aufhält.
An diesem Abend nahm Majakowski ein Zimmer im nahen Palais-Royal, fuhr nicht nach Kuokkala zurück, dort seine Dame wie auch seine Sachen, sogar die zum Waschen gegebene Wäsche ihrem Schicksal überlassend.
Brik fragte, wo das Poem erscheinen würde, und geriet außer sich, als er hörte, daß es keiner haben wolle. Und es selbst drucken lassen, was würde das kosten? Majakowski rannte zur nächsten Druckerei und erkundigte sich: Tausend Exemplare – 150 Rubel, war, soweit ich mich erinnere, die Antwort, aber es könne in Raten gezahlt werden. Brik gab Majakowski die erste Rate und versprach das übrige noch aufzutreiben. Also trug Majakowski das Manuskript zur Druckerei.
Sein Gestaltungsprinzip war: „nur das Nötigste“; er verzichtete sogar auf die Interpunktionszeichen. Der Sprach- und Literaturwissenschaftler I.B. Rumer, ein Cousin von Brik, bemerkte dazu amüsiert: „Erst habe ich mich gewundert: Wo ist denn die Interpunktion hin? Aber dann fand ich sie – am Schluß des Bandes, zusammengefaßt!“ Das letzte Kapitel war von der Zensur verboten worden, Majakowski hatte statt seiner Punkte setzen lassen.
Bevor er das Manuskript in den Druck gab, überlegte er lange, wie die Widmung aussehen solle: „Für Lilja Jurjewna Brik“ oder „Für Lilja“? Am besten fand er: „Dir, Litschika“ – eine Mischung aus „Liletschka“ und „litschiko“, Gesichtchen –, entschied sich dann aber für: „Dir, Lilja“.
Ich fragte Majakowski, wie sich das reime – etwas für die eine Frau (Maria) zu schreiben und es der anderen (Lilja) zu widmen? Er antwortete ungefähr so: Als er das Poem schrieb, war er in mehrere Frauen verliebt; die Maria im Poem hat mit der realen Maria aus Odessa nur sehr bedingt zu tun, und im vierten Kapitel stand ursprünglich nicht Maria, sondern Sonka. Sonka hat er in Maria geändert, weil die Frau hier eine Sammelgestalt ist und er den Namen Maria am weiblichsten findet. Das Poem hat keinen konkreten Adressaten, darum kann er es mit gutem Gewissen mir widmen… Später konnte ich mich davon überzeugen, daß es tatsächlich nicht seine Art war, jemandem etwas zu schenken, was er einem anderen zugedacht hatte.
Majakowski fragte Brik, wie eine Ikone heiße, die nicht, wie das Triptychon, aus drei, sondern aus vier Teilen besteht. Brik antwortete, solch eine Ikone gebe es seines Wissens nicht, wenn aber doch, müsse sie logischerweise „Tetratychon“ heißen.
Wir kannten die Wolke auswendig, warteten auf die Korrektur innig wie auf ein Rendezvous, trugen die weggelassenen, von der Zensur verbotenen Stellen handschriftlich nach. Ich war ganz verliebt in den orangegelben Umschlag, die Schrift und die Widmung und ließ mein Exemplar vom besten Buchbinder in kostbares moirégefüttertes Leder mit Goldprägung binden. So viel Zuspruch hatte Majakowski noch nie bekommen, er freute sich wie ein Kind.
Ich weiß noch, wie Chlebnikow das Poem aufnahm. Wohl dutzendmal hörte er es sich gespannt an, und als es erschienen war, trug er sofort die verbotenen Stellen in sein Exemplar ein. Majakowski traf ihn dabei an und nahm es ihm erschrocken weg; er war ernstlich in Sorge, Chlebnikow in seiner Zerstreutheit könnte es auf der Boulevardbank liegenlassen und ihn damit in Schwierigkeiten bringen. „Sind Sie verrückt, Weli?!“ sagte er.
Majakowski wurde zum Kriegsdienst einberufen. Eine Nacht lang paukte er verbissen mit einem Bekannten, der Ingenieur war, die Regeln des technischen Zeichnens, dann ließ er sich als technischer Zeichner in einer Fahrschule einsetzen, die motorisierte Einheiten für die Armee aufstellte.
Die unteren Dienstgrade durften weder Theater noch Restaurants besuchen, sogar sich ab einer bestimmten Stunde auf der Straße blicken zu lassen war ihnen verboten, geschweige denn, an einem öffentlichen Ort in irgendeiner Weise aufzufallen.
Zu dieser Zeit gab es in Petrograd einen Mann, der sich Futurist nannte und einen dicken Almanach herausgab. Für die zweite Nummer dieses Almanachs hatte er Gedichte von Majakowski vorgesehen. Nach einiger Zeit erhielten wir die erste Nummer und fanden darin eine antisemitische Schmiererei von Rosanow. Majakowski schrieb einen Brief an die Redaktion der „Börsennachrichten“, worin er bat, nicht mehr als Autor dieses Almanachs betrachtet zu werden. Wenig später begegnete er unserem Almanach-Verleger im Billardraum des Restaurants Bär. Verbotenerweise trug er gerade Zivil. Der kam auf ihn zu und sagte: „Ich habe Ihren Brief gelesen, Sie sind ein Idiot!“ Majakowski schäumte vor Wut; weil er sich aber auf keinen Eklat einlassen konnte, begnügte er sich mit dem Versprechen, ihm eine runterzuhauen, sobald er wieder legal Zivil trage.
Die Einlösung dieses Versprechens habe ich miterlebt, sie geschah kurz nach dem Februar-Umsturz. Wir gingen den Newski entlang, da kam uns der Verleger mit einer Dame entgegen. Majakowski entschuldigte sich bei mir, winkte ihn heran, wartete, bis er sich von seiner Dame gelöst hatte, gab ihm eine schallende Ohrfeige und schlenderte Arm in Arm mit mir weiter. Später forderte ihn der Verleger zum Duell; er lehnte ab, sich auf den Duellkodex berufend, der Aristokraten verbietet, sich mit einem Juden zu schlagen!
Oft wird gesagt, an Majakowskis Verhalten sei viel „Theater“ gewesen. Das stimmt nicht. Majakowski gab sich so, wie er war, ohne jede Künstelei. Die Schärfe seiner Polemik war immer echt, genauso echt, wie die Ohrfeige, die er einem Gegner geben mußte, wenn er keine andere Möglichkeit hatte, auf ihn einzuwirken. Manch einer hat das nicht begriffen und hielt die ihm verabreichte Ohrfeige für Spiel.
Die Ohrfeige jedenfalls, der ich beiwohnte, war bitteren Ernstes gegeben worden, mit demselben Zorn und derselben Vehemenz wie die, die Aragon Andrej Lewinson in Paris gab, zur Antwort auf dessen nach dem Selbstmord erschienenen verleumderischen Artikel über Majakowski.

 

 

 

Vorwort

Ich habe von ihr gehört, seit ich denken kann. Anfangs verkehrten meine Eltern in ihrem Freundeskreis, später, Mitte der dreißiger Jahre, ergab es sich, daß ich ihr Leben mit all seinen Freuden und Erschütterungen aus der Nähe miterlebte und in Freundschaft mit ihr verbunden war bis zu ihren letzten Tagen im August 1978, als sie den Freitod suchte. Mein Vater Wassili Abgarowitsch Katanjan hatte sie 1938 geheiratet, so daß uns verwandtschaftliche Beziehungen verknüpften.
In meiner Kindheit wohnte ich den Sommer über in ihrer Nachbarschaft; unsere Datschen lagen nebeneinander. Meine Erinnerungen daran sind nur undeutlich: viele Leute auf der Terrasse – ihr Haus war immer voller Gäste –, Majakowski trägt Gedichte vor. Von einem dieser Abende ist ein Foto überliefert: Alle stehen oder sitzen auf den Stufen um Majakowski geschart – Lilja, Ossip Brik und seine Frau Shenja, der Maler Rodtschenko, einige vom Lef, Liljas Schwester, der Tschekist Agranow, Natalja Brjuchanenko, die Haushälterin Annuschka, kurz, viele von denen, die die eine oder andere Rolle in ihrem und Majakowskis Leben spielen sollten.
Einmal bin ich Majakowski begegnet, als er an unserer Datsche vorbeischlenderte. Ich grüßte ihn, er fragte: „Wie heißt du?“
„Wassja Katanjan.“
„Aha! Dann sag deinem Vater, er soll heute abend spielen kommen.“
Ich wunderte mich – so große Onkels spielen noch? Anscheinend sah er mir das an, denn er erklärte:
„Karten! Karten spielen!“
Er war ein großer Kartenspieler, liebte überhaupt alle Glücksspiele – Ma Jong, Roulette usw.
Sie wohnten immer zusammen: Majakowski, Lilja und Ossip Brik. Davon werden Sie in Liljas Erinnerungen lesen. Sie waren ein Bund Gleichgesinnter, der zu jeder Zeit Bestand hatte: als Lilja Majakowskis Geliebte war und auch später, nach 1925, als ihr Verhältnis zueinander einen rein freundschaftlichen Charakter angenommen hatte. Dieser Dreierbund war natürlich etwas Ungewöhnliches, doch den Beteiligten behagte er – und das ist das Wichtigste.
Manch Spießer nahm jedoch daran Anstoß und versuchte sich einzumischen und kluge Ratschläge zu erteilen, die keiner benötigte. So war es damals, so ist es noch heute.
Das heißt aber nicht, daß sie es leicht miteinander gehabt hätten. Zwei in diesem Dreieck, das Majakowski seine Familie nannte, waren von vornherein zu einer Tragödie verurteilt, die folgenden Grund hatte: Lilja liebte Ossip Brik, der sich aus ihr als Frau nichts machte, Majakowski hingegen liebte Lilja, liebte und begehrte sie grenzenlos, was sie nicht mit gleicher Stärke erwidern konnte. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr gehörten ihre Gefühle allein Ossip.
In ihrem Tagebuch notierte sie:

Seit meiner Begegnung mit Majakowski hat es zwischen Ossja und mir keine intimen Beziehungen mehr gegeben; dieser ganze Klatsch von ,Dreiecksverhältnis‘ und ,Liebe zu dritt‘ entspricht auch nicht annähernd der Wahrheit. Ossja habe ich geliebt, liebe ich und werde ich lieben – mehr als einen Bruder, mehr als einen Ehemann, mehr als einen Sohn. Von solcher Liebe habe ich noch nirgends gelesen. Diese Liebe war meiner Liebe zu Wolodja nicht hinderlich. Ich mußte Wolodja einfach lieben, weil Ossja ihn so liebte. Er sagte, Wolodja sei für ihn kein Mensch, sondern ein Ereignis.

Und wenn Liljas Leidenschaft zu Ossip unerwidert geblieben ist, rührt nicht vielleicht daher die ganze Unrast ihres Lebens – die vielen Verehrer, die sie um den Finger wickeln konnte und bald erhörte, bald zurückwies, die wechselnden Bekanntschaften und Freundschaften, all die Zerstreuungen, Empfänge, Premieren, Vernissagen, Reisen, das Bedürfnis, immer dabeizusein, immer die erste zu sein, dieser ganze Strudel, in dem sie kreiste wie in einem unaufhörlichen Fest? Am Ende suchte sie darin ein Mittel, jene Leere auszufüllen, die nur ein Mensch hätte ausfüllen können – derjenige, der sie weniger liebte als sie ihn.
Ossip Brik starb im Februar 1945 an einem Herzinfarkt. Lilja sagte mir später:

Als Wolodja sich erschoß, starb Wolodja. Als Primakow erschossen wurde, starb er. Aber als Ossja starb, da bin ich gestorben!

1931 ging sie die Ehe mit Vitali Markowitsch Primakow ein. Er war ein angesehener General der Roten Armee, Held des Bürgerkrieges. Auch sie wohnten in ihrer neuen Wohnung auf dem Arbat und auf ihrer Datsche in Kraskowo zusammen mit Brik. Brik seinerseits war schon seit mehreren Jahren mit einer hübschen jungen Frau verheiratet, die er liebte und mit der er viel gemeinsame Zeit verbrachte. Sie lebte allerdings in einer eigenen Wohnung, was immer wieder Befremden und Mißbilligung hervorrief.
1937 erlitt Lilja eine Erschütterung – ihr Mann Vitali Primakow wurde zusammen mit anderen hohen Militärs verhaftet und erschossen (wie wir heute wissen, ohne jede Schuld). Ossip Brik blieb an ihrer Seite. Ein Jahr darauf heiratete sie den Literaten Wassili Katanjan, und wiederum lebten sie zu dritt in einer Wohnung. Sie hielten auch in der Zeit der Evakuierung zusammen, da wohnten sie zu viert in einer Hütte in einem kleinen Ort im Ural.
Lilja sagte immer, sie sei viermal im Leben verheiratet gewesen: mit Brik, Majakowski, Primakow und Katanjan. Und alle ihre späteren Ehemänner verstanden sich gut mit Ossip Brik, liebten und achteten ihn.
Heute, nach so langer Zeit, weiß kaum noch jemand davon, und die Zeugen werden von Jahr zu Jahr weniger… Aber bei der Lektüre der Erinnerungen und Briefe sollte man dies im Hinterkopf haben.

Lilja und Majakowski hatten also ihre intimen Beziehungen gelöst, blieben aber unter einem Dach wohnen (in dem Haus in der Gendrikow-Gasse). Zusammen mit Brik bildeten sie eine Familie, in der man sich einig wußte in den geistigen Bestrebungen, immer Freundschaft hielt, sich umeinander kümmerte. Davon zeugen allein schon die Mitteilungen, die sie auf Zetteln füreinander hinterließen, wenn sie aus dem Haus gingen:
„Küsse Dich, Mauz, bin gegen 6 zu Hause.“
„Wauchen! Im Herd sind Krautrouladen. Deine Mauz.“
Diese Zeugnisse gegenseitiger Aufmerksamkeit und Fürsorge gibt es in Hülle und Fülle. Und als Unterschrift tragen sie jeweils ein gezeichnetes Hündchen (er) oder ein gezeichnetes Kätzchen (sie).
Lilja war nicht der Schatten von Majakowski, von ihr ging eigenes Licht aus. Sie war eine starke Persönlichkeit. Menschen, deren Namen in die Geschichte der Kunst oder Wissenschaft eingegangen sind, haben die Bekanntschaft mit ihr gesucht und geschätzt. Dabei war sie stets kompromißlos und anspruchsvoll. Vor allem mit Leuten, die Majakowski nicht mochten oder seine Bedeutung herunterspielen wollten, ging sie hart ins Gericht. Daraus erwuchsen ihr Feinde, sie war gefürchtet und geachtet zugleich. Manch einer haßte sie auch und ergriff die erstbeste Gelegenheit, es ihr zu zeigen. Sie ließ sich jedoch nie einschüchtern, konterte stets scharf und schlagfertig. Überhaupt war sie ein sehr offener Mensch, hielt mit dem, was sie dachte, nicht hinterm Berg. Auch wenn sie jemanden so liebte und schätzte wie Majakowski, Elsa, Maja Plissezkaja oder Roman Jakobson, konnte sie ihm ihre Kritik direkt ins Gesicht sagen, was für sie selbst natürlich nicht angenehm war. Aber Heucheln konnte sie nie.
Bei all ihrer Empfindsamkeit und Güte konnte Lilja durchaus auch egoistisch, unduldsam und launisch sein, andere mit ihrem Verhalten zum Weinen bringen. In ihrer Jugend galt für sie nichts mehr als die Freiheit in der Liebe. Sie vertrat die Moral der „neuen Menschen in einer neuen Epoche“ und ging freimütig auf Verehrer ein, ohne die Folgen zu bedenken. Ihr Leben lang schwamm sie gegen den Strom. Als sie im Gymnasium war, nahm sie eines Tages die Schere und schnitt sich die flammendroten Zöpfe ab, um nicht mehr wie ein sittsames Töchterchen auszusehen – zum Entsetzen ihrer Lehrer und Eltern.
Ihr Vater war Rechtsanwalt, ihre Mutter Musiklehrerin. Lilja wurde am 11.11.1891 in Moskau geboren. Fünf Jahre später kam ihre Schwester Elsa, die künftige Elsa Triolet, zur Welt. Lilja war der Liebling der Eltern, obwohl sie ihnen ständig zu schaffen machte, sich bald für dies, bald für jenes begeisterte, sich stets in den „Falschen“ verliebte und bei weitem nicht die Bücher las, die ihr der Vater ans Herz legte.
Sie war talentiert und intelligent, hatte ein vorzügliches Gedächtnis. Über ihr Talent meinte sie freilich einmal skeptisch, irgendwas habe sie immer abgehalten, es auch umzusetzen.

Kaum hatte ich etwas angefangen, kam eine neue Romanze dazwischen, oder ich mußte verreisen, oder mich lenkte etwas Interessanteres ab.

Nehmen wir diesen Ausspruch als Zeichen ihrer Selbstironie. Lilja besaß durchaus literarisches Talent und hat nicht selten zur Feder gegriffen. Manchmal aus einem inneren Bedürfnis heraus, manchmal aus materiellen Gründen (und solche Gründe gab es in ihrem Leben mehr, als man gemeinhin denkt). Damit ist nicht ihre Arbeit an Majakowskis Gesammelten Werken gemeint, die sie jahrelang redigierte und kommentierte, oder die von ihr zusammengestellten Majakowski-Ausgaben und ihre Mitwirkung beim Aufbau des Majakowski-Museums. Lilja schrieb umfangreiche Erinnerungen, von denen hier nur der Teil über Majakowski vorgestellt wird. Andere Kapitel beschreiben ihre Jugendjahre, ihre Usbekistan-Reisen mit Brik und ihr Leben im alten Petersburg, d.h. noch vor dem ersten Weltkrieg. Außerdem hinterließ sie eine Fülle von Tagebüchern. Lilja übersetzte viel aus dem Französischen, vor allem kunst- und literaturtheoretische Aufsätze, Erzählungen, Theaterstücke, schrieb aber auch selbst Essays. Aus ihrer Feder stammen Arbeiten über Majakowski, wie zum Beispiel „Majakowski und fremde Verse“ (hier als Teil der Erinnerungen eingearbeitet), „Dostojewski und Majakowski“ und das dokumentarische Feuilleton „Wie es war“, sowie Drehbücher und Umschauen für Zeitungen und Zeitschriften. Manches davon ist erschienen, manches blieb in ihrem Archiv.
Übrigens gibt es auch Plastiken von ihr (sie hatte in München Modellieren gelernt), zum Beispiel eine Majakowski-Büste, die heute im Majakowski-Museum, und eine Brik-Büste, die heute im Literaturmuseum stehen.
Wie man sieht, war ihr Ausspruch hinsichtlich ihres Talents nichts weiter als ein Scherz. Auch darin war sie eine Meisterin.
Zwei Talente kann man ihr jedoch auf keinen Fall absprechen: Erstens das „Talent zu leben“ und zweitens die Gabe, in noch unbeachteten Künstlern bereits den „Gottesfunken“ zu entdecken.
„Talent zu leben“ meint ihre Fähigkeit, die häusliche Umgebung ästhetisch angenehm und zugleich praktisch zu gestalten, was diesen Begriff aber nicht ausschöpft. Im Laufe ihres langen Lebens ist Lilja etliche Male umgezogen, doch selbst dort, wo sie nur ein paar Wochen bleiben konnte, wußte sie sich im Handumdrehen schön und gemütlich einzurichten. Sie kaufte Dinge, die scheinbar nicht zusammenpaßten, sich dank ihres geschmackvollen Arrangements aber vortrefflich vertrugen. Etwa ein usbekischer Wandbehang und ein Mahagonisekretär oder eine Spitzendecke und ein museales Popenservice oder Keramik von Léger und ein „spießiger“ Gummibaum. Alles war mit Bedacht gewählt und meistens für wenig Geld erworben. Ihr Geschmack hat viele beeinflußt. Kurz nach dem Krieg war sie die erste, die Petroleumlampen kaufte und ihre Zimmer damit dekorierte. „Ich habe sie in Mode gebracht“, sagte sie einmal zu mir. Und tatsächlich tauchten diese Lampen bald auch in anderen Haushalten auf, wurden sogar im Ausland produziert, „kamen auf“. Ihre Lampen waren jedoch alle noch echt, rochen anfangs sogar nach Petroleum. Überhaupt liebte sie alles Echte, wußte es mit einem Blick von der Imitation zu unterscheiden.
Sie hatte eine Vorliebe für typisch russische Dinge – Porzellan, Spitze, handgewebte Tücher. Doch nicht aus Nostalgie oder weil es Mode war. Sie liebte die Kunst daran. Aus einfachen, unauffälligen Kopftüchern nähte sie sich hübsche Kleider, sie machte Tischdecken aus Kattun, hängte bunte Tabletts an die Wand. Einmal hatte sie ein Tablett gekauft, das alt und abgeblättert war. Sie bat den berühmten Maler Tyschler, es zu bemalen; ganz in seinem Stil malte er eine Frau, die eine Schüssel voller Früchte und Blumen auf dem Kopf trägt. Später sah ich es bei Aragon wieder, Lilja hatte es ihm geschenkt.
Ich erinnere mich, daß sie in den Kriegsjahren, als selbst der Kauf eines kleinen Stückes Stoffes schwierig war, auf die Idee kam, sich einen Fenstervorhang aus bunten Flicken zu nähen. Eine aus der Not geborene Idee, aber ihr Resultat war überraschend – ein Kunstwerk. In den russischen Dörfern pflegte man von altersher Decken aus Kattunresten herzustellen. Zuweilen verwendete man sie auch als Wandschmuck. Aber ein Fenstervorhang in dieser Art war Liljas Erfindung. Pablo Neruda schenkte ihr bei einem Besuch ein kleines Schultertuch, das sie zu seinem Entzücken sofort an den Vorhang nähte.
Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, was in der Kunst heranreifte und zur Tendenz werden sollte. Es war verblüffend, wie genau ihre Voraussagen zutrafen. Und das wußten alle zu schätzen, die mit ihr verkehrten.
Sie konnte inspirieren, die Idee geben zu einem Poem, einem Film, einer Sonate oder einem Gemälde.
Alles, was sie anpackte, trug unweigerlich den Stempel ihrer Kreativität und ihres Schönheitssinns.
In den entbehrungsreichen Bürgerkriegsjahren stand Lilja Majakowski bei allen Schwierigkeiten tapfer zur Seite, unterstützte ihn, so gut sie nur konnte. Das berühmte Buch Das sowjetische Alphabet hatte er 1919 geschrieben. Er brachte das Manuskript zum Verlag, doch die Stenotypistin weigerte sich, „dieses Zeug“ abzuschreiben. Da machte er die Zeichnungen und Unterschriften selbst, übertrug sie auf einen lithographischen Stein und druckte alles auf eigene Faust. Danach kolorierte Lilja jedes einzelne Exemplar mit der Hand. Es waren mehrere hundert. Heute ist dieses Bändchen eine bibliophile Rarität und hat einen hohen internationalen Auktionswert.
Um diese Zeit war es auch, daß sie das ihr gewidmete Poem „Wirbelsäulenflöte“ mit der Hand abschrieb. Majakowski machte dazu die Illustrationen und den Umschlag, und das auf diese Weise entstandene Büchlein verkauften sie für einen Wert von zwei Mahlzeiten an ein Kommissionsgeschäft. Heute kann man es im Majakowski-Museum besichtigen: die Seiten, beschrieben von der klaren Handschrift der Heldin dieses Poems:

Sag, welcher jenseitige E.T.A. Hoffmann
hat dich, Vermaledeite, ausgedacht?!

In den fünfziger Jahren fertigte sie noch einmal eigenhändig ein Bändchen, diesmal mit Gedichten von Nikolai Glaskow. Glaskow gehörte zu den totgeschwiegenen Dichtern. Seine Gedichte – ungewöhnliche, die in keinen Rahmen paßten – waren ganze dreißig Jahre nicht gedruckt worden. Nachdem Lilja ihn kennengelernt hatte, bat sie ihn, der furchtbar heruntergekommen, halbverhungert war, täglich zum Mittagessen zu ihr zu kommen. Sie begann seine Gedichte, denen er selbst anfangs keine Bedeutung beimaß, zu sammeln. Nach einem Jahr ließ sie sie mit selbstausgesuchten Illustrationen und in eigener Gestaltung binden. Dieses Buch ist heute im Literaturmuseum ausgestellt.
Lilja konnte mit völlig neuen, von niemandem übernommenen Ansichten überraschen; sie vertrat sie gelassen, ohne übermäßig auf ihnen zu beharren, doch auch ohne von ihnen abzurücken.
„Lilja hat immer recht“, pflegte Majakowski zu sagen. „Auch wenn sie behauptet, der Schrank stehe auf der Zimmerdecke?“
„Wenn sich der Schrank in einem Zimmer des dritten Stocks befindet, steht er aus der Perspektive des zweiten Stocks sehr wohl auf der Decke“, antwortete Majakowski völlig ernst.
Meistens, wenn auch erst nach Jahren, stellten sich ihre Meinungen als prophetisch heraus und fanden Anerkennung. So z.B. auch die linke Kunst und der Futurismus, der erst nach vielen Jahren – übrigens weltweit als Kunstströmung anerkannt wurde. Dem Futurismus ist Lilja Brik zeitlebens treu geblieben. Auch als mit Beginn der dreißiger Jahre der Wind in eine andere Richtung schlug, gab sie ihre Prinzipien nicht auf.
Einmal kam ihren Mann, Wassili Katanjan, den Majakowski-Biographen, ein Literat aus den USA besuchen. Nach ihrem Gespräch bat Lilja sie zum Abendessen. Am Tisch erwähnte der Gast, daß er über Paris gekommen sei, wo er sich mehrere Tage aufgehalten habe.
Lilja fragte:
„Sind Sie zufällig meiner Schwester begegnet?“
„Wer ist denn Ihre Schwester?“
„Elsa Triolet.“
„Mein Gott! Dann sind Sie Lilja Brik?!“
Der Gast war baß erstaunt. Er kannte Majakowski in- und auswendig und war überzeugt, Lilja gäbe es nur noch auf den Seiten seiner Bücher, sie sei in weiter Ferne, irgendwo in den zwanziger Jahren, und hatte sich nicht träumen lassen, daß die alte Dame vor ihm, die englisch mit ihm sprach und ihm Tee einschenkte, eben jene Muse des Dichters, jene legendäre Frau sei… Aber Legende und Legende ist zweierlei. Daß dieser Amerikaner nicht wußte, daß es Lilja noch gab, mag man noch verstehen. Wie aber läßt sich erklären, daß die sowjetischen Journalisten jahrelang so taten, als existiere sie nicht, oder Verleumdungen in die Welt setzten?
Keine Frau in der sowjetischen Literatur hat im Laufe der Jahrzehnte so viel Interesse auf sich gezogen wie Lilja Brik, und über keine andere ist so unterschiedlich, bald faktengetreu, bald verlogen, bald begeistert, bald verteufelnd, geschrieben worden wie über sie.
Auf ihre essayistischen Arbeiten – zum Beispiel „Dostojewski und Majakowski“ – antwortete die reaktionäre Kritik mit groben Ausfällen, und ihre Erinnerungen wurden von antisemitisch gesinnten Funktionären durch den Schmutz gezogen.
Seiten über Seiten könnte man zu diesem Thema vollschreiben, zu all den mit ihrem Namen verbundenen Unterstellungen, Feindseligkeiten und Kampagnen und auch dazu, was sich dahinter verbarg.
Nur zu gut erinnere ich mich an mehrere 68er Nummern der – damals noch rechtsgerichteten, reaktionären – Zeitschrift Ogonjok. Sie enthalten denkwürdige, mit „W. Woronzow“ und „A. Koloskow“ unterzeichnete Artikel, in denen in unverschämtem Ton, ohne vor bösartigen Verdrehungen, antisemitischen Anwürfen und peinlichem Klatsch zurückzuschrecken, aus Majakowskis Privatleben berichtet wird. Das war ein regelrechter Reporterüberfall auf ein fremdes Schlafzimmer, der auch nicht die geringste Rücksicht darauf nahm, daß die Frauen, von denen die Rede war, noch lebten. Die meisten dieser vergifteten Pfeile richteten sich gegen Lilja Brik. Das hatte einen bestimmten Grund, den man aber über Jahre nicht einmal andeutungsweise beim Namen nennen konnte. Lilja Brik war die Zielscheibe einer politischen Intrige geworden. Der weltbekannte Schriftsteller Louis Aragon, Mitglied des ZK der KPF, Ehemann ihrer Schwester und freundschaftlich mit ihr verbunden, hatte gegen die Politik der KPdSU protestiert, insbesondere gegen den Prozeß Daniel und Sinjawski und den Einsatz sowjetischer Panzer in Ungarn und in der Tschechoslowakei. Auf den Femeruf des Chefideologen der Partei Michail Suslow setzte eine Pressekampagne gegen Lilja Brik ein. Indem man ihr die Schlinge um den Hals legte, hoffte man Aragon den Mund zu stopfen. Der Protest eines der angesehensten Schriftsteller des Westens paßte nicht in das offizielle Bild von der „weltweiten Unterstützung der Außenpolitik der UdSSR“… Lilja aber schrieb an Aragon:

Tu, was Du für richtig hältst, um uns mach Dir keine Gedanken. Viel zu lange haben wir nicht gewußt, was vorgeht…

Ausläufer dieser Kampagne schwirrten danach noch lange durch unsere Presse, sind womöglich heute noch anzutreffen.
Diese Aufnahme von 1918 wurde für eine Majakowski-Ausgabe von 1964 so retuschiert, daß L. Brik vom Foto verschwand.
„Es ist schrecklich, aber wahr“, hat Anna Achmatowa einmal geschrieben, „die Menschen sehen nur, was sie sehen wollen, und hören nur, was sie hören wollen. Auf dieser Eigenschaft der menschlichen Natur beruhen neunzig Prozent aller üblen Gerüchte, aller Scheinreputationen, allen wohlgehüteten Klatschs…“
Liljas Name, den Majakowski selbst auf seine Gesammelten Werke geschrieben hatte, wurde überall gnadenlos getilgt. Lilja gewidmete Gedichte erschienen ohne Widmung; ihr von Majakowski gezeichnetes Porträt wurde aus allen Ausstellungen entfernt; das bekannte Foto von 1918, auf dem Hof des Filmstudios Neptun aufgenommen, wurde für den Band Sechs Adressen von Majakowski (Moskau, 1964) so geschickt retuschiert, daß Majakowski nicht mehr mit ihr, sondern allein neben dem Baum zu sehen ist.
Doch häufig äußerten sich ausländische Medien über sie, man brachte Interviews mit ihr, zeigte sie im Fernsehen. Im Ausland wurden ihre Porträts und die ihr gewidmeten Bücher ausgestellt und Stücke und sogar Ballette aufgeführt, in denen sie figurierte.
Als der bekannte französische Choreograph Roland Petit in Moskau gastierte, verbrachte er mehrere Abende bei ihr. Sein Ballett Entzündet die Sterne enthält ein großes Liebes-Adagio, dessen Helden Majakowski und Lilja sind. „Schade, daß sie nicht mit diesem Ballett gekommen sind und ich es nicht sehen kann“, sagte sie. – „Ihr Kulturministerium war dagegen, es den sowjetischen Menschen zu zeigen. Anscheinend ist Majakowski für Ihre Beamten zu revolutionär.“ – „Außerdem werde ich gezeigt, und das geht schon gar nicht“, ergänzte Lilja trocken.
Das war nur eines jener niederträchtigen Manöver, die darauf abzielten, aus dem Gedächtnis der Menschen den Namen der Frau zu löschen, die mit der Gestalt des Dichters für immer verbunden ist. Aber all das hat sie bewundernswert standhaft ertragen, freilich mit einer gewissen Bitterkeit.
Als Alexej Krjutschonych, einer der ersten russischen Futuristen, oder der Maler und Fotograf Rodtschenko angeprangert wurden, betrachtete sie sie trotzdem weiterhin als Bahnbrecher.
Als man Picasso und Léger verdammte, übersetzte sie ihre theoretischen Aufsätze und tat alles, um andere mit ihrem Schaffen vertraut zu machen.
Mit Fernand Léger war sie lange eng befreundet. Sie hatte ihn 1925 in Paris kennengelernt, damals waren sie jung und fröhlich, gingen zusammen aus, tanzten in kleinen Lokalen zu Akkordeonmusik. Léger war noch nicht berühmt, Lilja gefiel seine Suche nach Neuem, das Ungewöhnliche, Unverwechselbare seiner Arbeiten.
„Damals sagte er“, so erzählte sie mir, „,du kannst so viele Bilder haben, wie du willst, nimm, was dir gefällt. Häng’s dir zu Hause hin.‘ Aber wir Lef-Leute wohnten bescheiden, streng asketisch, wir meinten, ein Bild an der Wand einer Wohnung sei so gut wie ein Loch in der Wand, Bilder gehörten auf Ausstellungen und in Galerien. So wählte ich nur ein Guache.“
Im selben Jahr, 1925, hielt Léger an der Sorbonne den Vortrag „Farbe und Form“. Das Protokoll dieses Vortrags schickte er Lilja nach Moskau, wollte es in der Zeitschrift Lef veröffentlichen. Am Kopf des Protokolls steht von Légers Hand: „Lilja Brik gewidmet.“ Lilja übersetzte es und tippte es auf dünnem Papirossa-Papier. „Anderes hatte ich damals nicht“, erklärte sie mir. Aber die Übersetzung ist bis heute nicht erschienen und befindet sich in Lilja Briks Archiv.
Als sie sich 1955 wiedersahen, machte sich Léger spornstreichs daran, ein Doppelporträt zu malen – sie und Majakowski. Doch mitten in der Arbeit erkrankte er schwer.

Ich besuchte ihn, setzte mich auf seinen Bettrand, und er fragte, welche Farben wir damals getragen hätten.
„Ich Rosa, Wolodja Braun“, antwortete ich.
Er freute sich über diese Antwort, schmunzelte. Dieses unvollendete Porträt ist das letzte, womit er sich als Künstler befaßt hat. Bei der Trauerfeier stand es am Kopfteil seines Sargs.

Das Haus der Briks in Moskau war für seine Gastfreundschaft berühmt. Lilja war eine vorzügliche Gastgeberin (oft bei bescheidensten Möglichkeiten), wußte interessante Menschen um sich zu scharen, ein Gespräch so zu führen, daß der Gesprächspartner sie unbedingt wiedersehen wollte. Sie hatte einen „Liebreiz, der auf den ersten Blick fesselte“, wie Lew Tolstoi über irgendjemanden schrieb. Sie gefiel, und das wollte sie auch, einem jeden wollte sie gefallen – jungen Männern wie alten, Frauen wie Kindern… Das lag ihr im Blut.
Menschen aus aller Welt besuchten sie, um etwas über Majakowski, über sie selbst und die ganze zurückliegende Epoche zu erfahren. Bereitwillig erging sie sich in Erinnerungen, doch erkundigte sie sich auch nach Neuigkeiten, denn sie lebte keineswegs nur retrospektiv, nur in die Lef-Jahre eingesponnen, sondern interessierte sich bis ins hohe Alter für alles Moderne; selbst noch mit 86 war sie stets nach der neuesten Mode und eleganter als andere gekleidet.
„Jetzt kommen neue Gedichte!“ konnte sie einen Gast empfangen. Oder sie fragte: „Wer hat denn die Hauptrolle in dem Fellini?“, „Wie sind die Wahlen in der Tschechoslowakei ausgegangen?“ oder: „Haben Sie die letzte Kollektion von Yves Saint Laurent gesehen? Was wird man tragen?“
In ihrem langen Leben gab es keinen Tag, an dem sie nicht. einen ganzen Stapel Post bekommen hätte. Ihr wurde aus den verschiedensten Ländern, in den verschiedensten Sprachen geschrieben, oft von ganz fremden Menschen. Mit ihrer deutschen Korrektheit (ihre Eltern stammen aus dem Kurland) war es für sie eine Selbstverständlichkeit, daß sie auf jeden Brief antwortete.
So ist der epistolare Nachlaß von Lilja Brik gewaltig. Wollte man ihren gesamten Briefwechsel veröffentlichen, käme eine mehrbändige Ausgabe zusammen. Diese würde uns reichen Aufschluß über unser Jahrhundert geben, über das Leben bedeutender Menschen, über Bücher und Theateraufführungen, politische und literarische Kämpfe, die Entstehung künstlerischer Vorhaben und den Zusammenbruch von Hoffnungen.
Daß ihre Briefe und „Lebenszeichen“ an sie einst Ausstellungsstücke werden würden, haben ihre Freunde natürlich nicht geahnt. Tatsächlich befindet sich aber heute das meiste im Museum – die Briefe von Majakowski und Elsa Triolet, Skizzen von Chagall, Zeichnungen von Yves Saint Laurent, Etüden von Léger, Briefe von Neruda, von Kornej Tschukowski, Roman Jakobson, Konstantin Simonow oder Maja Plissezkaja. Was noch nicht seinen „Hafen“ in einer staatlichen Kulturpflegestätte gefunden haben sollte, wird dort zumindest mit Ungeduld erwartet. So wartet zum Beispiel ein Museum in Jerewan auf die Brief-Collagen, die einst der armenische Regisseur Sergej Paradshanow Lilja Brik aus dem Gefängnis schickte.
Paradshanow hatte Lilja kennengelernt und war kaum zweimal mit ihr zusammengekommen, als ihm plötzlich, wie Bella Achmadulina über ihn schrieb, „die Freiheit genommen wurde, weil er frei war“. Gefängnis, Lager. Lilja schrieb ihm, sandte ihm Lebensmittel, Medikamente und Zeichenstifte. Er antwortete ihr, sandte ihr Collagen aus Makulaturpapier und Blumen, die er am Gefängniszaun gepflückt und dann gepreßt hatte, wahre Kunstwerke, die sie sorgfältig aufhob.
Es war ihre Gewohnheit, alles aufzuheben, was ihr gefiel und wichtig erschien. So hat sie nicht einen Schnipsel weggetan, der irgendwie Majakowski betraf, sich von Anfang an bewußt, mit wem sie es da zu tun hatte. Majakowski hat ihre Briefe ebenso aufbewahrt, sorgsam gebündelt wurden sie nach seinem Tod in seinem Schreibtisch gefunden.
Ihren Briefwechsel in ihrer Heimat herauszugeben war leider aussichtslos, daher übergab sie ihn in Form von Kopien dem bekannten schwedischen Linguisten Bengt Jangfeldt. So kam es, daß der vollständige Briefwechsel von Majakowski und Lilja Brik 1982 erstmals in Schweden erschien und danach auch in andere Sprachen übersetzt wurde. Wer sich für die Geschichte der russischen Avantgarde, den Futurismus und die ethische Suche der russischen Intelligenz zu Beginn der Revolution interessiert, kann aus diesem Buch viel Neues erfahren.
Mit ihrer Schwester, der Schriftstellerin Elsa Triolet, hat Lilja über ein halbes Jahrhundert engen Briefkontakt unterhalten. Elsa war 1918 mit ihrem Mann André Triolet nach Frankreich gegangen und hatte später Louis Aragon geheiratet. Diese Briefe aus ganz verschiedenen Jahren, reich an treffenden Erlebnisschilderungen und interessanten Gedanken und Urteilen, sind wie Streiflichter durch die jüngere Kunst- und Kulturgeschichte zweier Länder.
Ossip Brik und Lilja waren selten getrennt, haben einander daher weniger geschrieben. Außerdem ist manches verlorengegangen – die vielen Umzüge, die Haussuchung bei der Verhaftung von Primakow, der Krieg und die Evakuierung wirkten sich auf die Erhaltung des Familienarchivs nicht eben förderlich aus. Die hier ausgewählten Briefe schrieb Ossip Brik 1933 nach Berlin, wohin Lilja mit ihrem Mann Primakow, der dienstlich in Deutschland zu tun hatte, gereist war.
Diese weltweit erste Buchausgabe der Erinnerungen von Lilja Brik an Majakowski, ergänzt durch Briefe und Fotos, gewährt Einblick in das Leben einer faszinierenden Frau, die bis ins hohe Alter nichts von ihrer ungewöhnlichen Ausstrahlung verlor.

Wassili Katanjan, 1990, Vorwort

 

VIVAT MAJAKOWSKI

Zu Tode getrunken
zu Tode gehurt
in den Kopf geschossen
wer nicht gespurt

zugrunde gerichtet
zu nichts gebracht
die Reihen gelichtet
wer mitgemacht

zu Tode geschwiegen
zu Tode gerühmt
durch Blumen gesprochen
und unverblümt.

Peter Maiwald

 

 

 

Christine Gölz: Wladimir Majakowski

Zum 85. Geburtstag von Wladimir Majakowski:

Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978

Fakten und Vermutungen zu Wladimir Majakowski + Erinnerungen +
TributeIMDb + Pennsound + Internet Archive 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + IMDb +
Internet Archive 1 & 2
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Lilya Jurjewna Brik – Erinnerungen an den Dichter.

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