Theodor Däubler: Das Sternenkind

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Theodor Däubler: Das Sternenkind

Däubler-Das Sternenkind

MILLIONEN NACHTIGALLEN SCHLAGEN

Die Sterne. Blaue. Ferne.
Ein Flammensang der Sterne!
Millionen Nachtigallen schlagen.
Es blitzt der Lenz.
Myriaden Wimpern zucken glühend auf.
Das grüne Glück von Frühlingsnachtgelagen
Beginnt sein eigenbrüstiges Geglänz.
Die lauen Schauer nehmen ihren Zauberlauf:
Millionen Nachtigallen schlagen.
Erkenne ich ein freundliches Gespenst?
Ich werde mich im Ernst darum bewerben.
Der kleinste Wink will sich ins Wittern kerben:
Wer weiß, wann meine Träumlichkeit erglänzt?
Gespenster gleichen unsern sanften Tieren,
Sie können schnell den Samt der Neigung spüren.
Sie heben, schweben, weben sich heran,
Und halten uns unfaßbar sacht im Bann.
Ich will die Lichtgewimmelstille nicht verlieren,
Ein altes Walten muß sich bald aus Sanftmut rühren.
Millionen Nachtigallen schlagen.
Die ganze Nacht ermahnen uns verwandte Stimmen.
Es scheint ein Mond geheimnisvoll zu glimmen.
Doch ist zu warm die Nacht, voll atmendem Behagen!
Myriaden brunstbewußte Funken suchen sich im Fluge,
Sie schwirren hin und her und doch im Frühlingszuge.
Das Lenzgespenst, das Lenzgespenst geht um im Hage!
Es kann der Laubwald wandern und sich selbst erwarten,
Das schwankt und walzt nach allen alten Wandelarten;
Es lacht die Nacht: der Wagen wagt, es wacht die Waage.
Es blitzen da Myriaden tanzvernarrte Fragen −
Millionen Nachtigallen schlagen.

 

 

 

Nachbemerkung

Das Sternenkind erschien erstmals 1916 als Band 188 der vier Jahre zuvor mit Rilkes Dichtung Die Weise von Leben und Tod des Cornets Christoph Rilke eröffneten Insel-Bücherei. In den wenigen Jahren ihres bisherigen Bestehens hatte sich diese Bücherei den Ruf einer preiswerten und ästhetisch anspruchsvollen, populären Reihe erworben, und Däubler sah mit der Aufnahme in die Insel seinen größten Wunsch erfüllt, „nunmehr auch der Nation zugeführt zu werden“. Nachdem er die ersten Exemplare des Insel-Buches erhalten hatte, schrieb er voll Freude und Dankbarkeit an Katharina Kippenberg:

[…] heute ist Geburtstag, denn ich habe meine blaubesternten Bändchen bekommen. Möge das Sternenkind noch recht, recht vielen Freude machen, denn so ists gemeint. Die Luxusausgaben sind mir im Grunde entsetzlich. So ein Insel-Büchlein, ist, ich weiß es von mir, eine ,Insel‘ im Leben, in den endlosen Büchereien […].

Der kleine Band war Däublers erste Publikation im Insel-Verlag und brachte eine Auswahl aus dem bis 1916 entstandenen lyrischen Werk. Den Titel der Sammlung gab ein Gedicht aus dem „Ararat“-Zyklus des rund 30.000 Verse umfassenden Epos Das Nordlicht, das 1910 als sogenannte Florentiner Ausgabe in drei Bänden erschienen war. Diese phantastisch-visionäre Kosmogonie mit ihrer Botschaft vom Sieg des Geistes in der Welt hatte Däublers Ruf in der literarischen Öffentlichkeit begründet. Einen besonderen Widerhall fand der Dichter unter Vertretern der expressionistischen Bewegung, die ihn als Vorkämpfer und Mitstreiter begrüßten: Else Lasker-Schüler besang ihn als „Fürst von Triest“, Johannes R. Becher widmete ihm sein Gedicht „Brudertag“, und die von Franz Pfemfert herausgegebene Zeitschrift Die Aktion reservierte im März 1916 „dem großen Theodor Däubler“ ein ganzes Heft.
Neben drei weiteren Gedichten aus dem umfangreichen Epos enthält der Insel-Band auch Verse aus der 1916 bei Georg Müller in München publizierten Hymne an Italien, in der Däubler Landschaften und Städte des Mittelmeerraumes besingt. Der weitaus größte und das künstlerische Bild der Sammlung maßgeblich prägende Teil entstammt dem 1915 im Hellerauer Verlag von Jakob Hegner veröffentlichten Buch Der sternhelle Weg, das eine Reihe kleinerer, in den Jahren 1908-1915 entstandener Gedichte vereint. Darüber hinaus enthält Das Sternenkind bereits die „Sieben Gedichte“, die sich erst in der zweiten, vom Insel-Verlag 1919 besorgten, erweiterten Auflage des Sternhellen Weges finden.
Zeitgenössische Reaktionen auf das Insel-Buch belegen, daß Däubler eine gelungene Auswahl getroffen hatte. Hugo von Hofmannsthal schrieb am 23. Mai 1916 an Katharina Kippenberg :

[…] ich lag etwas elend (nicht ernstlich krank) im Bett als die neuesten Inselbüchlein kamen, griff nach dem Däubler und war von der Schönheit von drei, fünf, zehn dieser Gedichte ganz gefangen. Da gibts keinen Zweifel, das ist schön, neu, original und schön, merkwürdig, bizarr und schön, vor allem schön. Es ist etwas: es ist eine neue Welt. – Ich habe das Nordlicht von Däubler oft in der Hand gehabt, auch Partieen daraus sehr merkwürdig gefunden – aber das konnte ich nicht finden, was ich hier finde: das Schöne, das bezwingt, bindet u. beglückt. Mir ist doch, er ist nun erst zu seiner eigenen Schönheit durchgebrochen […].

Betonte Hofmannsthal derart die „eigene Schönheit“ der im Sternenkind vereinten Gedichte, verwies ein anderer Kritiker mit Nachdruck auf die ungewöhnliche sprachkünstlerische Leistung:

Däublers lyrische Sprache ist wie die unterirdischen und astralen Kurven seines Geistes schwer zugänglich. Sie ist neu, kühn, futuristisch, expressionistisch, – wenn man darunter nicht modern, absichtlich, spitzfindig, krampfhaft versteht; sie ist konservativ, traditionell, klassisch im Gegensatz zu reaktionär, ideenlos, weimarisch. Erst dann wird man das Sternenkind fassen, wenn man alle Voreingenommenheit der Sprache, dem ,Gedicht‘ gegenüber ausgeschaltet hat […].

Diese Aussage findet sich in einer Rezension Wieland Herzfeldes, die im „Theodor Däubler-Sonderheft“ der Zeitschrift Neue Jugend (Oktober 1916) veröffentlicht wurde. Kurt Pinthus nahm mehrere der im Sternenkind und im Sternhellen Weg gesammelten Gedichte in seine repräsentative Anthologie Menschheitsdämmerung auf. Anläßlich einer Würdigung zum 50. Geburtstag von Däubler am 17. Juli 1926 bezeichnete er diese Gedichte als „lyrisch milde Gebilde von rührender Vollkommenheit, […] huschend wie leuchtende Salamander durch die zerklüfteten, aus den Himmeln herabgebrausten Blöcke seiner Ideendichtung“.
Das Sternenkind brachte es bis 1930 in fünf Auflagen auf 26.000 Exemplare und ist damit die erfolgreichste Lyrik-Publikation Däublers im Insel-Verlag, der in einem knappen Jahrzehnt sowohl das bereits bei Georg Müller und Jakob Hegner erschienene lyrische Werk in neuen, zum Teil gründlich überarbeiteten und beträchtlich erweiterten Ausgaben herausbrachte, als auch die Edition der später entstandenen Bücher Die Treppe zum Nordlicht (1920), Päan und Dithyrambos (1924) und Attische Sonette (1924) besorgte. „Ich bin ja so glücklich, wenigstens meine hauptsächlichsten Bücher auf ,der Insel‘ geborgen zu wissen“, schrieb der Dichter im November 1917 an Katharina Kippenberg, die zweifellos einen großen Anteil daran hatte, daß sich zwischen dem Verlag und Däubler so fruchtbare Beziehungen über einen längeren Zeitraum entwickeln konnten. Der Briefwechsel gibt Auskunft darüber, wie engagiert diese Frau, die auch den jungen Becher förderte, sich um Däubler bemühte und anderen gegenüber seine eigenwillige künstlerische Individualität verteidigte. Von Verständnis und ästhetischem Urteilsvermögen zeugen ihre Worte:

Wenn Däubler dichtet, so scheint er immer im Luftschiff zu fahren, wo die Erde merkwürdig zusammengeballt, in ihren einzelnen Linien und Gegenständen überschnitten und unerkennbar kraus unter ihm liegt. Die Stadt, das Haus, der Acker und der Bauer werden unheimlich unterschiedslos und gleichgültig. Die Maße des Himmels, der Gang der Sterne umso wichtiger. Manchmal macht er aber auch lange Spaziergänge durch dichtestes Markt- und Großstadtgewühl, das eigenartig aufflimmert – ganz futuristisch malerisch aussieht – in die Landschaft, wenig wertend, aber alles für seinen Standpunkt ausnutzend. Da ist es oft, als ob ein Baum vom Sturm gepeitscht würde, ganz silbrige Blätter bekäme und so sehr sich beugen müßte, daß seine Krone den Boden berührte, und plötzlich fühlt man eine ungeheure Verbundenheit aller Dinge und sieht, wie die Erde zur Wurzel eingeht, zur Krone aufsteigt und wieder die Berührung der Erde braucht, sich zu retten. Entfernte Dinge der Geschichte werden hineingebogen in unser modernstes Heute. Aber regiert wird von den Sternen aus und was die Erde dazutut, ist für ihn unwesentlich.

Diese Charakteristik erfaßt treffend einen Grundzug Däublerscher Dichtung, in der das Wort Stern neben Mond, Erde und Sonne zu den am meisten gebrauchten gehört. Ihr vom Dichter beabsichtigter Sinn ergibt sich aus einem weltanschaulich-ästhetischen Konzept, demzufolge Erde und Sonne ursprünglich eine Einheit bildeten, die im Verlauf der Entwicklung zerstört wurde. Die humanistische Botschaft des Dichters lautet:

Die Erde wird wieder leuchtend werden, aber die Völker sind verantwortlich, daß dieser Stern, der ein dunkler ist, einst der allerhellste sei […] es bleibt unsre Pflicht, die Erde zu sich, das heißt zu ihrem eigentlichen Licht zu bringen.

Innerhalb dieser Sicht erscheint die Sonne als Sinnbild des Geistes, und der sich seiner geistigen Verpflichtung bewußt werdende Mensch repräsentiert die treibende Kraft zur Aufhebung der noch existierenden Polarität von Erde und Sonne. In der Pseudo-Objektivität des selbst produzierten Mythos sucht Däubler seiner humanistischen Ideenwelt jenseits aller historisch-politischen Gegebenheiten objektive Geltung zu verschaffen. Er konstruiert ein kompliziertes Symbolsystem, das seine lyrische Bilderwelt durchdringt und den plastisch gestalteten Dingen und Erscheinungen der Wirklichkeit einen völlig neuen, häufig schwer erschließbaren Sinn verleiht. Begriffe wie Wald, Baum, Insel, Meer erhalten ihre poetische Sinngebung aus einem vom angenommenen Sonnenmythos bestimmten Bedeutungsgefüge: Wald und Baum beispielsweise werden zu Symbolen des Strebens nach dem Licht, und Inseln fungieren als Sinnbild der Sehnsuchtserfüllung, da in ihnen Sonne und Meer zu fester Materie verdichtet seien.
Aber ,die Sprache der Dinge ist‘ – nach einem Wort von Georg Maurer – „glücklicherweise unendlich“, und viele der so stark auf Sinnlich-Anschaulichem und Naturhaft-Dinglichem basierenden Gedichte Däublers besitzen ungeachtet ihres mehr oder weniger engen Zusammenhanges mit dem mythischen Konzept ein durchaus eigenständiges Leben und vermögen durch den sinnlichen Reichtum ihrer Bilderwelt, durch Farbigkeit und Musikalität der Sprache sowie durch Schönheit der Form dem Leser ästhetischen Genuß zu bereiten.

Hans-Jörg Görlich, Nachwort

 

Nachwort

Theodor Däubler, am 17. August 1876 in der damals noch zu Österreich-Ungarn gehörenden Hafenstadt Triest als Sohn deutscher Eltern geboren, wuchs unter der größtenteils italienischen Bevölkerung zweisprachig auf. Das südländisch-mittelmeerische Element prägte von Anfang an sein Wesen und seine Dichtung. Er schuf sich eine Mythologie, die von Meer und Sonne bestimmt wurde und ins Kosmisch-Unendliche ausgriff. Die den gegenständ-Ansatz immer wieder überflutenden Visionen einer zur Sonne verlangenden Erde, eines zum Licht drängenden Menschen überwältigten ihn und erzeugten eine trotz aller hohen Formkunst ungebändigte Fülle von dionysisch-rhapsodischen und hymnisch-pathetischen Dichtungen. Däublers lyrisch-episches Hauptwerk Das Nordlicht umfaßt mehr als 30.000 Verse. Es erschien 1910 und wurde 1931 neugefaßt. Üppige Impressivität, berückende Musikalität und artistisch-virtuoses Heimspiel dienen einer tiefsinnigen Symbolik, die freilich allzuoft in unverständliche Phantastik oder ins Vag-Geschraubte ausartet. Däublers sprachschöpferische Kraft, die traumhafte Zartheit wie kosmogonische Dynamik ermöglicht, kann nicht bestritten werden. Es gelangen ihm auch in kleineren Gedichtbüchern wie Der sternhelle Weg (1915) vollendete Gebilde, die auch in der von ihm selbst veranstalteten Gedichtauswahl Das Sternenkind (1917) überwiegen. Im Ethos menschheitlicher Bruderschaft ist Däubler dem deutschen Expressionismus verbunden, wie er seinen Liebesenthusiasmus vorzüglich dem Christentum verdankt. Doch sprengt sein eigenwilliges Künstlertum das Tradierte wie das Zeitgenössische, so sehr er sich in ebenso engagierten wie wohlabgewogenen Essays für moderne, insbesonders expressionistische Malerei einsetzte (Im Kampf um die moderne Kunst, 1919). Nicht nur hier ist ein starker, rationaler Faktor wirksam. In packender, farbig-anschaulicher, doch auch wissenschaftlich bemühter Prosa schildert Däubler die geliebten südländischen Landschaften, die er sich auf seinen großen Wanderfahrten erschloß.
Denn sein Leben war von jungen Jahren an ein winziges rastloses Wandern – er sei ,,ein Vagant großen Stiles“, sagt der ihn verständnisvoll beurteilende Dresdner Literaturhistoriker Christian Janentzky. Gewiß war Däubler allen bürgerlichen Konventionen abhold, wenn er auch in seinem dichterischen Ernst ohne alles Bohemèhafte blieb. Nur in Venedig, Florenz und Rom hielt er es längere Zeit aus, von da aus Italien und Sizilien erkundend. Zwischen 1921 und 1926 unternahm er große Reisen nach Griechenland, der Türkei, Ägypten, Palästina und Syrien. Von seinen Reisebüchern haben Der heilige Berg Athos (1923) und Sparta (1923) hohe Qualität. Einigemale lebte Däubler auch in Berlin und versuchte sich als Kunstkritiker. Doch kam er niemals aus der wirtschaftlichen Bedrängnis heraus, obwohl sich stets ein kleiner Kreis von Freunden um ihn scharte, und lebte „beinahe nur von Schulden“, wie er einmal sarkastisch schrieb. Der große Publikumserfolg blieb aus, obschon sich der in der literarischen Weltöffentlichkeit angesehene Insel-Verlag wacker seiner annahm. Auch die ausgedehnten Vortragsreisen, die ihn zwischen 1927 und 1931 durch ganz Deutschland und das nördliche Europa führten, minderten seine Tagessorgen kaum. So rettete ihn die von ihm und seinen Freunden angerufene Schillerstiftung, deren Vertreter, voran Christian Janentzky, ihm wohlwollend begegneten, mehrfach vor dem Ärgsten, zumal er 1932 an Lungentuberkulose erkrankte, die ihn zwang, die letzten beiden Lebensjahre im Sanatorium St. Blasien im Schwarzwald zu verbringen. Hier ist er am 13. Juni 1936 gestorben. Sein Nachlaß wurde dem Goethe-Schiller-Archiv in Weimar überlassen, das ihn noch heute bewahrt und somit den Worten Hans Wahls – ,,Andenken und Wirkung des großen Dichters auf das würdigste sicherstellt“.
In allen Literaturgeschichten respektvoll verbucht, hier und da in Anthologien berücksichtigt, ist Däubler doch dem Publikum fast unbekannt. Man darf ihn aber keinesfalls als esoterischen Phantasten abtun. Die Kenner seines Werkes wissen ihn mit Recht zu würdigen: er war ein eigenwüchsiger Charakter, dessen wuchtige äußere Gestalt, von einem mächtigen Prophetenbart umweht ins Mythische wachsend, schon Ehrfurcht gebot. Jede Art von Nationalismus war ihm fremd, literarische Geschäftigkeit widerte ihn an. Von edlem Humanitätsgeist beseelt, litt er am Zwiespalt von Dunkel und Licht, den er auch in der deutschen Version von Nord und Süd, Faust und Helena durchempfand, in der „inneren Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur“ – wie es Janentzky in seinem Gutachten vom 22. August 1926 darlegt – deutsche Dichtung und deutschen Geist in bedeutenden Wellen repräsentierend. Däubler war dem Lichte zugewandt und verkündete in visionärer Gläubigkeit den Sieg der hellen Mächte über das hinabziehende Dunkel. So hat er einen Anspruch, unter die progressiven Zeugen spätbürgerlicher Literatur gereiht zu werden.

Joachim Müller, aus Die Akte Theodor Däubler herausgegeben von Joachim Müller, aus dem Archiv der Deutschen Schillerstiftung Weimar, Heft 12, 1964

Begegnung mit Theodor Däubler

Im alten Café des Westens, Ecke Kurfürstendamm und Joachimsthaler Straße, lernte ich eines Abends Theodor Däubler kennen, und er schrieb gleich einen Artikel über mich für die Weißen Blätter. Es war noch 1916. Die Weißen Blätter, von dem Deutsch-Elsässer René Schickele herausgegeben, waren ein intellektuelles Magazin mit pazifistischer Tendenz, das verschleiert gegen den Krieg und für Völkerverständigung eintrat. Auch mitten im Kriege las man darin Gedichte und Artikel feindlicher Ausländer; man wurde mit Henri Barbusse bekannt gemacht und auf Romain Rolland hingewiesen. Die Weißen Blätter brachten unter anderem eine der besten Novellen des damals noch ganz unbekannten Schriftstellers Leonhard Frank („Der Vater“). Sie entdeckten Franz Kafka („Die Verwandlung“). Sie entdeckten auch mich.
Däublers Artikel – mit Abbildungen – machte mich sozusagen über Nacht bekannt, wenn auch zunächst nur in intellektuellen Kreisen.
Man sprach über mich. Ich war selbst ein wenig überrascht, aber nicht unangenehm. Ich, der ich vorher nur ein paar Freunde kannte, kam nun mehr herum. Ich brauchte den jungen Mann in Flauberts „Education sentimentale“ nicht mehr um seine gesellschaftlichen Beziehungen zu beneiden. Ich wurde eingeladen. Neue Freunde tauchten auf. Merkwürdige Menschen traten in meinen Gesichtskreis: Schriftsteller, Gelehrte, die sich mit Astronomie beschäftigten und vegetarisch lebten, Bildhauer mit Verfolgungswahn, Volksbeglücker mit verborgenen Lastern, ein gescheiterter Trinker, der von Übersetzungen lebte, Maler, Musiker und Philosophen. Was für ein merkwürdiger und interessanter Reigen! Nachtmenschen waren das, manche wie Schattenpflanzen, wie Bilsenkraut, das nachts in der Nähe der Dunghaufen blüht und giftig ist – Maulwürfe manche, die blind unter der Erde lebten – Molche wieder andere, denen ein Stück abgeschlagenen Schwanzes sofort wieder nachwuchs und die unverwundbar schienen. Wir verkehrten alle im Café des Westens; am späten Nachmittag oder spät in der Nacht saßen wir dort und disputierten. Politisch gingen unsere Ansichten auseinander. Lose nur verband uns ein Gemeinsames, ob wir nun mehr aufgeklärt oder mehr religiös eingestellt waren: wir liebten die herrschende Militär- und Großindustriellenklasse nicht – und wir wußten schon im Jahre 1916, daß dieser Krieg nicht gut ausgehen konnte.
Da war mein lieber Freund, der Theodor Däubler, Theodor der Dicke genannt…
Er war ein sogenannter Mittelmeermensch. Er hatte einen Bart und einen Bauch, war ein gewaltiger Esser und Raucher und hatte das gewaltige Epos Das Nordlicht geschrieben. Ihm zuzuhören war ein Genuß. Am liebsten hatte er junge Leute um sich, Dichter und Maler; er war der Mittelpunkt eines kleinen Kreises, und wenn er so auf dem Sofa lag, das drückende Hosenband halb aufgemacht, hätte er wirklich ein griechischer Philosoph sein können, der seine Schüler um sich versammelte. Auch sein Zeuskopf ließ auf diese Art weiser, beherrschter Lebenskunst schließen.
In Wirklichkeit war er ganz anders.
Immer gehetzt war er und viel in Geldnot, obwohl er unter anderem eine Monatsrente vom Inselverlag bezog und also genug zum Leben hatte. Das war es nicht – nein, das Geld wollte nicht bei ihm bleiben, es rann von ihm fort und oft in trübe Kanäle. Auch von einer Patronin seiner Kunst, der nicht mehr jungen Frau eines Dresdener Mühlenbesitzers, erhielt er Geld – und das beunruhigte ihn ebenfalls, denn er konnte beim besten Willen nicht mehr als eine platonische Gegenliebe für die Dame aufbringen. Er war ein ängstlicher Mensch und fühlte sich von allen möglichen Gewalten verfolgt. Und er war ehrgeizig und betonte immer wieder, wie sehr es ihn quäle, daß er so wenig Anerkennung finde und noch nicht durch sei.
Ich sehe ihn noch, wie er mit wütenden, hungrigen Augen aus der Küche kam, in der seine Schwester das Abendbrot richtete, in jeder Hand eine große rohe, unabgeschälte Kartoffel. Wütend ging er hin und her, immer mit seinen Zähnen in die Kartoffeln beißend und sie abschälend wie ein Nagetier. Die abgekauten Schalenstückchen warf er achtlos irgendwohin – in eine leere Blumenvase, auf den Kamin, aufs Bücherregal. Auf und ab, auf und ab ging er wie ein vorsintflutliches Monstrum. Es schnarrte, rasselte und schnalzte; dazwischen rief er dauernd:

Ich bin noch nicht durch – ich bin noch nicht durch.

Wir gaben einmal ein kleines Essen für ihn und ein paar Freunde, und meine Frau hatte extra eine gehörige Doppelportion Spaghetti mehr gemacht als gewöhnlich. Die große, flache, im Herd überbackene Schüssel wurde Däubler als dem Ehrengast zuerst gereicht; er gab sie aber nicht weiter, sondern ließ sie ruhig vor sich stehen, schob seinen Teller beiseite und aß im Handumdrehen mit einer Art apokalyptischen Hungers die Schüssel leer… Es war etwas Vulkanisches an ihm, wenn er so aß. Man konnte diesem Naturschauspiel nur zusehen. Die Spaghetti wurden mit Chianti hinabgespült; einige blieben auch im Barte hängen, und da er dabei noch sprach (er tat immer alles zugleich; nordische Zurückhaltung und Disziplin waren ihm fremd), so sprangen die Stücke rechts und links davon – es war formidabel. Es war das Essen an sich, die Sättigung als solche, die hier stattfand und der wir staunend beiwohnten.
Gleich hinterher wurde geraucht. Piff, paff – da war auch schon die Zigarre zu Ende, der Stummel verschwand und eine neue wurde angesteckt. Wie der Schornstein eines großen Ofens rauchte es.
Später entdeckten wir, wo Däubler die Zigarrenstummel ließ. Er steckte sie einfach seitlich ins Futter des großen Sessels, unter die Kissen, dorthin, wo die Polsterung beginnt. Natürlich waren da immer einige Löcher gebrannt, und wir überlegten, ob wir vielleicht eine Art kleiner Blechrinne einbauen sollten. Schließlich nahmen wir es mit Humor als unsere Schuldigkeit für Däublers großartige Geschichten – die vom rothaarigen Sollmann etwa, der längst gestorben immer noch weiterlebte und eigentlich alle Bilder des berühmten Norwegers Edvard Munch gemalt hätte: manchmal sichtbar, manchmal unsichtbar sei er hinter Munch gestanden und habe ihm den Pinsel geführt, woher dessen Bilder auch ihre besonders von Deutschen so vielbewunderte mystische Note hätten…
Däubler hatte den Sollmann zuletzt in Venedig getroffen und von ihm gehört, er sei schon über 150 Jahre alt. Er sei eben aus einer langlebigen Familie.
„Hast Du ihn auch mal in Berlin gesehen?“ fragten wir.
„Ja“, sagte Theodor. „Das war sehr merkwürdig. Ich saß im Kaffeehaus. Draußen war es sehr kalt – November, glaube ich – mit Eisblumen am Fenster, aber nicht ganz zugefroren; hie und da sah man durch, auf die Potsdamer Straße. Auf einmal saust da eine Straßenbahn vorbei, und ich sehe einen kleinen Mann dahinter herlaufen – oder nicht laufen, eher schweben –, also Sollmann. Ohne Hut, das flammende Haar wie eine Aureole um den Kopf, und so unheimlich das klingt: mit zwei Paar Schmetterlingsflügeln an den Schultern! Natürlich, die Eisblumen – aber ich weiß doch, was ich gesehen habe! Stellt Euch das bloß vor“, schloß er, „Schmetterlingsflügel im November –“
Aus seinem Nordlichtepos, einem dreibändigen kosmologischen Kolossalwerk voll geheimer Symbolismen und Prophetien, die auszulegen nur Eingeweihten gegeben war, las er gerne vor. Sein Fehler dabei war, daß er sich an sich selbst berauschte (was den Dichtern ja leicht passiert) und nie aufhörte. War seine Freundin Else Lasker-Schüler anwesend, so hörte man sie oft gemütlich schnarchen, der dröhnenden Stimme des Nordlichtdichters zum Trotze friedlich entschlummert. Däubler pflegte sich nicht darum zu kümmern; er behauptete, es sei einfach unbewußte Eifersucht.

Georg Grosz, aus Georg Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein, Rowohlt Verlag, 1955

 

Rudolf Pannewitz: Theodor Däubler, Merkur, Heft 105, November 1956

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 1, 2, 3 & 4 +
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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Theodor Däublers Gedicht Berauschter Abend gelesen von Konstantin Wecker.

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