Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Die Farbpalette der Dichtung (Teil 16)

Die Farbpalette der Dichtung
Eine kleine koloristische Poetik

Teil 15 siehe hier

Ebenfalls in der frühen Nachkriegszeit hat Gottfried Benn («Ebereschen», 1954) den Endreim rot :: Tod aktiviert und die sonst so macht- und lebensvolle Farbe Rot dem Herbst zugeordnet, als Zeichen des Abschieds, der Nachglut, des Absterbens:

Ebereschen – noch nicht ganz rot
von jenem Farbton, wo sie sich entwickeln
zu Nachglut, Vogelbeere, Herbst und Tod.

Ebereschen – noch etwas fahl,
doch siehe schon zu einem Strauß gebunden
ankündigend halbtief die Abschiedsstunden:
vielleicht nie mehr, vielleicht dies letzte Mal.

Ebereschen – dies Jahr und Jahre immerzu
in fahlen Tönen erst und dann in roten
gefärbt, gefüllt, gereift, zu Gott geboten −
wo aber fülltest, färbtest, reiftest du −?

In einem frühexpressionistischen Langgedicht führt auch Georg Heym den Tod mit der Farbe Rot zusammen («Das Fieberspital», 1911), hier jedoch angereichert mit tragischem Zynismus: Der Tod kündigt sich als blühendes «Frührot» an, und dieses wiederum ist lediglich der Widerschein des fiebrigen Rot auf der Stirn der sterbenden Patienten, ein letztes Aufglühen im Grau (im Grauen) zwischen Weiss und Schwarz:

Sie beißen auf die Nägel ihrer Hand.
Die Falten ihrer Stirn, die rötlich glüht,
Sind wie ein graugefurchtes Ackerland,
Auf dem des Todes großes Frührot blüht.

Sie strecken ihre weißen Arme vor,
Vor Kälte zitternd und vor Grauen stumm.
Schon wälzt ihr Hirn sich schwarz von Ohr zu Ohr
In ungeheurem Wirbel schnell herum.

Dann gähnt in ihrem Rücken schwarz ein Spalt,
Und aus der weißgetünchten Mauerwand
Streckt sich ein Arm. Um ihre Kehle ballt
Sich langsam eine harte Knochenhand.

Den vitalistischen Kontrapunkt dazu liefert Bertolt Brecht mit einer kleinen lyrischen Hommage (die zugleich ein grosses Dichtwerk ist) an die Farbe Rot in Gestalt einer «jungen» Rose, die «plötzlich» auftaucht, plötzlich da ist («Ach, wie sollen wir die kleine Rose buchen?», 1954):

Ach, wie sollen wir die kleine Rose buchen?
Plötzlich dunkelrot und jung und nah?
Ach, wir kamen nicht, sie zu besuchen
Aber als wir kamen, war sie da.

Eh sie da war, ward sie nicht erwartet.
Als sie da war, ward sie kaum geglaubt.
Ach, zum Ziele kam, was nie gestartet.
Aber war es so nicht überhaupt?

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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