Michael Braun (Hrsg.): Lyrik-Taschenkalender 2016

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Michael Braun (Hrsg.): Lyrik-Taschenkalender 2016

Braun (Hrsg.)-Lyrik-Taschenkalender 2016

der leere raum mit schwarz und
blau und dem bisschen welt am rand,
geviertelt hinter glas. die schatten
wie zum trocknen an der wand, der atem
sichtbar in der hohlen hand. und draussen
bellt ein hund, schrecken tauben aus dem schlaf.
schlagen tauben, die ich niemals sah, mit flügeln
schwarz und blau.

Levin Westermann

 

KOMMENTAR

„Eine schwarze Höhle ist unser Schweigen“, heißt es in Georg Trakls Gedicht „Sebastian im Traum“, und der einsame Wanderer, der diese Höhle aufsucht, geht wie ein Irrläufer durch die Nacht, und seine Reise ans Ende der Nacht will kein Ende nehmen. Dieser Schlaflose, der da seine hellen Nachtgesichte hat und mit gesteigerter Wahrnehmungsempfindlichkeit die Welt in bedrohlich funkelnden Farben wahrnimmt, ist ein Seelenverwandter des Lyrikers Levin Westermann (geb. 1980). unbekannt verzogen, das Lyrik-Debüt Levin Westermanns knüpft dort an, wo Trakl aufgehört hat. In Westermanns Gedichten spricht ein traumsüchtiges Ich, das von einem starken Schwindelgefühl ergriffen wird, wenn es in den Abgrund der eigenen Existenz hinabsieht.
Schwarz und Blau sind hier die Grundfarben des Dichters, das Schwarz und das Blau, die auch den Knaben Elis begleiten, den Georg Trakl in seinem berühmten Gedicht „in die weiche Nacht“ gehen lässt. Der „leere raum mit schwarz und blau“, den Levin Westermanns Protagonist durchquert, scheint ein exterritoriales Gebiet zu sein, fern von allen Geschäftigkeiten unserer an Bewusstseinsreizen übervollen Welt. Da spricht einer, der nach etwas Haltbarem sucht in einer eigentümlichen Leere, allein, in unmittelbarem Kontakt nur mit seinem Atem und ein paar Schattenreflexen. Hier geschieht nicht viel, ein paar verstörende Farbreize blitzen noch auf, ansonsten ist das Ich ganz auf sich selbst zurückverwiesen, auf die Vergewisserung seiner selbst. Das Sprechen des Dichters am „Rand“ der Einsamkeit wird von Binnenreimen getragen: „rand – wand – hand“. Wir begegnen einem Subjekt, das „unbekannt verzogen“ ist, in eine Abwesenheit, die nicht mehr eingemeindet werden kann in unsere Daseinsselbstverständlichkeit.

Michael Braun

 

 

 

Editorial

„Das Ziel aller Poesie – die gesteigerte Gegenwärtigkeit dessen, wovon sie spricht.“ So lautet ein Aphorismus des österreichischen Dichters Franz Josef Czernin, ein literarischer Solitär, der seit vielen Jahren an einer Systematisierung der „Kunst des Dichtens“ arbeitet. Wenn in der Kunst und in der Poesie etwas dargestellt wird, so ist seine Überzeugung, dann geschieht es im Modus der Verwandlung oder der Metamorphose. Wenn wir Gedichte schreiben, dann verwandeln wir nolens volens eine Textvorlage, ein Gedicht, einen syntaktischen oder semantischen Zusammenhang, oder wir verwandeln nur ein Wort oder auch nur einen Buchstaben.
Im Lyrik-Taschenkalender 2016 finden wir viele faszinierende Beispiele dieser Kunst der poetischen Verwandlung, aus der sich das Alphabet der Poesie speist. Dabei vollzieht sich auch ein Prozess der Selbstbegegnung: Denn die Gedichte „flüstern aus demselben Kern, aus dem auch unsere Fragen kommen“ (Katharina Schultens).
Der Lyrik-Taschenkalender 2016 webt wie seine kalendarischen Vorgänger ein Netz aus Gedichten, poetischen Korrespondenzen und Kommentaren. 17 Dichterinnen und Dichter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und ein „Special guest“ haben jeweils zwei Lieblingsgedichte deutscher Sprache ausgewählt und kompakt kommentiert. Der Herausgeber stellt seinerseits gemeinsam mit dem Lyriker und Essayisten Henning Ziebritzki alle am Taschenkalender beteiligten Autoren und Kommentatoren mit je einem exemplarischen Gedicht vor.

Michael Braun, Vorwort, Sommer 2015

 

 

WIE HEIDELBERG DAHINTEN ARTIG GLITZERT
Mit seinen leeren Haltbarkeitsgesängen.
Die Wörter, wenn sie Poesie verdrängen,
Sind nicht mal mit sich selbst genug verschwistert.

Die schreibenden Lektoren und Verleger,
Die selbstgerecht und ohne Scheu diktieren,
Wie ihre Trockentexte existieren,
Bestimmen die Platzierungen von eh her.

Gedichte ohne Studienabschluss zielen
Auf deutsche Widmungssprache, kalkulierte
Totalausfälle, die ich stets verneinte.

Ach, Heidelberg, wie wirst du mit uns fühlen,
Weil Poesie im Landeingang krepierte.
Die Widmung hier ist eine ernstgemeinte.

(für Michael Braun)

Thomas Kunst

[dieses gedicht schrieb ich etwa 2004/2005 aus solidarisierung mit den „lyrischen totalausfällen“ (m. braun) der anthologie lyrik von jetzt (2004)]

 

 

Fakten und Vermutungen zum HerausgeberKalliope +
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