Xiao Kaiyu: Im Regen geschrieben

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Xiao Kaiyu: Im Regen geschrieben

Kaiyu-Im Regen geschrieben

IX

Kein anderes China.
aaaaaWeder Industrieabwässer
noch Männer und Frauen, die sich der Trauer
aaaaawidmen,
noch das barmherzige Lächeln einer bösen Macht,
aaaaadas hier widerhallt.

Wir zwei, Revolutionäre,
aaaaakommen in der Buchhandlung zusammen,
nicht zum Kampf, bloß
aaaaazu Wortklaubereien nach einem Glas Alkohol.
Bloß wie eifrige Fliegen.
Von zu Hause weglaufen, heimkehren, sich lieb Kind machen,
den Kopf durchs Geländer strecken
aaaaaund Dialoge schreien,
das eigene Hirn öffnen, etc.
Dazu die Furcht und die Ohnmacht vorschützende
aaaaaFlucht, das Irrewerden.
Gerade die Scham der verspäteten bösen Macht
ist das Visum zum Abendbankett
und zu dessen Genuss.
aaaaaLass Strafen walten, China!
(…)

Aus: Hommage an Du Fu

 

 

 

… Xiao Kaiyu begann in einer Zeit zu schreiben,

als nach einer Periode verordneter geistiger Schonkost individuelle Experimente wieder toleriert wurden. Westliche Literatur wurde eifrig rezipiert, aber auch die eigene Tradition wurde neu entdeckt. Es verwundert daher nicht, wenn Xiao Kaiyu so unterschiedliche Namen wie Pound, Wordsworth, Browning, Dante, Pindar, Mallarmé, Yeats oder Frank O’Hara als prägende Einflüsse nennt, dies aber sogleich mit der Aussage relativierend, dass ihm die Gedichte eines Tao Yuanming (365-427) oder Du Fu (712-770) lieber seien als die eines jeden westlichen Dichters. Letzerem erweist Xiao Kaiyu im groß angelegten Zyklus „Hommage an Du Fu“ seine Reverenz. Sprachgewaltig entwirft er darin aus der Sicht verschiedener Personen ein Sittengemälde des modernen China…

Raffael Keller, Aus dem Vorwort

 

Dokumentarische Präzision

und ins Surreale überbordende Bilderfluten, intime Skizzen und mit scharfer Ironie vorgebrachte Gesellschaftskritik – in Xiao Kaiyus Lyrik gehen die verschiedenen sprachlichen Ausdrucksmittel, die sich die chinesische Poesie seit dem Ende der Kulturrevolution erschlossen hat, eine symbiotische Verbindung ein.
Charakteristisch ist die Orientierung an der erfahrbaren Realität, womit der Dichter auf ein zentrales Konzept der klassischen chinesischen Poesie zurückgreift, in der die sinnlich wahrnehmbare Welt immer im Vordergrund stand und dasjenige, was wir etwas abschätzig als Gelegenheitsgedicht bezeichnen, eine zentrale Stellung innehatte.

Verlag Im Waldgut, Klappentext, 2003

 

Der Imperativ des starken Augenblicks

Vor drei Stolpersteinen muss der unerfahrene westliche Leser auf der Hut sein, beschäftigt er sich mit chinesischer Literatur. Da ist erstens die Sache mit den Namen: Im Chinesischen steht der Nachname immer vor dem Vornamen. Ist also beispielsweise von Mao die Rede, sollte man sich in Erinnerung rufen, dass Tse-tung sein Vorname ist. Bei dieser Gelegenheit erinnert man sich vielleicht auch, dass Mao dichtete: Er schrieb während Sitzungen und Kongressen Verse auf kleine Zettelchen, die er dann oftmals liegen liess, wie gemunkelt wurde. Nun ist der oberste Kulturrevolutionär und Verfasser der „Roten Bibel“ nicht unbedingt das beste Beispiel, was Lyrik anbelangt. Doch gerade Maos Verhalten verdeutlicht die Unablegbarkeit eines traditionellen chinesischen Schreibhabitus: Man dichtet je nach Gelegenheit – aber immer aus konkretem Anlass, zu dem man in einem engen Bezug steht.

Scheinbar banal klingen
Das ist der zweite Stolperstein für den westlichen Leser: Er neigt vielleicht dazu, das Gelegenheitsgedicht zu belächeln. Das wäre ein Fehler, denn das spontane Schreiben aus dem Augenblick heraus bedeutet nichts anderes, als das Hier und Jetzt in vollen Zügen in sich aufzunehmen. Dabei bleibt die fassbare Wirklichkeit in der chinesischen Lyrik Ausgangs- und vor allem auch Endpunkt der dichterischen Meditation. Aus diesem Grund kann das chinesische Gelegenheitsgedicht für abendländische Ohren – scheinbar – banal klingen.
Wenn Xiao Kaiyu etwas schreibt, dann klingt es keinesfalls banal: Der 1960 in der Provinz Sichuan geborene Lyriker und Arzt für traditionelle chinesische Medizin, der zurzeit als Literaturdozent in Schanghai wirkt, zählt mittlerweile zu den wichtigsten Stimmen seines Landes. Bei der Lektüre seines Gedichtbands „Im Regen geschrieben“, der 2004 auf Deutsch im Frauenfelder Waldgut-Verlag erschien, zieht Xiaos eigentümlich sanfte Wortgewalt den Leser fast auf jeder Seite in ihren Bann. Gleich das erste Gedicht, dessen Titel dem Band seinen Namen gab, erweist sich als typisches Gelegenheitsgedicht:

Zahllos die Wunder, die wir schauen.
Der Mond und zuckende Blitze
erhellen Fische und Algen im Fluss.
Am Ufer fliegen Vögel auf und nieder,
tragen Lehm und Zweige fort.
Die frische Luft,
das Leben und der Tod.
Um uns.

Der Dichter nimmt die Bewegung des Lebens in sich auf und spürt, wie er selbst mittendrin steckt. Durch die Verinnerlichung immer neuer Momentaufnahmen des Lebens versucht Xiao, die Welt in ihrer ganzen Bedeutungsbreite zu erkennen und seine aktuelle Beziehung zu ihr festzulegen. Das Ziel: Sinn- und Selbsterkenntnis, existenzieller Einklang.
Nun ist der beunruhigende Unterton im zitierten Gedicht nicht zu überhören. Dem Tod Sinn zuzusprechen muss zunächst verstören, aber auch die Bewegung des Lebens scheint irgendwie unruhig: Der Eifer der Vögel gerät unter dem Eindruck der zuckenden Blitze zur Hast und der Titel „Im Regen geschrieben“ sorgt für Assoziationen eines unablässigen Hintergrundrauschens, das nervös macht. Dieses Strögeräusch wird zum akustischen Sinnbild des schonungslosen, verstörenden Schauens.
Xiaos Fähigkeit des kritischen Blicks missfiel lange auch Maos milder denkenden Erben. Der Dichter wurde wiederholt mit Publikationsverbot belegt; erst ab 1997 durften drei Gedichtbände bei offiziellen chinesischen Verlagen erscheinen. Ganz unverblümt kommt das Kritische im Gedicht „Ich bin gegen das Drei-Schluchten-Projekt“ zum Ausdruck:

Bitte verzeiht dem Langen Strom seinen Lauf durch die endlose
Wassergalerie (…)
Bitte verzeiht der ruhelosen Seele Qu Yuans,
und dem Spiegel der Tugenden in der Geisterstadt Fengdu (…)
Bitte verzeiht den plumpen Häusern der Bauern an seinen Ufern
ihren mageren Äckern (…)
Sekretäre, Präsidenten, Minister,
bitte spuckt nicht Zement, Stahl und Steine
aus euren Mündern nach Sandouping! (…)
Bitte löscht nicht um des elektrischen Stromes, des so genannten
Lichtes willen,
unsere Erinnerung,
höhlt nicht unsere Augen aus.

Appel und Anspielung
Xiaos Appell, einige der wichtigsten Stätten der chinesischen Geschichte nicht in den Fluten eines Staudamms verschwinden zu lassen, lässt an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig. Weniger deutlich erscheinen die Namensanspielungen: Qu Yuan ist der erste historisch fassbare Dichter Chinas, dessen Heimatstadt Zigui in den Fluten versinken wird, und nahe der Stadt Fengdu liegt der Eingang zur Unterwelt, wo höhere Mächte Gericht über die Verstorbenen halten. Ohne entsprechende Kenntnisse entgeht dem Leser die Aussagetiefe solcher Querverbindungen – das ist der dritte Stolperstein. Glücklicherweise hat der Winterthurer Sinologe Raffael Keller, der Übersetzer der Gedichte Xiaos ins Deutsche, daran gedacht, den Band „Im Regen geschrieben“ mit entsprechenden Anmerkungen zu versehen, die über die schwierigsten Verständnisabgründe hinweghelfen. Übrigens ist Xiao Kaiyus Bezug zu Winterthur gleich ein doppelter: Im April 2000 rezitierte er auf Einladung der Literarischen Vereinigung im Alten Stadthaus viele Gedichte, die nun gesammelt in besagtem Band vorliegen.

Des Dichters Maxime
Augenscheinlich wird im Staudamm-Gedicht aber auch eine poetologische Maxime: Das zu verinnerlichende Konkrete muss nebst dem Persönlichen auch das Soziale und Politische umfassen. Diese Maxime hat Xiao Kaiyu von seinem Vorbild übernommen, wie es der Titel des umfangreichen Gedichtzyklus „Hommage an Du Fu“ andeutet: Der Lyriker Du Fu lebte im achten Jahrhundert und gilt als der grösste chinesische Dichter, weil es ihm wie keinem zweiten gelang, den schonungslosen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse mit lyrischer Empfindsamkeit zu verquicken. In besagtem Zyklus legt Xiao die Zerrissenheit des modernen China bloss. Er sieht das menschliche Dasein zwischen Konsum und Elend, neuer Toleranz und bürokratischem Leerlauf oszillieren:

Kein anderes China.
Weder Industrieabwässer
noch Männer und Frauen, die sich der Trauer widmen,
noch das barmherzige Lächeln einer bösen Macht,
das hier widerhallt.

Das lyrische Ich begibt sich auf die Suche nach dem Du aller Dinge und empfindet sich dabei als Mängelwesen: „Womit ich konfrontiert bin, ist zugleich was mir fehlt, / Staat, Bestimmung, irgendein Tag / und die Fähigkeit zur Freiheit.“ Trotzdem überwindet das Ich stets aufs Neue die latente Unfähigkeit zur Freiheit, angetrieben von der Sehnsucht nach Erkenntnis und existenzieller Einbettung. Dabei stösst es auf tausendfache Orientierungslosigkeit und droht sich angesichts der vielen unfertigen Lebensmöglichkeiten zu zersplittern. Dies widerspiegelt die verstörende Bilderflut, die an manchen Stellen vollends ins Surreale überschwappt und die dem Leser fast unheimlich wird, wenn er sich dem Ende des Buches nähert. Spätestens hier wird klar, dass Xiao das Gelegenheitsgedicht mit dem Erlebnisgedicht zu einer höheren Einheit verschmolzen hat. Und genau hier wird Raffael Kellers eigentliche Leistung deutlich: Auch in der deutschen Übersetzung bleibt die ungeheure existenzielle (An-)Spannung des lyrischen Erlebens eine unmittelbare.
Xiao hat das Gesetz der Unvereinbarkeit entdeckt: Das Ich sucht Seinseinklang und findet nur Zersplitterung vor. Was nun? Der Dichter macht aus der Not eine Tugend: „(…) ein Gefühl sich der Wahrheit / zu nähern / verwirrte die bereits erschütterte Zuversicht“, erkennt Xiao. Dahinter steckt System: Das beste Mittel gegen die allgemeine Zersplitterung ist eben die kontrollierte lyrische Zersplitterung. So kann der Dichter seinen Gedichtband mit folgenden Worten ausklingen lassen: „(…) dies ist kein Ende einer inszenierten / Selbstverbrennung.“ Klingt ironisch, aber auch das System: „Leben (…) heisst ironische Bemerkungen machen!“. Als das eigentliche Zaubermittel entpuppt sich also die Ironie. Denn indem sie alles relativiert, verhindert sie das Abgleiten des Ichs ins Chaos der Transzendenz.

Ironie klärt den Blick
Aber vor allem holt die Ironie den Dichter auf den Boden der Tatsachen zurück. Xiaos Blick klärt sich, und er nimmt wieder die beruhigende Schlichtheit des Augenblicks wahr, wie das in der letzten Strophe des Gedichts „Stille 2“ der Fall ist: „Die Bergkette, die sich hinzieht am Rasen / hat tatsächlich eine Gartenpracht gedrechselt, / der kalte Winter hat tatsächlich zwei Welten vereint.“ Das Erleben des Augenblicks muss intensiv sein, dann vermag es alle Zerrissenheit zu kitten und dem Ich ein Quäntchen Glück zu verschaffen. Das ist Xiao Kaiyus eigentliche Entdeckung: der Imperativ des starken Augenblicks.

Peter Jankovsky, Der Landbote, 24.10.2009

Gedichte von Xiao Kaiyu,

aus dem Chinesischen übersetzt von Raffael Keller, zeigen die sprachliche Virtuosität und Vielseitigkeit eines Vertreters der jüngeren Generation chinesischer Dichter. Xiao Kaiyu (Jg. 1960) aus der Provinz Sichuan, wurde zuerst Arzt für traditionelle Medizin, bevor er 1985 begann Gedichte zu veröffentlichen und Untergrundzeitchriften für avantgardistische Lyrik zu gründen. Von 1998 bis 2003 erhielt er Stipendien in Deutschland und reiste durch Europa und die USA. Heute lebt er als Dozent für klassische chinesische Literatur in Shanghai.
Es ist faszinierend zu lesen, wie ein moderner chinesischer Dichter die westliche Welt erlebt und seine Eindrücke in Lyrik umsetzt, z.B. im – ausnahmsweise kurzen – Gedicht „2. Dezember 1997, nachts“:

Der Schneesturm zieht uns in Richtung Polen,
fast bis zur Grenze hin. Wir hätten
Von Dresden aus nach Norden sollen, doch fahren wir geradewegs
aaaaanach Osten
und bleiben auf einer von leisem Donnern erfüllten Ebene stehen.
Später, beim Auftanken in der Gefängnisstadt, bemerke ich, was
aaaaauns ganz entgangen war:
Das Radio brachte Chopin-Etüden.

Im Zyklus „Ein Lied von Geld und Sternenzelt“ beschreibt Xiao Kaiyu als Zeitzeuge kritisch, ironisch, realistisch, fast dokumentarisch, dann wieder surrealistisch, fremd und unheimlich packend das heutige urbane China, in dem Kühlschränke und Aktenschränke, Computer, Turnschuhe, der Souzho-Fluss, der früher zur Erholung diente und heute eine Kloake ist, der Shenhua (Shanghaier Fussballclub), der Flughafen u.a.m. ebenso vorkommen wie Anspielungen auf klassische chinesische Romane und berühmte Gedichte seiner Vorbilder, z.B. von Du Fu (712-770), dem er eine lange „Hommage“ widmet.

Barbara Traber, Orte, Heft 144, April 2006

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
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