Anthologika
Teil 20 siehe hier …
Das Dichterische ist nicht identisch mit der Dichtung, und es macht auch nicht die Qualität des dichterischen Texts aus – eher steht es für dessen Wirkung, den Effekt, die Atmosphäre, die Stimmung, die bei der Lektüre aufkommen kann.
Diese Wirkung ist in keiner Weise messbar, und überhaupt lässt sie sich objektiv (d.h. anhand des Gedichts selbst) nicht nachweisen. Offenbar hat sie – wie Zauber- oder Beschwörungstexte – etwas mit Magie zu tun und bildet gewissermassen die Aura des Gedichts. Von daher erklärt sich die geläufige Verbindung des Dichterischen mit dem Romantischen.
«Ein Lieblingsgedicht von mir», so belobigt eine namhafte Rezensentin ungeniert einen zeitgenössischen lyrischen Text, «nicht nur weil es so schön und stimmig in sich selber steht und mit einem zauberhaften Bild beginnt. Vielmehr auch, weil es sehr viel Wesentliches über den Dichter sagt.» – «Schön», «stimmig», «zauberhaft» und, darüber hinaus, auch noch «wesentlich» – das sind die konventionellen Etiketts, mit denen noch heute, diesseits kritischer Vernunft, das Dichterische beschworen wird.
Um die Unbestimmbarkeit und Unmessbarkeit des Dichterischen versuchsweise zu konkretisieren, würde ich sagen: Das Dichterische eines Gedichts ist das, was bei der Übersetzung des Gedichts unweigerlich verloren geht.
Oder auch: Das Dichterische ist nicht das, was als Text dasteht, sondern das, was beim Lesen des Texts unartikuliert mitschwingt.
Schlüssige Definitionen sind das natürlich nicht, immerhin jedoch – ex negativo – praktikable vorläufige Umwege dazu.
… Fortsetzung hier…
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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