Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie
Teil 6 siehe hier
Die hochgemute Belobigung der Venus als Inbegriff zugleich von Schönheit und Weiblichkeit ist nicht erst von der künstlerischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts polemisch konterkariert worden (etwa durch Marinetti, Majakowskij, Malewitsch) – schon der konservative Gottfried Keller hat sich in einem diesbezüglichen Bildgedicht über den antikischen Schönheitskult spöttisch amüsiert («Venus von Milo», 1878):
Wie einst die Medizäerin
Bist, Ärmste, du jetzt in der Mode
Und stehst in Gips, Porz’lan und Zinn
Auf Schreibtisch, Ofen und Kommode.
Die Suppe dampft, Geplauder tönt,
Gezänk und schnödes Kindsgeschrei;
An das Gerümpel längst gewöhnt,
Schaust du an allem still vorbei.
Wie durch den Glanz des Tempeltors
Sieht man dich in die Ferne lauschen,
Und in der Muschel deines Ohrs
Hörst du azurne Wogen rauschen!
Francisca Stoecklin, eine dem Dadaismus nahestehende Dichterin, hat der Venus in den 1920er Jahren noch einmal Reverenz erwiesen in einer formal eher schwachen, inhaltlich dürftigen Strophe mit direkter Adresse an die «Göttin», von der sie sich für die zeitgenössischen «Priesterinnen» Beistand erhoffte unter der Bedrohung durch «Tod und Todesangst» auch «in den höchsten Liebesfesten»:
O Tag der Gnade,
Sieg des frühlinghaften Glänzens!
Da sich das Meer
in dich hineingeliebt,
die schlankste Welle
deine Anmutslinie zog.
Und dann ihr kluges Spiel
auf ewige Zeit
in deine Adern sang,
damit du sein Geheimnis
großen Liebenden erhältst.
Doch schon damals hatte Venus als Inbegriff weiblicher Schönheit und Sinnlichkeit ihre Attraktivität verloren, hatte ausgedient als Ideal und als menschliches wie künstlerisches Vorbild. Statt dessen rückten die Bildkunst und Literatur der traditionsbrechenden Moderne seit dem sozialkritischen Realismus, später vorab im Expressionismus ein gegenteilig geartetes, völlig unheroisches und ungeschöntes Frauenbild in den Fokus, nämlich die Erniedrigten, die Missbrauchten, die Verelendeten einerseits, die Emanzipierten, Engagierten, Arrivierten andrerseits. Weder diese noch jene haben in der Bilddichtung merkliche Spuren hinterlassen.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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