Richard Pietraß’ Gedicht „Mein Engel“

RICHARD PIETRASS

Mein Engel

Mein Engel ist elend.
Und ich steh in Schuld.

Seine Flügel sind lahm.
Ich hab dran gerissen.

Seine Stirn ist kraus.
Ich hab sie gefurcht.

Sein Herz war ein Quell.
Ich hab ihn getrübt.

Nun schleppt er sich
Nach Engelland.

Nun schirmt ihn
Meine schwache Hand.

1994

aus: Richard Pietraß: Das Gewicht. Hundert Gedichte. Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 2001

 

Konnotation

Der 1946 geborene Richard Pietraß, einer der kenntnisreichsten und zugleich am meisten unterschätzten Dichter aus der Ex-DDR, hat sich schon früh der „kommunistischen Erziehung“ verweigert. Statt dessen übte er sich in der Kunst des listenreichen Umgangs mit der Zensur, um sich als schalkhafte „Laus im Staatspelz“ treu bleiben zu können. So entstanden spielerische, schelmisch-subtile „Gegengesänge“, „um das große Schlaraffenland von morgen zu bereichern“.
Dass Pietraß in seiner Dichtung nicht immer als humorbereiter „Schalkschädel“ agiert, zeigt der ergreifende Zyklus „Letzte Gestalt“, den der Dichter 1994 seiner verstorbenen Ehefrau Erika gewidmet hat. Es sind erschütternde Gedichte über das allmähliche Erlöschen eines geliebten Menschen, eins der großen Dokumente moderner Liebesdichtung. Das tieftraurige Engel-Gedicht radikalisiert die Trauer um den Verlust des sehr irdischen „Engels“ zur verzweifelten Selbstanklage.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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