Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Bildgedichte (Teil 8)

Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie

Teil 7 siehe hier

Rainer Maria Rilkes vielzitiertes und vielfach interpretiertes Sonett «Archäischer Torso Apollos” (1908) hat die bruchstückhafte Skulptur einer Gottheit zum Gegenstand. Der wohlgestaltete kopf- und gliedlose Torso bildet im Pariser Louvre das männliche Pendant zur ebenfalls fragmentarischen Venus von Milo – ein weltweit bekanntes Paar beschädigter beziehungsweise defizitärer Schönheit.

 

Torso Apollos (480-470 v. Chr.)

 

Als lyrisches Subjekt tritt in Rilkes Dichtwerk ein anonymes Wir auf, das sich an ein Du wendet, um das Bildwerk nicht nur bemerkenswert exakt zu vergegenwärtigen, sondern daraus auch eine Lehre zu ziehen: «Du musst dein Leben ändern.»

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Dieses Bildgedicht geht über die physische Darbietung des Objekts weit hinaus, es rapportiert nicht nur, was materiell vorhanden ist, es vermerkt auch, welche Wirkung davon ausgeht («sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber», flimmert «wie Raubtierfelle», bricht «aus allen seinen Rändern | aus wie ein Stern») und hält – in kühner Umkehrung der Blickrichtung – fest, dass diese kopflose, logischerweise blinde Figur ihren Betrachter streng ins Aug fasst: «… da ist keine Stelle, | die dich nicht sieht.»
Ein späterer (griechischer) Autor, Phoibos Delphis, bespricht dieselbe antike Skulptur, indem er sie direkt anredet und den dargestellten Gott für «uns» um Rat und Hilfestellung bittet («Archaischer Apollon», 1972). Im Unterschied zu Rilke gewinnt die Gottheit hier keine physische Gestalt, sie ist einzig durch ihren Namen präsent, bleibt ansonsten ein Abstraktum und wird wie jeder Gott zum Adressaten eines Gebets:

Archaischer Apollon,
füg uns in die viereckige Logik.
Gib uns das Skelett rechter Worte,
gib uns die Gesundheit der Dioskuren,
deines Leibs, der allen Qualen
ruhig begegnet.
Schreckliche Schönheit: das Leben.
Beladen. Gedankenschwer.
Ist der Tod das Allerschönste,
der letzte Untergang der Welt?
Archaischer Apollon,
füg uns wie die Quader deines Tempels.

(deutsch von Günter Dietz)

Das reale Bildwerk (der Torso von Milet im Louvre) ist für dieses Gedicht irrelevant, es könnte gegen eine andere archaische Apollon-Plastik ausgetauscht oder durch eine blosse Vorstellung davon ersetzt werden. Rilkes sinnliche Vergegenwärtigung und Verlebendigung der Gottheit wird von Delphis nicht einmal andeutungsweise erreicht, allerdings auch gar nicht angestrebt. Denn sein Interesse gilt weit weniger diesem (oder jenem) konkret vorhandenen «Apollon» als vielmehr dem Apollinischen schlechthin, das seit jeher mit Abgeklärtheit oder wie im vorliegenden Gedicht mit «Logik», «Gesundheit», «Ruhe», «Schönheit» assoziiert wird. Das Bildgedicht gerät in diesem wie in andern Fällen zu einem blossen Ideengedicht.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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