– Meerisch-delphinhaft und klagend-beherrscht – Gespräch zweier russischer Musen (Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa). –
Zwei Städte, zwei Temperamente, zwei Schicksale, zwei Todesarten. Zwetajewa verkörpert die russische Poesie des 20. Jahrhunderts im Exil (in Berlin, Prag und Paris), deren Drama der Einsamkeit und der Verkennung. Achmatowa – das stoische Ausharren in der Sowjetunion, wo sie zur Chronistin der persönlichen Katastrophen in Terror und Krieg wurde. Zwetajewa wählte 1941 den Selbstmord, Achmatowa überlebte die Stalin-Epoche und starb 1966 an einem Herzinfarkt.
Die russische Poesie des 20. Jahrhunderts hatte immenses Glück. Sie bekam zwei faszinierende Verkörperungen weiblicher Poesie geschenkt, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Es waren zwei völlig verschiedene Temperamente, zwei konträre poetische Kulturen. Es gibt keine schöneren Antipoden. Anna Achmatowa vertritt die klassische Ruhe, die schlichte Alltagsprosa, die beharrliche Untertreibung des Leidens. Marina Zwetajewa – den impulsiven Ausbruch, den ungehemmten Schrei, liebenden Zorn. Achmatowa bekennt sich zum Maß, Zwetajewa – zur „Maßlosigkeit in einer Welt des Maßes“, wie es in einem Gedicht von 1923 heißt.
Auch die beiden ewig rivalisierenden russischen Hauptstädte scheinen sie als weibliche Champions gewählt zu haben. Anna Achmatowa steht für das „Fenster nach Europa“, die Kultur Petersburgs, der 1703 gegründeten Hauptstadt Peters des Großen und deren Sinn für Maß, gebändigte Harmonie und Klassizität. Marina Zwetajewa aber – für die Impulsivität und Dissonanz des altneuen, „heiligen“ und „asiatischen“, 1918 wieder Hauptstadt gewordenen Moskau.
Man sollte die beiden Tragödien nicht gegeneinander ausspielen. Beide litten am Unglück ihrer Nächsten. Kaum war Zwetajewa 1939 aufgrund einer tragischen Entscheidungskonstellation in das stalinistische Sowjetrußland zurückgekehrt, wurde ihre Tochter verhaftet und für Jahre ins Lager gesteckt, wurde ihr Mann verhaftet und 1941 erschossen. Achmatowas erster Ehemann, der Dichter Nikolaj Gumiljow, wurde 1921 als „Konterrevolutionär“ in Petrograd erschossen, ihr gemeinsamer Sohn Lew mehrfach inhaftiert und jahrelang im Gulag festgehalten. Um die Mutter zu treffen, quälte man ihren Sohn. Anna Achmatowa selber wurde 1946 das Opfer einer infamen offiziellen Hetzkampagne. Sie wurde von dem Politbüro-Mitglied Schdanow als „halbe Nonne, halbe Hure“ verunglimpft und aus dem Schriftstellerverband verstoßen. Über ein Jahrzehnt lebte sie ausgegrenzt wie ein Paria. Zwetajewa erlitt ein äußeres Exil, Achmatowa ein inneres. In Wahrheit waren es beide tief-innere Exile.
Ihre Liebesgedichte, die im Zentrum dieses Hörbuchs stehen, zeigen sprechende Kontraste. Zwetajewa feiert die Liebesbeziehungen zu Männern wie zu Frauen (in dem hier mit vier Stücken vertretenen Zyklus „Die Freundin“ für Sofia Parnok), denn letztlich feiert sie nur die Liebe, die alles umfassende Macht des Eros. Anna Achmatowa zelebriert eine gleichsam heroische, exklusiv-selbstbewußte Weiblichkeit. Zwetajewa steht für absolute Hingabe und liebende Verschwendung, Achmatowa – für stolze Abgrenzung und Verweigerung. Letztere gönnt ihrem Gegenüber keinen Triumph, während Zwetajewa noch im Schmerz der Trennung ihren eigenen poetischen Triumph feiert.
Mit dem Strohhalm trinkst du meine Seele.
Ihr Geschmack ist, ich weiß, cocktail-bitter.
Nur die Folter nicht stören durch Flehen,
Meine Ruhe – seit Wochen ein Mittel.
Bist du fertig, so sags mir. Nicht traurig –
Meine Seele ist nicht mehr auf Erden…
(…)
Wer bloß bist du: mein Bruder? Geliebter?
Ich weiß nicht mehr, brauchs nicht zu wissen.
Anna Achmatowa
Als trüg ich im Schoß einen Berg –
Der ganze Körper schmerzt!
Ich erkenne die Liebe am Schmerz –
Den Körper lang bodenwärts.
Als würd in mir ein Feld aufgefahren
Offen jedem Gewitterblitz.
Ich erkenne die Liebe, wenn alles Nahe
In fernste Ferne stürzt.
(…)
Ich erkenne die Liebe am Springen
Der treusten Saiten, zerknüllt
In der Kehle – am Kehlkopf frißt
Der Rost, ein Salz, das nagt.
Ich erkenne die Liebe am Riß,
Nein! – am Triller, am Biß:
Der den Körper durchjagt!
Marina Zwetajewa
Die Gegensatzpaare ließen sich fortsetzen. Achmatowa war apollinisch inspiriert, Zwetajewa – dionysisch. Die eine – gebändigte Harmonie, die andere – entfesselte Dissonanz. Ariadna Efron, Marina Zwetajewas Tochter, schrieb in ihren Erinnerungen:
Die absolute Harmonie, die geistige Plastizität Achmatowas, die Zwetajewa anfangs so sehr bezauberten, schienen ihr in der Folgezeit als Qualitäten, die Achmatowas Schaffen und der Entwicklung ihrer dichterischen Persönlichkeit Grenzen setzten. „Sie ist – Vollkommenheit, und darin liegt, leider, ihre Beschränkung“, sagte Zwetajewa über Achmatowa.
Auch die Geschichte ihrer Beziehung wie ihrer Nicht-Beziehung ist bedeutsam. Zwetajewa lernte das Werk ihrer Zeitgenossin 1915 kennen, widmete ihr sofort ein Gedicht und im Jahr darauf, 1916, einen ganzen Zyklus von elf Huldigungsgedichten, überschwänglichen Zeugnissen der Verehrung, wie sie nur von Zwetajewa stammen konnten.
Zur Jahreswende 1915/1916 reiste Zwetajewa nach Petrograd und hoffte dort auch Achmatowa zu treffen, doch daraus wurde nichts. In ihrem Text „Ein Abend nicht von dieser Welt“ (1936), der auch jene Nicht-Begegnung schildert, ist Achmatowa die große Abwesend-Anwesende.
Ich fühle deutlich, daß ich im Namen Moskaus spreche und diesen Namen nicht beflecke, sondern auf die Höhe Achmatowas hebe. Achmatowa! – Das Wort ist gefallen. Mit meinem ganzen Wesen spüre ich das angespannte, unvermeidliche Vergleichen von Achmatowa und mir, mehr noch: der Petersburger und der Moskauer Dichtung, der Städte Petersburg und Moskau. Mögen einige Achmatowa-Anhänger mir auch aus einer Gegenposition zuhören, ich selber lese nicht gegen die Achmatowa, sondern – zu ihr hin. Lese, als wäre Achmatowa im Raum, nur sie allein. Lese für die abwesende Achmatowa (…), um dieses Moskau – Petersburg zu schenken, um dieses Moskau als Zeichen meiner Liebe Achmatowa zu schenken, damit es sich tief vor ihr verneige.
Außer dem Gedicht von 1915 und dem elfteiligen Zyklus von 1916 widmete Zwetajewa ihr Poem „Auf dem Roten Pferd“ (1921) sowie ihren Band Werstpfähle (Zweite Ausgabe, Moskau 1922) Anna Achmatowa. Diese nahm die wiederholten Huldigungen gnädig entgegen und – schwieg lange. Über den Wert des Geschenks war sie sich im klaren, und das wiederum wußte Zwetajewa. Im erwähnten autobiographischen Text von 1936 schreibt sie:
… die nach meinem Petersburger Aufenthalt entstandenen Gedichte über Moskau verdanke ich Achmatowa, meiner Liebe zu ihr, meinem Wunsch, ihr etwas Ewigeres als Liebe zu schenken… Ich weiß, daß sich Achmatowa später von meinen an sie gerichteten handschriftlichen Gedichten nicht getrennt hat und sie so lange in ihrer Handtasche trug, bis nur noch Falten und Risse übrig waren. Ich weiß es von Ossip Mandelstam, und es gehört zu den größten Freuden meines Lebens.
Die Geste der grenzenlosen Hommage hat in der Frühzeit kein Gegenstück. In einem kurzen Briefwechsel des Jahres 1921 bedankt sich Achmatowa für die „gute Beziehung“, die ihr „unendlich wertvoll“ sei. Zwetajewa bewahrte lange ihre Begeisterung für die drei Jahre ältere Petersburger Dichterin. Erst gegen Ende ihres Lebens, 1940, änderte Zwetajewa ihre Einstellung. Den Achmatowa-Band Aus sechs Büchern bezeichnete sie als „alt, schwach“:
Was hat sie bloß gemacht von 1917 bis 1940? I m I n n er n ihrer selbst… Bedauerlich.
Zu einem persönlichen Treffen kam es erst ein Vierteljahrhundert nach Zwetajewas enthusiastischem Gedichtzyklus. Erst Anfang Juni 1941 – nach Zwetajewas Prager und Pariser Exil, ihrer tragischen Rückkehr nach Sowjetrußland – trafen sich die beiden Dichterinnen zweimal. Es geschah nur wenige Wochen vor Zwetajewas Selbstmord. Für eine richtige Begegnung war es viel zu spät.
Das erste Treffen verlief ohne Zeugen. In Achmatowas Erinnerungen von 1959 findet sich nur ein kurzer Abschnitt darüber. Achmatowa las aus ihrem Poem ohne Held, worauf Zwetajewa recht boshaft und verletzend sagte:
Man muß sehr mutig sein, um im Jahr 41 von Harlekins, Kolombinen und Pierrots zu schreiben.
Zwetajewa glaubte, ihre Dichterkollegin wolle nur die Petersburger Boheme am Vorabend des Ersten Weltkriegs aufleben lassen, und verkannte die existentielle Dimension dieses Jahrhundert-Poems. Die zwischen den Strophen versteckten Fragmente aus Achmatowas gerade abgeschlossenem Requiem auf die Opfer des Stalin-Terrors konnte Zwetajewa nicht kennen, nicht erkennen. Sie aber schenkte Achmatowa ihr Poem der Luft, das beim Gegenüber auf völliges Unverständnis stieß.
Über das zweite Treffen am 8. Juni 1941 in Moskau gibt es mehrere Zeugenberichte. Laut Nikolaj Chardschijew schwieg Achmatowa ostentativ, Zwetajewa sprach fast ununterbrochen. Der Gastgeber berichtet:
Mich erstaunte ihre Stimme: eine Mischung von Stolz und Bitterkeit, Eigenwille und Unduldsamkeit… Anna Achmatowa war schweigsam. Ich dachte bei mir: wie sehr sind sie einander fremd, fremd und unvereinbar.
Als Zwetajewa gegangen war, sagte Achmatowa:
Im Vergleich zu ihr bin ich ein Kälbchen.
Vor dem Weggehen hatte Zwetajewa sich zu Achmatowa umgedreht und gesagt, Bekannte hätten ihr Achmatowa als „Dame“ geschildert. In jener Zeit von Elend, Hunger und Terror war diese Bezeichnung eine Ohrfeige. Achmatowa hatte von ihrem Schmerz geschwiegen, schweigen müssen: Ihr Sohn Lew und ihr dritter Ehemann Nikolaj Punin waren 1941 noch immer in Lagerhaft. Zwetajewas Tochter Ariadna erlitt Gleiches; der Ehemann Sergej Efron saß im Gefängnis und wurde noch im selben Jahr erschossen. Nicht einmal über das entsetzliche Schicksal ihrer Nächsten durften die beiden Frauen in Anwesenheit von Zeugen sich austauschen.
In einem mit „Späte Antwort“ betitelten Gedicht von März 1940 hatte Achmatowa auch Zwetajewas Verluste und Verheerungen festgehalten:
Unsichtbare du, Doppelgängerin, Spötterin,
Was versteckst du dich im schwärzesten Strauch,
Du verkriechst dich in Starenkästen-Löchern,
Blitzt dann plötzlich auf Totenkreuzen auf,
Wieder schreist du aus Mniszek-Kerkern:
„Daß ich heut erst nach Hause kam.
So bewundert, ihr vertrauten, ihr Äcker,
Was geschah, was man dafür mir nahm!
Meine Liebsten will ein Abgrund verschlingen
Und das Haus meiner Eltern: zerstört.“
Und das Gedicht imaginiert einen gemeinsamen Gang durch das nächtliche, von Terror, Leid und Sterben entstellte Moskau:
Du und ich gehen heute, Marina,
Durch die Hauptstadt, die Nacht um uns her,
Hinter uns gehen jetzt – Millionen,
Als ein Zug, der am schweigendsten geht,
Ein Begräbnis ringsum, all die Glocken,
Und ein Schneesturm auf Moskau, wild tobend
Der jetzt unsere Spuren zuweht.
Erst 1959 wieder notierte Achmatowa über die meerisch inspirierte, ewige Grenzüberschreiterin Zwetajewa in ihr Tagebuch:
Marina ging weg in eine jenseitige Logik… Ihr wurde eng im Rahmen der Poesie. Sie ist d o l p h i n l i k e, wie bei Shakespeare Kleopatra über Antonius sagt. Ihr genügte das eine Element nicht, sie entfernte sich in ein anderes oder in andere.
Fremdheit und Distanz zwischen beiden herrschten vor. Und doch beanspruchte Achmatowa einmal auch eine Gemeinsamkeit mit Zwetajewa. Im Gedicht „Wir sind zu viert“ von 1961 erhob sie Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam, Boris Pasternak und sich selber zum Viergestirn der russischen Poesie des 20. Jahrhunderts. In dem Gedicht erscheint Zwetajewa als Holunderzweig – eine Anspielung auf Zwetajewas lautmagisches „Holunder“-Gedicht (1931/1935). Achmatowa in „Wir sind zu viert“:
Warum zwei nur? An der Ostwand, nicht weit
Bei den Himbeergestrüppen, in ihnen
Wächst ein dunkler und frischer Holunderzweig…
Das ist – ein Brief von Marina.
Auch die vorliegende Zusammenstellung will ein Brief von Marina Zwetajewa an Anna Achmatowa sein, und ein Antwortbrief zurück an Erstere. Denn die exklusive Gegenüberstellung ist auch zum bequemen Klischee verkommen, das die Gemeinsamkeiten übersehen läßt. Beide haben sie nicht nur eigenwillige Liebesgedichte geschrieben, ihre Schlaflosigkeit, Schmerz und Trennung beschworen, sondern sich auch politisch geäußert. Vor allem Anna Achmatowa, die Autorin des Requiem, wird hier mit einer Handvoll bisher unbekannter politischer Gedichte vorgestellt: über die Schrecken der Terror-Jahre, über verfolgte Dichter wie Mandelstam, über die Inhaftierung ihres Sohnes, über die Infamie der Hetzkampagne gegen die Dichterin („Warum vergiftet ihr das Wasser“; „Ein wenig Geographie“; „Eine Prophetin – ich?“; ‑ „Alle gingen und keiner kam wieder“; „Scherben“; „Die andern fuhren weg ihre Geliebten“).
Das vorliegende Hörbuch will beides: die kontrastreiche Gegenüberstellung der beiden bedeutendsten russischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, aber auch die Hervorhebung ihrer Gemeinsamkeiten – trotz allem. Dem Vorurteil der Unvereinbarkeit zum Trotz.
PS. Das Paradox der Stimmen ist ein Geheimnis dieser Aufnahmen. Daß ein Mann – im Wechsel mit einer weiblichen Stimme – die Gedichte Zwetajewas liest, ist ein Experiment, das ihr gefallen hätte. Sie arbeitete in ihrem Werk gerade daran, das öde Zweiparteiensystem der Geschlechter zu dynamitieren, zu dynamisieren. Boris Pasternak schrieb von ihr, Zwetajewa sei eine Frau „mit einer regen männlichen Seele“. Nicht als „Dichterin“ wollte sie bezeichnet werden, sondern als „Dichter“. Wer ihre russischen Verse als Mann ins Deutsche überträgt, dem kann sie zuweilen das bizarre Gefühl vermitteln, für Augenblicke eine Frau zu sein. So soll es auch dem Zuhörer ergehen. Damit auch diese Grenzen schwanken in einer „neuen Ironie“ der Geschlechterrollen. Am Schluß ihres lesbisch inspirierten Zyklus „Die Freundin“ für Sofia Parnok schreibt Marina Zwetajewa:
Für dieses Zitternde – muß ich jetzt träumen?
Ist alles leer? –
Für diese Ironie, den Reiz, den neuen:
Sie sind – kein Er.
Ralph Dutli, Vorwort
29 Gedichte von Marina Zwetajewa stehen hier über 30 Gedichten von Anna Achmatowa gegenüber – mehr noch: Die Zusammenstellung dieses Hörbuchs erwirkt eigentlich das, was den beiden bedeutendsten russischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts im realen Leben versagt blieb, nämlich ein Dialog zwischen den beiden so konträren Charaktären.
Beide waren Grenzgängerinnen ihrer Zeit, die etwas Gegensätzliches verkörperten: Marina Zwetajewa den „liebenden Zorn“, die „absolute Hingabe und liebende Verschwendung“, Anna Achmatowa hingegen die „klassische Ruhe“, die „stolze Abgrenzung und Verweigerung“.
Die (gut getroffene) Auswahl und Zusammenstellung der Gedichte, ihre Übersetzung ins Deutsche und das informative Beiheft zur CD (mit kurzen Erläuterungen zu den einzelnen Gedichten) stammt von Ralph Dutli, der im Wechsel mit Katharina Thalbach auch selbst liest.
Beabsichtigt ist nicht nur eine Gegenüberstellung der eigenwilligen Liebesgedichte der beiden Dichterinnen, sondern auch die Hervorhebung einiger Gemeinsamkeiten. Beide Lyrikerinnen äußerten sich politisch. Vor allem Anna Achmatowa wird dem Hörer mit einigen bisher unbekannten politischen Gedichten (über verfolgte russische Dichterkollegen, die Hetzkampagne gegen Achmatowa selbst und die Inhaftierung ihres Sohnes) vorgestellt.
Ein kleines Manko am Rande: Leider trägt Ralph Dutli von den über 60 Gedichten nur drei oder vier in russischer Sprache vor – diese rezitiert er allerdings sehr schön.
Gisela Reller: Zwei Ikonen der russischen Lyrik
reller-rezensionen.de, 26.11.2019
O Muse der Klage,
Du schönste der Musen!
…
Anna Achmatowa. Der Name,
Ein einziger Seufzer.
Marina Zwetajewa
I
Lew Kopelew: In der Schule hielt man mich für einen „Literaturkenner“. Ich kannte viele russische, ukrainische und deutsche Verse auswendig. Wenn Wladimir Majakowskij, Ilja Selwinskij oder Nikolaj Assejew nach Charkow kamen, war ich bemüht, keinen ihrer Vortragsabende zu versäumen. Ich begeisterte mich für die ukrainischen Lyriker Pawlo Tytschina, Wladimir Sosjura und hatte eine große Vorliebe für Sergej Jessenin. Aber von Anna Achmatowa wußte ich so gut wie nichts.
Ich kannte von ihr die Zeilen: „Gestern starb der grauäugige König…“, „Auf die rechte Hand zog ich den linken Handschuh…“ Dabei stellte ich mir eine elegante Dame vor: mit großem Hut und Pelzboa. Eine sehr schöne Frau, doch von einer fremden, vielleicht sogar gefährlichen Schönheit.
1928 im Theater in Charkow: Majakowskij geht mit festen Schritten weitausholend über die Bühne und bleibt breitbeinig stehen. Er trägt ein Hemd ohne Krawatte. Die Jacke hat er lässig über einen Stuhl geworfen:
Ich arbeite hier.
Er las seine Gedichte mit kräftiger, tiefer Stimme, artikulierte hart. Es befremdete mich, daß er Maxim Gorkij herablassend ironisierte, mit Alexander Puschkin respektlos umging. Aber seine Verse über die Brooklyn-Bridge oder die Einnahme von Shanghai jagten mir Schauer der Begeisterung über den Rücken. Majakowskij war mein Dichter, er war einer von uns. Wir applaudierten stürmisch.
Später antwortete er auf Fragen aus dem Publikum – lässig, hin und wieder verächtlich oder zornig. Dann zog er seine Mundwinkel über dem mächtigen Kinn herunter. Er las eine Frage vor, die Worte spöttisch dehnend:
Wie stehen Sie zur Dichtung der Achmatowa und der Zwetajewa? Welche von beiden gefällt Ihnen besser?
Er faltete den Zettel zusammen und sagte betont schnell und vernehmlich:
Achmatowa-Zwetajewa? Die eine wie die andere… sind Beerchen vom gleichen Feld.1
Wir auf der Galerie lachten. Auch im Parterre wurde gelacht. Aber jemand rief:
Das ist geschmacklos. Schämen Sie sich!
Roman Samarin war ein Jahr älter als ich, mir aber in seiner Bildung um viele Jahre voraus. Als Sohn eines Literaturprofessors wuchs er im segensreichen Schatten der väterlichen Bücherschränke auf.
Durch Roman entdeckte ich Nikolaj Gumiljow. Seine Verse von den Kapitänen, dem Fluß Niger, den tapferen Männern und den geheimnisvoll fernen Ländern zogen mich für immer in seinen Bann.
Achmatowa war für uns damals einfach nur die Frau Gumiljows, die außerdem noch Gedichte schrieb.
Der heidnische Tempel meiner Knaben- und Jünglingsideale war eine barbarisch überladene Kultstätte. Peter der Große und Suworow hatten ihren Platz neben Robespierre und Marat; Puschkin, Goethe, Schiller, Schewtschenko und Dickens fanden sich nicht weit von Sheljabow und Lenin. Ein Seitenaltar fand sich dort auch für Gumiljow. Er verdrängte Blok und stürzte Brjussow. Für Achmatowa aber war dort kein Platz.
Ihre Verse blieben im Gedächtnis haften, wurden je nach Stimmung wieder hervorgeholt. Doch glaubte ich damals: Auch wenn die Farben und Klänge noch so schön sein mochten, wichtiger waren die Ideen, der Inhalt eines Werks. Zwar waren Alexej K. Tolstoj, Kipling und Gumiljow „jenseits der Barrikade“, aber sie waren eben doch „Kerle“.
An jenem Abend beantwortete Majakowskij auch eine Frage nach Gumiljow:
Na ja, Gedichte konnte er wohl schreiben, doch was für welche: „Dem Negus schenkte ich eine belgische Pistole und ein Bildnis meines Zaren.“ Es heißt, er sei ein „guter Dichter“. Das ist zuwenig und falsch. Er war ein guter konterrevolutionärer Dichter.“
Über Kipling schrieb man bei uns: „Ein Barde des britischen Imperialismus…“, „ein Sänger der Kolonisatoren…“
Aber die mutigen, militanten Verse Gumiljows und Kiplings brauchte ich fast genauso wie die „reaktionären“ Balladen von Alexej K. Tolstoj.
In den zwanziger Jahren waren wir, die Jugendlichen – die Halbwüchsigen –, noch nicht zu bornierten, engstirnigen Fanatikern geworden. Bunins Erzählung „Der Herr aus San Franziska“ behandelten wir im Unterricht. Wir lasen sowjetische Ausgaben von Schulgin und Awertschenko und auch die Memoiren der weißen Generäle Denikin und Krasnow.
Damals war man noch bereit zuzugestehen, daß auch Klassenfeinde und unversöhnliche weltanschauliche Gegner selbstlos, edelmütig und tapfer sein konnten. Ein derartiger „liberaler Objektivismus“ war noch keine Todsünde, noch keine Straftat.
Aber in den darauffolgenden Jahren wurde unsere geistige Welt zusehends ärmer. Es kam der „große Umbruch“ – die Kollektivierung, die Fünfjahrespläne, die „Entlarvung von Schädlingen“.
Die neuen Gewalten verdrängten auch die nicht gefügigen Musen und die wenig anpassungsbereiten „Mitläufer“. Unsere Dichtertempel verödeten und wurden geschlossen – wie die Kirchen, von denen man die Kreuze herunterriß, die Glocken entfernte und die nun zu Lagerräumen und Klubs umfunktioniert wurden…
In diesen Jahren begegnete mir Achmatowas Name, soweit ich mich erinnere, nur ein einziges Mal.
1934 feierte die Charkower Zeitung Der Proletarier ihr zehnjähriges Bestehen. Zu dem Bankett, das für jene Zeit ungewöhnlich reichhaltig war (Soja-Kuchen und Eis), waren nicht nur bekannte Schriftsteller eingeladen, sondern auch Arbeiterkorrespondenten. Neben dem Chefredakteur saß der Ehrengast, der stellvertretende Staatsanwalt der Republik Achmatow, ein jugendlich wirkender Vertreter der Parteiintelligenz mit „Kreml-Bärtchen“, der eine müde Herablassung zur Schau trug. Am unteren Ende des Tisches tafelte zusammen mit uns, den Arbeiterkorrespondenten, der Dichter Maxim Rylskij. Als der gastgebende Chefredakteur ihm das Wort erteilte, sagte er:
Noch vor kurzem sahen wir in Rylskij das ,Banner des ukrainischen Nationalismus‘, aber heute freuen wir uns, ihn in unserem Kreis als Kollegen und Genossen im Kampf um den sozialistischen Aufbau und den Sieg des Fünfjahresplanes begrüßen zu können.
Rylskij deklamierte sehr wirkungsvoll ein Couplet zu Ehren des Zeitungsjubiläums. Aber danach trug er aus dem Stegreif ein Gedicht vor, das in der angeheiterten Runde große Zustimmung fand:
Mag Anna Achmatowa
Im Nebel irrend weinen,
Uns führen die Achmatows
Sicher über die Hindernisse.
Der Staatsanwalt Achmatow verschwand im Jahre 1937. Anna Achmatowa aber blieb für mich noch lange eine „weinend im Nebel Umherirrende“.
… März 1942. In der Prawda finde ich ihre Verse:
Die Stunde des Mutes hat uns geschlagen,
Und der Mut verläßt uns nicht.
Das schlichte klare Gedicht klang vernehmlicher als all die kriegerischen, trommelnden, trompetenden, donnernden Verse. Der Zeitungsausschnitt lag in meiner Feldtasche lange neben Konstantin Simonows Wart auf mich und Alexej Surkows Im Erdbunker. Später als die anderen wurde es von Twardowskijs Tjorkin verdrängt.
Damals schien mir Achmatowas Gedicht vor allem als eine Äußerung der großen einigenden Kraft unseres Krieges. Auch sie, die feine, schöne Dame, war mit uns, so wie die alten Georgsordenkavaliere, wie der Patriarch Sergius, wie die Emigranten – Denikin und Kerenskij, die aufgerufen hatten, der Roten Armee zu helfen.
Shdanows Schmährede gegen Achmatowa und Soschtschenko und den ZK-Erlaß von 19462 las ich im Lager. Unangenehm berührten mich die rüden Schimpfworte, der grobe Ton. Ich konnte nicht begreifen, warum nach all den Siegen gerade Achmatowa, Soschtschenko und noch einige weitere Literaten gefährlich sein sollten, eine Einmischung des ZK und eine so vernichtende Kritik erforderlich machten?… Aber damals quälten mich andere Sorgen und Nöte, sowohl persönliche: Ich war das zweite Jahr in Haft, und mein Fall wurde vor einem Sondergericht verhandelt; wie allgemeine: die trostlose Zerrüttung, das Elend im Lande und der Beginn des Kalten Krieges.
Es vergingen noch zehn Jahre, bevor ich die Dichtung der Achmatowa langsam und mit Unterbrechungen und Verzögerungen zu entdecken begann.
II
Raissa Orlowa: Zum ersten Mal hörte ich Achmatowas Namen und ihre Gedichte 1935 im ersten Studienjahr von einer meiner Freundinnen. Seit dieser Zeit sind mir einzelne Zeilen im Gedächtnis geblieben. Diese Zeilen lebten – wie die Volksdichtung – nur durch mündliche Weitergabe. Achmatowas Bücher sah ich erst zwanzig Jahre später zum ersten Mal.
Viele Zeitgenossinnen von Anna Achmatowa verstanden ihre Verse als Bekenntnisse einer verliebten, eifersüchtigen, verlassenen und verlassenden, gekränkten, traurigen Frau. Einer stets unglücklichen Frau. Damals liebten viele „à la Achmatowa“. Sie erlebten oder erfanden ihre Liebe, ihre Leidenschaften und Leiden nach ihren Versen. Für mich galt das nicht.
Achmatowa war Gumiljows Frau, eine Schönheit mit Pony-Frisur und Stola. Aber lange Zeit wußte ich nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte.
Den Erlaß des ZK von 1946 las ich auf Reisen. Ich arbeitete damals bei der „Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland“ (WOKS), und man hatte mich mit einer Delegation koreanischer Schriftsteller in den Kaukasus geschickt. Der Dolmetscher der Gruppe sprach schlecht Russisch und ein bißchen besser Englisch. Wir übersetzten deshalb zu zweit: Gespräche über Alltagsthemen, Fragen über Fabriken in Tbilissi und Jerewan und ein paar touristische Brocken aus der alten Geschichte. Aber an dem Tag, als der Erlaß veröffentlicht wurde, fragte mich der Leiter der Delegation nach Achmatowa. Ich konnte keine Auskunft geben. Mich hatte dieser Erlaß weder empört noch erschreckt, er hatte mich überhaupt nicht berührt. In meiner damaligen Welt hatte Achmatowa keinen Platz. Soschtschenko kannte ich um einiges besser. Ich hatte Erzählungen von ihm gelesen und mochte ihn nicht besonders. Auch später änderte sich das nicht. Unangenehm hatte mich in dem Text des ZK das Wort „Abschaum“ berührt. Beschimpfungen sind immer schlimm. Aber wenn sie die Parteiführung verwendet…
Achmatowa begann für mich Mitte der fünfziger Jahre eine Rolle zu spielen. Damals fühlte ich mich zum ersten Mal von Marina Zwetajewa stark angezogen. Die beiden Namen – Achmatowa und Zwetajewa – wurden häufig zusammen genannt. Zunächst war mir Zwetajewa wichtiger. Aber dann bekamen die Verse und das Schicksal Achmatowas langsam, aber stetig immer mehr Bedeutung und erfüllten einen immer größeren Teil meiner Seele.
Kopelew: Zum ersten Mal traf ich Anna Andrejewna Achmatowa im Mai 1962. Nadeshda Jakowlewna Mandelstam, Witwe des Dichters Ossip Mandelstam, brachte mich zu ihr.
Ein schmutziges Treppenhaus. Ein winziges Zimmer in der Wohnung ihrer Freunde. Achmatowa in einem lilafarbenen Morgenrock. Majestätisch. Groß, von einer aufgedunsenen, ungesunden Fülle. Ihre blaß-gebräunten, welken Wangen von kleinen Runzeln durchzogen, der Hals faltig. Ihre Stimme leicht rollend, tief, zuweilen lispelte sie. Der feingeschwungene schmallippige Mund fast zahnlos. Doch sie war schön, wirklich schön. Sie bewegte sich langsam, blickte ruhig und sprach langsam. Aber es wäre absurd, sie eine alte Frau zu nennen. Bei ihr zu Gast war die Schauspielerin Faina Ranewskaja, sie witzelte, erzählte irgend etwas Lustiges, redete Anna Andrejewna mit „Rabbi“ an – und wirkte neben ihr wie eine laute, schwerfällige Greisin.
Anna Andrejewna und die Ranewskaja saßen auf dem Sofa, Nadeshda Jakowlewna und ich ihnen dicht gegenüber auf Stühlen. Kein anderer hätte mehr Platz gehabt. Ich war vor Verlegenheit wie gelähmt. Was sollte ich sagen? Wohin mit meinen Armen und Beinen? Ich wollte mir alles genau merken. Zwang mich aber, den Blick von ihr abzuwenden, sie nicht anzustarren. Grinste wohl dumm dabei. Murmelte irgendeinen Unsinn. Die Ranewskaja ging bald. Und Achmatowa fragte plötzlich, gelassen, wie nebenbei:
Möchten Sie, daß ich Ihnen Gedichte vortrage? Aber bitte, schreiben Sie nichts mit.
Sie rezitierte aus dem Requiem. Ich sah sie an, unverwandt, alle Befangenheit war verschwunden. Die Überraschung und Begeisterung waren mir wohl deutlich anzusehen. Sie merkte es natürlich, war es gewöhnt. Aber jeder neue Zuhörer war ihr wichtig. Sie sprach mit einer gleichmäßigen, seltsam, ja tragisch ruhigen Stimme.
Bald ging auch Nadeshda Jakowlewna. Aber Anna Andrejewna trug immer neue Gedichte vor.
Und wenn man einst in diesem Land
Ein Denkmal mir errichten will…
Meine Augen waren feucht. Sie hat sicher auch das gemerkt. Mit gepreßter Stimme bat ich:
Sprechen Sie das bitte noch einmal.
In jenen Minuten dachte ich nur: Behalten, so viel wie möglich im Gedächtnis behalten.
Sie sprach den Epilog noch einmal. Die Musik der Verse entstand in ihrer Brust, in der Tiefe der Kehle. Ich hörte kein Lispeln mehr, sah weder ihre Falten noch ihre krankhafte Fülle. Ich sah und hörte eine Kaiserin der Poesie – eine rechtmäßige Monarchin –, sie war eben deshalb so ungekünstelt einfach, weil sie keine Selbstbestätigung brauchte. Ihre Herrschaft war unbestreitbar.
Es wäre natürlich gewesen, vor ihr zu knien. Aber mir reichte der Mut nur zu einigen hilflosen Worten, als sie fragte:
Gefällt es Ihnen?
Wenn Sie nichts als diese Verse geschrieben hätten, wären Sie dennoch die größte Dichterin unserer Zeit.
Sie lächelte nicht einmal. Und ich begriff, daß für sie, die Dichterin und Frau, kein Lob und keine Verehrung zuviel sein konnten. Jahrzehntelang hatte man ihr die Anerkennung grausam versagt, hatte sie geschmäht und verfolgt.
Ich versuchte möglichst viel zu behalten, und kaum war ich im Treppenhaus, wiederholte ich wieder und wieder:
Für sie webte ich ein weites Tuch
Aus dürftigen Wörtern, ihnen abgelauscht.
Dort habe ich, ungeachtet des Verbots, alles aufgeschrieben, was ich behalten hatte. Die Fragmente aus dem Requiem habe ich noch am selben Tag Raissa vorgetragen. Und sie prägte sie sich auch ein.
III
Orlowa: Ich saß mit Lidija Tschukowskaja in dem kleinen Garten an unserem Haus in der Gorkij-Straße. Ich begann, aus dem Requiem zu rezitieren. Lidija Kornejewna sah sich nach allen Seiten um und unterbrach mich streng:
Wir – etwa zehn Leute – schweigen darüber schon zwanzig Jahre lang.
Ich meinte, in ihrer Stimme einen Anflug von Zorn zu hören: Ein Fremdling war in geheiligte Stätten eingedrungen. Aber nach wenigen Minuten hatte sie sich beruhigt und trug mir den ganzen Epilog halblaut vor.
Später hörte ich einige Male Achmatowa selbst. Jedoch höre ich bis heute das Requiem mit der Stimme Lidija Kornejewnas.
Sie war es auch, die mich am 20. Mai 1962 zu Achmatowa brachte – sozusagen dienstlich.
In der Zeitschrift Oktjabr wurde die Literaturwissenschaftlerin Emma Gerstein in einem Artikel dumm und grob angegriffen. Anna Andrejewna war mit Emma Gerstein seit langem befreundet und schätzte ihre Arbeiten über Puschkin und Lermontow sehr hoch. Achmatowa hatte mich daraufhin eingeladen, weil ich zu der Zeit Sekretär der Kritikersektion des Schriftstellerverbands war. Sie wollte, daß der Verband sich für die unverdient angegriffene Autorin einsetzte.
Diese himmelschreiende Ignoranz beim Oktjabr! Dieser Schmierfink! Dagegen müssen wir angehen.
Ich hörte aufmerksam zu, was Achmatowa sagte, machte mir Notizen und versprach, alles zu tun, was in meinen Kräften stand. Den Blick zu heben, wagte ich nicht.
Lidija Kornejewna erzählte dann, daß mein Mann vor kurzem bei Achmatowa gewesen sei, sich in sie verliebt habe und ich nun gekommen sei, meine Rivalin in Augenschein zu nehmen. Darauf sie, würdevoll, ohne den Schatten eines Lächelns:
Das verstehe ich, wir Frauen handeln immer so.
Unvermittelt fragte sie:
Haben Sie im Nowyj mir (Neue Welt) diese Stelle aus Bondarews Roman, die Beschreibung eines Vorzimmers im Ministerium für Staatssicherheit, gelesen? Zehn Jahre lang bin ich dorthin gegangen.3 Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, forderte schon ein Beamter: „Ihren Paß!“ Das tun sie, um einen einzuschüchtern, damit man möglichst selten hingeht. Als Sowjetbürger weiß man ja; daß man sich nie von seinem Paß trennen darf… In Leningrad war ich 1937 manchmal die dreihundertste in der Schlange; als man 1949 meinen Sohn wieder verhaftete, war ich im Gefängnis oft die einzige. Das war furchtbar. Vielleicht furchtbarer als in jenen Warteschlangen.
Dann zeigte sie uns die getippten Seiten ihres Poem ohne Held, die für die Zeitschriftenveröffentlichung bestimmt waren. Lidija Kornejewna fand einen Tippfehler. Beide entrüsteten sich lautstark. Wohl kein Schriftsteller einer anderen Generation hätte sich so darüber erregen können. Aber für sie beide war schon ein falscher Buchstabe ein Sakrileg.
Anna Andrejewna sagte uns, sie brauche dringend einen Menschen, der das Poem nicht kenne und es daher unvoreingenommen lesen würde; aber weder in Leningrad noch in Moskau habe sie einen solchen finden können.
Gedichte trug sie uns an diesem Tag nicht vor. Sie erzählte:
Man hat mich aus den Programmen gestrichen.
Ich verstand zunächst nicht, was sie meinte.
Man hatte mich, die große Sünderin, doch sechzehn Jahre lang in allen Schulen und Hochschulen von Libawa bis Wladiwostok geschmäht. Aber sehen Sie, neulich kam der Sohn meiner Freundin zu mir – er war angeheitert –, küßte mir die Hand und sagte: „Was für ein Glück, daß man Sie in den Schulen nun nicht mehr demontiert.“
Wir besuchten sie in Moskau und in Leningrad. Sie schenkte uns ihre Bücher und auch als Manuskript das Poem ohne Held. Ab und zu rief sie an.
Einmal hörte ich Achmatowa darüber sprechen, worin sich Dichtung von Malerei und Musik unterscheide: Wenigen sei es gegeben, Musik zu komponieren oder zu reproduzieren; wenige seien imstande, mit Farbe und Pinsel etwas zu schaffen. Und auch zum Alltagsleben gehörten diese beiden Künste keineswegs. Dichtung aber entstehe aus Worten, die die Menschen täglich benutzten, die allen zugänglich seien, wie der Satz:
Kommt, laßt uns Tee trinken.
Unsere Gespräche waren meistens allgemeiner Art: Was ist Neues im Druck erschienen? Was wurde inzwischen verboten? Wem soll man helfen? Wie hat sich der und der in einer Auseinandersetzung verhalten? Wie werden dieser Roman oder jenes Gedicht beurteilt?
Doch mit jeder Begegnung, mit jedem Gespräch empfand ich immer stärker, daß das Allerwichtigste in ihren Äußerungen, in ihrer Persönlichkeit eine tiefere Dimension enthält, die mir nicht zugänglich ist.
IV
Kopelew: Im Sommer 1962 kam Alexander Issajewitsch Solschenizyn zu uns ins Dorf Shukowka, wo wir eine Datscha gemietet hatten. Wie immer teilte er uns genau mit, wie viele Stunden er bleiben könne, und fragte nach Anna Achmatowa. Wir zeigten ihm das Manuskript ihres Poems ohne Held, und er machte sich sofort ans Lesen.
Wir gingen an den Fluß, um zu baden, er aber schrieb das ganze Poem in seiner winzig kleinen Handschrift ab.
Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch wurde damals zur Veröffentlichung vorbereitet. Anna Achmatowa hatte das Manuskript gelesen. Sie sagte allen Bekannten immer wieder:
Das müssen zweihundert Millionen Menschen lesen.
Er besuchte sie im Herbst desselben Jahres. Anna Andrejewna berichtete:
Herein kam ein Wikinger. Und, was ich nicht erwartet hatte, jung und schön. Wunderbare Augen. Ich sagte ihm: „Ich hoffe, daß zweihundert Millionen Menschen Ihre Erzählung lesen werden.“ Er schien damit einverstanden zu sein. Ich habe noch hinzugefügt: „Sie haben schwere Prüfungen überstanden. Aber morgen wird der Ruhm auf Sie einstürzen. Das ist auch schwer zu ertragen. Sind Sie dazu bereit?“ Er beteuerte, er sei es. Gebe Gott, daß es wirklich so ist…
Bald nach seiner Begegnung mit Achmatowa kam Alexander Issajewitsch zu uns und fragte mich:
Wen hältst du für den größten der zeitgenössischen russischen Dichter?
Ich entgegnete, daß ich einen einzigen nicht zu nennen vermöchte. Besonders wert und wichtig seien mir Achmatowa, Zwetajewa, Pasternak und aus der jüngeren Generation Alexander Twardowskij, Arsenij Tarkowskij, David Samojlow… Er sagte darauf:
Für mich gibt es nur Achmatowa. Sie ist die einzige wirklich Große. Bei Pasternak gibt es gute Gedichte unter den letzten, den religiösen… Aber sonst ist bei ihm vieles konstruiert. Was hältst du von Mandelstam? Er wird von manchen sehr gelobt. Vielleicht, weil er im Lager umgekommen ist?
„Nein, nicht deswegen, er ist ein großer Dichter.“
„Für meine Empfindung ist Mandelstams Lyrik nicht russisch. Sie klingt für mich wie übersetzt, ausländisch…“
„Achmatowa hält ihn für den größten Poeten seiner Generation.“
„Weiß nicht, weiß nicht… Für mich ist sie die Allergrößte…“
Solschenizyn gab Achmatowa seine Gedichte, darunter die autobiographische Verserzählung über eine Bootsfahrt auf der Wolga gemeinsam mit einem Freund. Sie begegnen einem Lastkahn voller Häftlinge. Nachts werden sie im Zelt von einem Wachtrupp geweckt, der nach Flüchtlingen sucht. Viele Gedichte über Liebe, Trennung und Sehnsucht nach Freiheit. Als ich sie von ihm vor Jahren, als wir beide im Gefängnis saßen, gehört hatte, gefielen mir einige gut.
Achmatowa meinte:
Vielleicht bin ich subjektiv. Aber für mich ist das keine Poesie. Ich wollte ihn nicht kränken, sagte deshalb nur: „Ich glaube, Ihre Stärke liegt in der Epik. Sie schreiben eine wunderbare Prosa. Bleiben Sie dabei.“ Er hat natürlich verstanden und war wohl gekränkt.
Solschenizyn erzählte uns später, daß sie ihm bei dieser Begegnung das Requiem vorgetragen habe.
Ich habe bis zum Schluß sehr aufmerksam zugehört. Einige Verse bat ich sie zu wiederholen. Keine Frage, es sind gute Verse. Schön und wohlklingend. Aber gelitten hat doch das ganze Volk, viele Millionen Menschen. Jedoch im Requiem geht es nur um ein Einzelschicksal, um eine Mutter und ihren Sohn… Ich habe ihr gesagt, daß es die Pflicht eines russischen Dichters sei, sein Schaffen den Leiden Rußlands zu widmen, sich über sein persönliches Leid zu erheben und von dem Leid des Volkes zu dichten… Sie wurde nachdenklich. Vielleicht haben ihr auch meine Worte nicht gefallen. Sie ist ja an Schmeichelei und Begeisterung gewöhnt. Aber sie ist eine große Dichterin. Und dieses Thema ist das allergrößte. Das verpflichtet.
Ich versuchte ihm zu widersprechen, ärgerte mich, sagte, daß seine Ansichten aufs Haar der sowjetischen ideologischen Kritik glichen, und daß er von Lyrik überhaupt nichts verstünde. Er wurde auch böse. Schon früher mochte er es nicht, wenn man ihm widersprach. Und jetzt wollte er überhaupt keinen anhören, der ihm nicht zustimmte. Wir kamen nie wieder auf dieses Thema zurück. Auch mit Anna Andrejewna sprachen wir nicht mehr über ihn.
Nadja M., ein junges Mädchen, schrieb ernste, schwermütige Gedichte, wie sie sonst nur ein reifer Dichter schreiben kann. Der Lyriker Grigorij Poshenjan brachte sie zu uns. Er lobte sie lautstark, war überglücklich, eine „sechzehnjährige Achmatowa“ entdeckt zu haben. Sie war ein dicker Backfisch mit Brille, spielte selbstvergessen mit ihrer zwölfjährigen Schwester und mit allen Hunden in Peredelkino.
Ihre Gedichte gefielen auch uns. Ich erzählte Anna Andrejewna von ihr, bat, sie ihr vorstellen zu dürfen. „Bringen Sie sie morgen abend mit.“ Im Wohnzimmer saßen mehrere Gäste von Achmatowa und ihren Freunden, bei denen sie wohnte. Sie unterhielten sich lebhaft, scherzten, lachten. Nadja hockte still in der Ecke und blickte nur auf Anna Andrejewna, die wenig sprach und immer wieder für einige Minuten völlig verstummte und niemanden um sich herum wahrzunehmen schien. Nach einer solchen Pause fragte sie Nadja plötzlich: „Vielleicht können Sie jetzt Ihre Gedichte vorlesen? Möchten Sie sie hier vortragen oder nur mir allein?“ – „Nur Ihnen.“
Anna Andrejewna ging mit ihr in das kleine Zimmer, in dem ich sie das erste Mal gesehen hatte. Von dort drang gedämpft die hastige, monotone Stimme Nadjas herüber. Sie las lange.
Dann war Achmatowas Stimme zu hören. Sie sprach Gedichte. Nur für eine Zuhörerin. Lange. So lange, daß ich ging, ohne das Ende abzuwarten, es war schon sehr spät.
Anna Andrejewna erzählte später:
Ein sehr begabtes Mädchen. Vieles hat sie aus der Literatur. Bücherweisheit, nicht ihre Worte. Aber es gibt auch Eigenes, Lebendiges. Sie wird vielleicht eine Lyrikerin. Vielleicht aber auch nicht. Das wäre ein Unglück.
Nadja berichtete:
Ich habe ihr meine Gedichte vorgelesen. Fast das ganze Heft. Nach jedem fragte ich: „Darf ich noch mehr?“ und sie nickte. Gesagt hat sie wenig. Sie fragte, welche Dichter ich mag. Was ich von Blok, Pasternak, Mandelstam kenne. Sagte, ich sollte möglichst viel gute Gedichte lesen. Nein, gelobt hat sie mich nicht. Auch nicht getadelt. Aber sie hat so über meine Gedichte gesprochen, daß ich jetzt nur noch schreiben möchte. Und dann hat sie gefragt: „Soll ich Ihnen Gedichte vortragen?“ Ich hatte Angst, sie würde müde. Sie hat bis nach Mitternacht vorgetragen. Und das nur für mich. Sie hat gesagt, ich solle wiederkommen. Na ja, wohl aus Höflichkeit.
Nadja ging kein zweites Mal zu ihr. Sie sagte, sie geniere sich, traue sich nicht. Viele Jahre später aber gestand sie ein, sie sei nicht mehr hingegangen, weil sie fürchtete, unter Achmatowas Einfluß zu geraten, ihre Novizin zu werden und damit ihre eigene Stimme zu verlieren.
V
Orlowa: Lew schenkte Achmatowa sein Buch über Faust mit der Widmung:
Für Anna von ganz Rußland von einem der Millionen ihrer treuen, verehrenden und liebenden Untertanen.
Im Mai 1963 waren wir in Leningrad und gingen auf gut Glück zu Achmatowa. Sie kam uns entgegen in einem weiten, gold auf schwarz bestickten Kimono und klatschte in die Hände:
Habe ich doch schon heute morgen gespürt, daß der Tag mir etwas Fröhliches beschert.
Das Gespräch war von Anfang an ungezwungen. Sie fragte uns nach Neuigkeiten aus Moskau. Wollte alles wissen, Angenehmes und Unangenehmes: wie sich Ehrenburg und Wosnessenskij beim Treffen mit Chruschtschow verhalten haben, warum sich die Obrigkeit auf Jewtuschenko stürze, was die Arbeiten des Bildhauers Ernst Neiswestnyj darstellten, wer eigentlich Kopelew des „abstrakten Humanismus“ beschuldigt habe.
Dann erzählte sie:
Alle wissen, was 1946 passierte. Aber das war bereits das zweite Mal. Schon 1925 gab es meinetwegen einen Erlaß. Danach wurde lange nichts von mir gedruckt. Die Emigranten schreiben, ich hätte ,geschwiegen‘. Was kann man schon sagen, wenn einem die Kehle zugedrückt wird. Den Erlaß von 1946 sah ich in einer Zeitung an der Wand. Ich gehe aus dem Haus, die Straße entlang, sehe eine Zeitung und darin irgend etwas über mich. Natürlich beschimpfen sie dich, denke ich. Aber ich schaffe es nicht, alles zu lesen. Man wollte mir das dann später nicht glauben: „Haben Sie das wirklich nicht gelesen?“ An diesem Tag fiel mir auf, daß meine Bekannten mich ansahen, als sei ich schwer krank. Die einen redeten sehr zurückhaltend mit mir, andere mieden mich offensichtlich. Ich habe nicht sofort begriffen, was geschehen war. Aber am nächsten Tag kam Nina Antonowna4 aus Moskau herbeigeeilt.
Sie zeigte uns den kürzlich erhaltenen ersten Band der Werke Nikolaj Gumiljows, der in den USA erschienen war.
Hier, lesen Sie das Vorwort von Gleb Struve.
Er kommentiert Gumiljows Verse, die nach dessen Bruch mit seiner jungen Frau entstanden waren:
Die Zeit ist noch nicht gekommen, um über dieses persönliche Drama Gumiljows anders zu urteilen als nach seinen eigenen Worten. Wir kennen nicht alle seine Peripethien, und Anna Achmatowa lebt noch und hat bisher öffentlich noch nichts dazu gesagt.
Wütend sagt sie:
Merken Sie, wie dieser Herr bedauert, daß ich noch nicht gestorben bin?
Wir versuchten, ihr entgegenzuhalten, er habe sich nur ungeschickt ausgedrückt.
Nein, das ist genauso gemeint. Ihn stört das einfach. „Achmatowa lebt noch!“ Deshalb kann er nicht alles sagen. Soll ich ihm schreiben: „Entschuldigen Sie, daß ich so lange zum Sterben brauche?“ Und wie häßlich er über Lew schreibt: „Später wurde ihr Sohn unter bis heute nicht geklärten Umständen verhaftet und verbannt.“ Ungeklärte Umstände! Was vermuten sie denn dort? Daß er eine Bank ausgeraubt hat? Bei wem von den Millionen Verhafteten waren denn die Umstände damals klar? Die da drüben begreifen nichts. Und wollen auch nichts begreifen. Ich glaube, sie würden es lieber sehen, wenn wir alle umkämen, wenn man uns alle in Haft nähme. Zweimal genügt ihnen nicht. Sehen Sie hier: „Aber 1961 drangen Gerüchte in den Westen (vielleicht falsche) über eine erneute Verhaftung von L. Gumiljow.“… Struve ist nicht der einzige; sie schreiben dort alle Gott weiß was für einen Unsinn, Makowskij, Odojewzewa, die beiden „kleinen Georgijs…“
Sie bemerkte unseren verständnislosen Blick.
Es gab da zwei junge Burschen, die Nikolaj Stepanowitsch (Gumiljow) überall nachliefen: Georgij Iwanow und Georgij Adamowitsch; jetzt schreiben sie allerlei Unsinn, und die Odojewzewa behauptet, Gumiljow sei mir untreu gewesen. Doch ich bin schon früher untreu geworden!
Die Rivalitäten, Gegnerschaften, Streitigkeiten, die sie und ihre Freunde ein halbes Jahrhundert zuvor erlebten, sind für sie lebendig geblieben.
Ihr Zimmer am Ende des kurzen Korridors war eng und schmal, mit alten Möbeln vollgestellt: ein Sofa, ein runder Tisch, ein Sekretär, ein Wandschirm, ein Toilettentischchen, ein Regal. Viele Bücher und die unvermeidliche Schreibmappe lagen auf dem runden Tisch.
Sie führte uns in das Eßzimmer, um uns ein Bild von Chagall zu zeigen, ging dann in die Küche und kam bekümmert zurück.
Wir haben wieder nichts da, Gäste haben wir nicht erwartet, ich kann Ihnen nichts anbieten außer Tee.
Man sah und spürte: Sie war hier, wie auch in ihren Moskauer Unterkünften, „nicht bei sich zu Hause“, sondern auf der Durchreise, zu Gast…
Wir erzählten ihr, wie ehrfurchtsvoll Vera Panowa über sie gesprochen und ihre Gedichte vorgetragen habe. Als sie hörte, daß diese ein Buch über Mohammed zu schreiben plante, fuhr sie hoch, ihre Stimme klang dunkel vor Zorn:
Ich hasse Mohammed. Die halbe Menschheit hat er zu Gefangenen gemacht. Meine Ururgroßmütter, mongolische Prinzessinen, haben wilde Hengste eingeritten, haben ihre Männer mit der Reitpeitsche in Zucht gehalten. Doch dann kam der Islam, sie wurden in den Harem gesperrt, mußten mit Tschador und Schleier verhüllt werden.
Sie hielt uns eine richtige Vorlesung über die Geschichte des Islam, über die ersten Kalifate; es dozierte eine ernsthafte, vielseitig gebildete Historikerin. Doch über Mohammed sprach sie mit glühendem Haß, wie man nur von einem persönlichen Todfeind, der unmittelbar bedrohend ist, spricht.
Im September 1962 kam der amerikanische Dichter Robert Frost zum ersten Mal nach Rußland. In seiner Kindheit hatte er von dem geheimnisvollen Land der weißen Bären geträumt. Als junger Mann und reifer Lyriker lebte er im Magnetfeld der russischen Literatur. Er schrieb:
Aber wie können wir
Auf russische Weise Romane über Amerika schreiben,
Wenn unser Leben so ruhig verläuft?…
Von unseren Schriftstellern erwartet, fordert man,
Sie sollten alle so werden wie Dostojewskij,
Wo doch ihr Unglück ein Zuviel an Erfolg und Wohlstand ist…
Am Tage der feierlichen Amtseinführung Kennedys als Präsident war Frost Ehrengast gewesen. Zum ersten Mal in der Geschichte der USA wurde dieser Staatsakt mit einem Vortrag von Gedichten begleitet. Nach Moskau war Frost als Abgesandter Präsident Kennedys gekommen. Er wurde bei uns mit höchsten Ehren empfangen. Als er in Pizunda erkrankte, besuchte ihn Chruschtschow in seinem Hotelzimmer, saß bei ihm am Bett und unterhielt ihn mit Witzen. Frost kam auch nach Leningrad und bat, man möge ihn mit Anna Achmatowa bekannt machen. Sie erzählte gerne von dieser Begegnung.
Bei mir zu Hause durfte ich ihn doch nicht empfangen. Das Potjomkinsche Dorf wurde in der Datscha des Akademiemitglieds Alexejew errichtet. Ich weiß nicht mehr, woher man diese feine Tischdecke, das Kristall geholt hatte. Ich wurde festlich frisiert, elegant gekleidet, alle meine Freundinnen bemühten sich um mich. Dann holte mich ein junger amerikanischer Slawist, der Schönling Reeve, ab. Er brachte mich rechtzeitig hin. Dort waren alle schon ganz aufgeregt, hasteten hin und her. Ich warte gespannt, was da für ein Wunderwesen kommen soll – ein Nationaldichter! Und dann erscheint ein alter Mann. Ein amerikanischer Opa, aber so einer, wissen Sie, der schon langsam zu einer Oma wird: rötliche Backen, weiße Haare, sehr munter. Wir sitzen nebeneinander in Korbsesseln, man legt uns allerlei Leckerbissen vor, schenkt uns verschiedene Weine ein. Wir unterhalten uns in aller Ruhe. Aber ich denke immerzu: Du, mein Lieber, bist also ein Nationaldichter, jedes Jahr bringt man deine Bücher heraus, und natürlich gibt es bei dir keine Gedichte, die nur „für die Schublade“ geschrieben wurden. Alle Zeitungen und Zeitschriften rühmen dich, in den Schulen hören die Schüler von dir, der Präsident empfängt dich als Ehrengast. Dir sind alle denkbaren Ehrungen, Reichtum und Ruhm zuteil geworden. Und ich? Welche Hunde hat man nicht auf mich gehetzt! In welchen Dreck hat man mich nicht getreten?!
Alles gab es – Armut, Elendsschlangen vor den Gefängnissen, Angst, Gedichte, die man nur auswendig kannte, nur im Kopf hatte, und verbrannte Gedichte. Demütigung und Leid, immer wieder Leid… Nichts von all dem weißt du und würdest es auch nicht verstehen, wenn ich davon erzählte… Aber nun sitzen wir nebeneinander, zwei alte Menschen in Korbsesseln. So als ob es keinen Unterschied gäbe. Und das Ende wird für uns beide das gleiche sein. Aber vielleicht ist der Unterschied auch nicht so groß?
VI
Orlowa: Nach einer schweren Operation schrieb ich Anna Achmatowa aus dem Krankenhaus einen Brief:
Liebe Anna Andrejewna!
Ich hätte mich nie entschlossen, Ihnen zu schreiben, wenn nicht außergewöhnliche Umstände vorlägen. Ich war den ganzen Sommer und Herbst über krank, es endete mit einer schweren Operation, nach der mir irgendwie alles gleichgültig wurde. Ich las nicht, dachte nicht, lag auf meinem Krankenbett, hatte nicht mal einen Blick für meine Lieben. Da brachte mir Lew Sinowjewitsch ein Bändchen mit Ihren Gedichten – „versuch doch zu lesen!“ Und Ihre Gedichte wurden zu einer Brücke in diese Welt. Ich las die lang bekannten Zeilen, die mir ganz unbekannt erschienen, und ich kehrte zurück. Deshalb wollte ich Ihnen unbedingt mit tiefer persönlicher Dankbarkeit schreiben, jetzt, wo es mir besser geht. (Ich liege noch immer im Krankenhaus.) Ich versuche zu begreifen, was für ein Wunder mit mir in jener Nacht geschehen ist, als ich wieder einmal trotz aller Spritzen nicht schlafen konnte und zu lesen versuchte.
Auf mich wirkte der Mut des Dichters. Ich habe oft an Sie und Ihr Schicksal, an Ihren außergewöhnlichen, seltenen Mut gedacht. Doch erst jetzt glaube ich, das Wichtigste begriffen zu haben – Sie wissen, daß der Mensch sterblich ist, Sie wissen um den eigentlichen Sinn der menschlichen Tragödie.
Aber wer bewahrt uns vor dem Schrecken,
Den man den Lauf der Zeit genannt…
Sie erkennen diesen Sinn sowohl abstrakt-philosophisch als auch ganz konkret-irdisch.
Alles wird länger leben als ich,
Selbst die alten mürben Starkästen…
Sie wissen darum und lehren die Menschen zu leben, ohne die Augen zu verschließen (so wie ich es früher getan habe) – aber eben wissend. Früher erschienen mir Ihre Verse wie eine kühle Schönheit, eine Marmor-Schönheit. Erst jetzt – wohl nachdem ich selbst leiden mußte – spürte ich die glühende Lava, die der Dichter bewältigt hat.
In Marina Zwetajewas Dichtung dringt das Leiden über alle Schranken, alle Maße hinaus, der Leser wird von Schmerz und Entsetzen mitgerissen… Sie aber haben das Leiden überwunden, ,aufgehoben‘. Und eben darin liegt der große Sieg des Poeten, ein moralischer und ästhetischer Sieg. Diese Überwindung, diese Bescheidenheit im Leiden scheint mir ein sehr russischer Zug zu sein …
Noch einmal danke ich Ihnen, verneige mich in tiefer Dankbarkeit dafür, daß Sie da sind, für alles, was Sie geschrieben haben und für die herrlich jungen Gedichte, die Sie jetzt schreiben. Vor meinen Augen steht Ihr Bild, nicht das aus dem Buch, sondern mein Lieblingsbild von heute, im hellen Licht. Darauf ist eine majestätische, außergewöhnlich glückliche Frau abgebildet – eine Olympierin auf der Höhe ihres Ruhms, geschmückt mit allen denkbaren russischen und ausländischen Lorbeeren, als ob deren Gesammelte Werke bereits erschienen sind.5 Doch Ihre wichtigsten Lorbeeren – nämlich die in den Herzen der Leser – sind Wirklichkeit, kein Wunschtraum. Haben Sie Dank. In der Hoffnung, Sie zu sehen, kommen wir im November nach Komarowo. Ich umarme Sie herzlich.
Als Antwort kam ein Telegramm:
Ihr Brief brachte Trost und Hilfe in schwerer Stunde. Ich danke Ihnen. Ihre Achmatowa.
In diesem Brief stand nur die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Ich habe ihr nicht geschrieben und ihr nie gesagt, wie spät ich zu ihr gefunden habe und warum erst so spät.
Sie war der Überzeugung, daß es nur eine Wahl zwischen der gefährlichen Wahrheit und der rettenden Lüge gibt. Sie glaubte, daß eben dieser Zwiespalt das Leben aller Sowjetmenschen bestimmte.
VII
Kopelew: Am 30. Mai 1964 prallten an ein und demselben Tag mein früherer Glaube und die neuerkannte, die Wahrheit Achmatowas so anschaulich wie in einer Schulstunde aufeinander.
Um zwölf Uhr eine Versammlung im Revolutionsmuseum aus Anlaß des 70. Geburtstages von Artemij Chalatow. Um sechs ein Abend im Majakowskij-Museum zu Ehren des 75. Geburtstages von Anna Achmatowa.
Die Zeitungen berichteten weder über die eine noch über die andere Veranstaltung.
Ich schaue auf die Fahnen im Revolutionsmuseum. Kein feierliches Rauschen ist zu hören, nur ein fast metallisches Klirren – wie Blumen auf künstlichen Kränzen. Nach dem Begräbnis, wenn alle gehen, werden die Kränze ans Grab gelehnt. Lebende Blumen welken, Metallblumen klirren im Wind. Über dem Präsidiumstisch ein Fotoporträt: der lockige assyrische Bart von Chalatow. Gutaussehend, jung, den Blick in die Ferne, in die Zukunft gerichtet. Als man ihn 1937 verhaftete, war er 43 Jahre alt.
Vor 1917 war er ein „Berufsrevolutionär“, später wurde er „Berufsfunktionär“. Er leitete unter anderem das „Volksnahrungsressort“, verfügte über Kantinen, über Eisenbahnwaggons, Verlage, Bücher.
Mein Vater hatte seit Beginn der Revolution mit Chalatow zusammengearbeitet; wohin er auch abkommandiert wurde, nahm er immer einige seiner ständigen Mitarbeiter mit. Nachdem er 1937 verhaftet und umgebracht worden war, blieben meine Eltern mit seiner Mutter und seiner Schwester freundschaftlich verbunden. Deshalb war auch ich am 30. Mai 1964 im Revolutionsmuseum.
Durch die hohlen farblosen Worte des offiziellen Redners drang hin und wieder etwas Menschliches:
Es heißt, Artemij Bagratowitsch hat sich auch in Kolyma mit Volksernährung befaßt – er hat die Häftlingsrationen ausgeteilt.
Die meisten Anwesenden waren ehemalige Häftlinge oder deren Angehörige. Neben mir saß Hanka Ganezkaja, wir hatten zusammen am IFLI (dem Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte) studiert. Im dritten Studienjahr wurde sie verhaftet. Sie flüsterte mir zu:
Schlecht haben sie die Versammlung aufgezogen; als ich eine für meinen Vater veranstaltet habe, da weinten alle…
In den Reden kaum eine Andeutung der Verbrechen an ihm. Gewürdigt wurde ein guter Mensch, so als ob er in seinem Bett gestorben wäre. Und wie bei Verstorbenen üblich, wurde über ihn nur Gutes gesagt.
Als ich Koestlers Roman Sonnenfinsternis las, erinnerte mich die zentrale Gestalt Rubashov an Chalatow. Er war stark und klug und machtgewohnt. Aber es fehlte ihnen beiden etwas Wichtiges – vielleicht das Allerwichtigste. Die innere Freiheit, die Menschen jener Spezies nicht haben durften, zu der sie beide gehörten. Zu der auch ich einst gehören wollte. Dafür aber mußten sich diese Menschen von sich selbst freimachen, von ihrer eigenen Meinung, von ihrem Gewissen. Wenn man seine innere Freiheit nicht unterdrückte, konnte man nicht zum „Orden“ gehören. Wer sich, wie ich, nicht endgültig von all dem freizumachen verstand, hatte ständig ein schmerzliches Minderwertigkeitsgefühl. Wer es geschafft hatte, konnte dagegen alles werden: Willenloser Henker oder willenloses Opfer. Für viele endete es – wie für Rubashov und Chalatow – mit einem Genickschuß.
Im Revolutionsmuseum waren alte Leute versammelt. Auf den Fotos, die im Foyer ausgestellt waren, wirken sie jünger und wirklicher als jetzt. Mein Blick geht mehr in den Saal als auf die Tribüne, ich achte mehr auf das, was um mich herum gesprochen wird.
Chalatow hatte noch daran geglaubt, daß unter dem roten Banner „die Internationale erkämpft das Menschenrecht“.
Aber woran glaubten die Menschen, die sich an diesem heißen Frühlingstag nicht geheim, aber auch nicht ganz offiziell hier versammelt haben? Von dieser Versammlung wußte nur ein enger Freundes- und Bekanntenkreis. Diese Menschen unterschieden sich stark von denen, die heute regieren. Hat auch nur einer von ihnen aus Leben und Tod Chalatows gelernt? Lassen sich die Zeiten wieder miteinander verbinden? Oder ist diese Verbindung auf immer abgerissen?
Auch der Abend zu Ehren Anna Achmatowas war weder in der Presse noch im Rundfunk angekündigt worden. Die Einladungen hatte man nach Listen verschickt. Der kleine Saal im Majakowskij-Museum ist voll. Weniger Menschen als am Vormittag. Und ganz andere. Ich gerate aus einer Wirklichkeit, aus einer Sprach-Welt in ganz andere.
Das einleitende Wort spricht Viktor Maximowitsch Shirmunskij:
Ende März haben wir das fünfzigjährige Erscheinen des Rosenkranzes gefeiert, ein Buch, das Achmatowas Ruhm in der russischen Lyrik begründet hat… Fünfzig Jahre sind keine kurze Zeit. Etwas mehr als fünfzig Jahre vergingen von Puschkins Tod bis zum Aufkommen des russischen Modernismus. Sie wissen aber, und Ihre Anwesenheit hier zeugt dafür, daß die Verse Achmatowas ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Wir sind zusammengekommen, um die Gedichte einer großen russischen Dichterin zu hören, Gedichte, die bereits zum klassischen Bestand gehören, aber doch modern sind, und jetzt in alle Sprachen der Welt übersetzt wurden.
Vor fünfzig Jahren hatte er diesen ersten Gedichtband Achmatowas besprochen… Vor einem halben Jahrhundert. Dieses Band der Zeiten hatte schwerste Erschütterungen erlebt, war aber nicht abgerissen. Es geriet in den tiefsten Untergrund und wurde nun wieder erneuert.
Was bedeutete Chalatow für Shirmunskij? Er wollte nicht, daß solche Menschen wie Chalatow sich in seine Arbeit, in sein Leben mischten und ihn hinderten, seinem Beruf nachzugehen. Aber gewöhnlich mischten sie sich eben doch ein. Im April 1930 wurde aus der bereits gedruckten Auflage der Zeitschrift Petschat i rewoljuzija (Presse und Revolution) auf Befehl Chalatows ein Porträt Majakowskijs und die Glückwünsche der Redaktion anläßlich seiner Ausstellung Zwanzig Jahre Arbeit entfernt. Das war einer der letzten Schläge, die dem Dichter zugefügt wurden.
Der Staatsverlag Goslitisdat hatte, als Chalatow ihn leitete, keinen einzigen Gedichtband von Achmatowa herausgegeben. Shirmunskij aber spricht von Gedichten, die er schon als junger Mann kannte und liebte.
Achmatowa hat viele wunderbare Gedichte geschrieben. Aber längst nicht alle sind im Druck erschienen. Die Verantwortung dafür trägt jedoch nicht die Dichterin, sondern gewisse Umstände in der Epoche des Personenkults…
Ich blieb bei meinem Volk in seinem Leiden,
Blieb, wo mein Volk zu seinem Unglück war…
„Gewisse Umstände in der Epoche des Personenkults“ erwiesen sich als feindlich sowohl für Achmatowa als auch für Chalatow. Gibt es sonst noch irgend etwas Gemeinsames in ihrem Schicksal?
Shirmunskij spricht von dem Bürgersinn in Achmatowas Dichtung, von ihrer erzieherischen Bedeutung. Im Revolutionsmuseum wurde auch von Erziehung gesprochen, nämlich davon, daß Chalatow ein Vorbild für die Jugend sei.
Über junge Menschen, die Revolutionäre, auch Bolschewiki, als Vorbilder für sich betrachten, lese ich in ausländischen Zeitschriften und in Büchern der „Neuen Linken“. Ihre Helden sind Lenin, Trotzkij, Rosa Luxemburg, Fidel Castro, Ho Tschi-Min, Che Guevara, Mao. Die Jungen und Mädchen in meiner Umgebung möchten anderen Vorbildern folgen.
Der Lyriker Arsenij Tarkowskij sagte:
Achmatowas Muse besitzt die Gabe der Harmonie, die auch in der russischen Lyrik nur selten vorkommt; in höchstem Maße besaßen sie Baratynskij und Puschkin. Die Verse von Achmatowa sind vollkommen, immer haben wir die endgültige Fassung vor uns. Ihre Sprache wird nie zum Schrei, auch nicht zum Gesang, ihr Wort lebt vom wechselseitigen Durchdringen des Ganzen… Achmatowas Welt lehrt uns innere Standhaftigkeit, Redlichkeit des Denkens und die Fähigkeit, uns mit der Welt in Einklang zu bringen, sie lehrt uns, der Mensch zu sein, der wir sein wollen…
,Sich mit der Welt in Einklang bringen‘ – strebten nicht vor allem die Menschen danach, deren Andenken im Revolutionsmuseum geehrt wird? Obwohl dieser Satz ihnen sicher fremd geklungen hätte.
… Achmatowas Sprache knüpft stark an die Sprache der russischen Prosa an. Ihren Werken blieb die große Versuchung fremd, die Form zu sprengen, wie es für Picasso, Eisenstein oder Chaplin charakteristisch ist.
Majakowskijs Namen spricht er nicht aus. Aber wie kann man ihn ignorieren, wenn man von der Lyrik des 20. Jahrhunderts spricht? Noch dazu in seinem Haus. Hier war ich lange nicht gewesen. Im Winter 1939 hatten mein erster Mann Ljonja und ich beschlossen, ein Drehbuch über Majakowskij zu schreiben. Wir waren in dieses Haus gekommen, um Zeitungen zu lesen, die schon damals zu vergilben begannen. Wir haßten alle Feinde Majakowskijs, gegen die er sich nicht mehr hatte wehren können.
Lew Oserow fragte schroff:
Soll dieses von allen erwartete Buch noch lange ungedruckt bleiben?
1965 erschien der Gedichtband Lauf der Zeit, aber das Requiem blieb im Samisdat, es wurde nur im Ausland publiziert.6
Wladimir Kornilow las sein Gedicht:
Das Jahrhundert hat den Weg uns nicht gebahnt.
Undurchdringlich blieb die Finsternis.
Blok gab’s nicht mehr. Allein Achmatowa
Lebte damals auf Erden.
Chalatow war davon überzeugt gewesen, daß er die Wege in ein neues Jahrhundert bahnte. Seine Wege aber waren zugewachsen, hatten sich als Sackgassen erwiesen. Achmatowas Weg ist offen.
Sind diese Welten wirklich so hoffnungslos voneinander getrennt? Schließt die Andersartigkeit ihrer Tragödien wirklich jede Gemeinsamkeit aus? In unseren Herzen und unseren Schicksalen gab es sie doch beide…
VIII
Kopelew: 1964 wurde Anna Achmatowa in Italien der Ätna-Taormina-Preis verliehen. Und zum ersten Mal nach einem halben Jahrhundert fuhr sie in den Westen.
Lange bevor bekannt wurde, daß sie diese italienische Auszeichnung erhalten hatte, trug sie uns diese Verse vor:
Die, auf die man in Italien nicht gewartet,
Schicken von dort den Bekannten ihren Gruß,
Ich aber blieb im Hinterspiegelland,
Weder Licht noch Luft gibt es hier.
Einige Moskauer Freunde verabschiedeten sie, ich brachte Blumen und das gerade erschienene Buch von R. Die Nachfahren des Huckleberry Finn mit zum Bahnhof. Die Widmung lautete:
Der verehrten Anna Andrejewna zu dem denkwürdigen Tag, an dem sie aus ihrem Hinterspiegelland herauskommt.
Angespannt und ernst saß sie in ihrem Abteil, mit einer ungewohnt hohen Frisur, gepudert wie eine Marquise des 18. Jahrhunderts. Sie dankte für das Buch und sagte sehr ruhig, aber betont:
Ich fahre nun, das kommunistische Rußland zu vertreten.
„Um Gottes willen, Anna Andrejewna, Sie vertreten eine andere Großmacht – die Russische Dichtung!“
„Nein, nein, meine Lieben, ich weiß, warum man mich schickt.“
Aus Orlowas Tagebuch, 20. Februar 1965.
Leningrad. Anna Andrejewna erzählt von Italien: „Nein, es gab keinen Triumph“, sagte sie heiter und spöttisch. „Dort hat man eine ganz andere Beziehung zur Dichtung als bei uns. Ich habe früher immer unsere ,Podiumspoeten‘ Jewtuschenko und Wosnessenskij verlacht. Aber nun glaube ich, es ist gar nicht so schlecht, wenn Tausende von Menschen kommen, um Gedichte zu hören. In Italien sitzen einsame Dichter in verschiedenen Städten. Sie werden nicht gelesen. Und sie kennen sich auch untereinander kaum.“
Es war ein Wiedersehen mit Italien nach einem halben Jahrhundert, nachdem sie die Hoffnung darauf schon aufgegeben hatte. Zum ersten Mal eine solche feierliche, internationale Ehrung. Zwar sagt sie, es sei „kein Triumph“ gewesen, aber in Wahrheit war es doch einer – viele Dichter aus vielen Ländern hatten sich versammelt, um sie zu ehren, und bestätigten so ihre weltweite Anerkennung.
Dort, in der freien Welt, traf sie einsame Dichter. Sie hat, obwohl sie von ihrem eigenen, von unserem Leid so durchdrungen war, dennoch deren Sorgen lebhaft empfunden. Sie blieb auch für fremdes Leid verständnisvoll.
Die Ehrung fand in einem alten Kloster auf einem hohen Hügel statt. Die Treppe war steil.
Die Stufen waren sehr hoch. Nach jedem Schritt meinte ich, es ginge nicht weiter. Gleich, dachte ich, muß man den Notarzt holen und mich von hier auf einer Trage wegbringen. Es würde, wie man so sagt, ein Begräbnis dritter Klasse geben, bei dem der Verstorbene selbst den Leichenwagen kutschiert. Nein, denke ich, ich muß hinaufkommen. Und ich schaffte es.
Sie zeigt Aufnahmen: Auf der Tribüne zusammen mit ihr Vigorelli, Ungaretti, ein italienischer Minister. Hinter ihnen antike Büsten.
Das ist, glaube ich, Marc Aurel. Schauen Sie, wie verächtlich er mich ansieht: „Was ist denn das nun wieder für eine? Eine Dichterin? Sappho kenne ich, aber Achmatowa höre ich zum ersten Mal…“ Man gab mir einen Umschlag, ich legte ihn auf den Tisch. Aber der Minister öffnete meine Handtasche und steckte ihn hinein. Es war ein Scheck über eine Million Lire… Ich war todmüde, als ich in mein Hotelzimmer zurückkam. Mein einziger Gedanke war, schnellstens ins Bett. Da aber kam Surkow. „Wir alle sitzen noch zusammen. Wir bitten Sie sehr. Wenigstens für ein paar Minuten.“ Man schleppte mich in ein anderes Zimmer, ich glaube es war Twardowskijs. Auch Simonow war da und noch jemand. Und auf dem Tisch – die vertraute Wodkaflasche, Hering gab’s auch. Wir aßen wie zu Studentenzeiten, statt von Tellern von irgendwelchen Zeitungsblättern…
Sie erzählte fröhlich, mit Vergnügen.
Kopelew: Hans Werner Richter schrieb eine Rundfunkreportage:
Wissen Sie, wer Anna Achmatowa ist? Nein, Sie wissen es nicht, oder wenn Sie es wissen… (sind Sie) gebildeter als ich, Sie wollen gebildeter erscheinen… Da kam ein Anruf aus Rom. Es war kurz vor Mitternacht.
Ich müsse sofort nach Taormina kommen. Wieso Taormina? Es ist wichtig, sagte die leise, weibliche Stimme Taormina ist wichtig…, die leise Stimme blieb hartnäckig und ein Telegramm wird folgen, eine offizielle Einladung. Herrgott,… was soll ich denn in Taormina? Da kam das Wort: Anna Achmatowa.
Sagen Sie nicht, daß dieses Wort nicht klingt. Fünf A’s hintereinander, und ich liebe das A.
Richter beschreibt humorvoll seinen Flug nach Sizilien, die Erwartung und Vorbereitung der Feierlichkeit.
Anna Achmatowa ist da, hörte ich, als ich nach einem Spaziergang das Klosterhotel betrat, es war der fünfte Tag des Nichtstuns nach meiner Ankunft, es war die zwölfte Stunde, an einem Freitag, und die Sonne stand im Zenit.
Hier, verehrte Hörer, müßte ich eine Zäsur machen, eine Pause, um diese Stunde recht zu würdigen, denn an diesem Busen, an dieser Stimme, an dieser ganzen Erscheinung hätte sich der erste Weltkrieg entzünden können, wenn es nicht möglich gewesen wäre, andere Ursachen dafür zu finden, ja, hier saß Rußland mitten in einem sizilianisch-dominikanischen Klostergarten, auf einem weißlackierten Gartenstuhl, umrahmt von einem säulenmächtigen Kreuzgang…, eine Großfürstin der Poetik, hier hielt sie Hof ab und gab ihre Audienz. Und vor ihr standen die Dichter aus allen Ländern Europas – dem Westen wie dem Osten –, die kleinen, kleinsten und die großen, die jungen und die alten, die Konservativen, die Liberalen, die Kommunisten und die Sozialisten, standen zu einer langen Schlange geordnet bis in den Kreuzgang hinein, um Anna Achmatowa die Hand zu küssen… jeder trat vor und verbeugte sich, und jeder erhielt ein gnädiges Kopfnicken, und viele traten ab mit hochrotem Kopf, und jeder gab sich dieser Zeremonie in der Art seines Landes hin: die Italiener mit Charme, die Spanier mit Grandezza, die Bulgaren devot, die Engländer lässig, und nur die Russen kannten den Stil, den Anna Achmatowa erwartete. Sie standen vor ihrer Zarin, knieten nieder und küßten die Erde. Nein, sie taten es nicht, aber es sah so aus und hätte so sein können. Es war, als küßten sie mit Anna Achmatowas Hand die Erde Rußlands, die Tradition ihrer Geschichte und die Größe ihrer Literatur. Nur einer unter ihnen war ein Spötter, aber ich will hier seinen Namen nicht nennen, um ihm Anna Achmatowas Ungnade zu ersparen. Er sagte, als auch ich meinen Handkuß in der Art meines Landes absolviert hatte:
„Wissen Sie, 1905, zur Zeit der ersten russischen Revolution, war sie eine sehr schöne Frau.“
… sie las, russisch, und mit einer Stimme, die an fernes Gewitter erinnerte, wobei niemals klar wurde, ob das Gewitter im Abziehen oder erst im Heraufkommen war. Ihre dunkle, rollende Stimme ließ keine hellen Töne zu. Das erste Gedicht war kurz, sehr kurz, und kaum beendet, erhob sich ein Beifallssturm, obwohl – abgesehen von den anwesenden Russen – niemand Russisch verstand. Sie las das zweite Gedicht, das ein paar Zeilen länger war, las es und klappte das Buch zusammen…
Nunmehr wurden alle anwesenden Poeten aufgefordert, ihre Gedichte an Anna Achmatowa vorzutragen. Ein Poet nach dem anderen trat hinter den Stuhl von Anna Achmatowa und las sein Gedicht für sie und an sie dem Publikum vor, und jedesmal hob sie den Kopf, sah schräg links nach oben und hinten, wo sich der vortragende Poet befinden mußte, und nahm die Ehrung mit einem leutseligen Nicken entgegen, ganz gleich, ob es sich um ein englisches, isländisches, irländisches, bulgarisches, rumänisches Poem handelte. Der Vorgang glich – man mag mir diesen Vergleich verzeihen – dem Neujahrsempfang am Hof einer weiblichen Majestät. Eine Zarin der Poetik nahm die Huldigung des diplomatischen Corps der Weltliteratur entgegen, wobei die vortragenden Diplomaten ihre Akkredition nicht nachweisen mußten. Endlich hieß es: Anna Achmatowa ist müde, und schon schritt sie hinaus…, und so, wie ich sie hinausschreiten sah, begriff ich plötzlich, warum Rußland zeitweise von Zarinnen regiert werden konnte.
Orlowa: In Rom kam eine Journalistin zu Achmatowa ins Hotel.
Irgendeine Adele von Il Mondo. Die schrieb dann allen möglichen Unsinn. Sie hoffte nämlich, ich würde im Westen bleiben, „die freie Welt wählen“. Und wie sie log! Was sie alles über mein Äußeres sagte. Und daß ich nur über mich selbst spräche. Und ständig: „Oh, Gumiljow! Oh, Pasternak! Oh, Mandelstam!“ Sogar über diesen Morgenrock schrieb sie: „Aus den Zeiten des russisch-japanischen Kriegs, alles hat überdauert“… Nein, Rom hat mir nicht gefallen. Es läßt einem keine Ruhe…
Sie erzählte, wie sie nachts im Zug gefahren ist:
Plötzlich sagte jemand, jetzt seien wir in der Nähe von Venedig. Ich stand am Fenster. Trübe, neblige Dämmerung. Eine gebogene, sich schräg neigende Brücke. Laternen. Eine Kette von Laternen wie bei einem Leichenzug auf dem Friedhof. Ich dachte: Dieses Venedig hat noch niemand so beschrieben. Noch eine Stunde, und es ist Morgen, dann wird Venedig wieder das Juwel, das die Dichter jahrhundertelang besungen haben.
Sie sprach – und ihre Worte kamen auch wie aus der Morgendämmerung. Worte noch vor der Geburt des Verses. Es war mir, als öffnete sich für einen Augenblick eine verborgene, heilige, geheime Werkstatt. Auf dem Tisch lagen Briefe, Streifbandzeitungen. Der Verleger Einaudi hatte telegrafiert:
Ich bin stolz, daß Italien Sie würdig empfangen hat!
Eine Einladung aus England. Ein Päckchen aus Amerika – dort hatte man das Requiem auf tschechisch herausgebracht.
Niemals habe ich gedacht, daß das Requiem lächerlich wirken könnte. Aber Sie werden es gleich erleben. Sehen Sie nur, wie die da sich unsere Gefängnisse vorstellen.
Auf dem Umschlag eine Zeichnung. Am Fenster ein weitmaschiges Gitter, das überhaupt nicht an ein Gefängnis erinnerte, dahinter eine üppige Kaukasuslandschaft. Die Zelle hell und geräumig.
Nichts begreifen die da drüben. Und werden es wohl nie begreifen…
Sie erkundigt sich nach dem Übersetzer Anatolij Geleskul. Ob er wirklich vorhabe, Rilke zu übersetzen.
Gebe Gott, daß es endlich einen russischen Rilke gibt. Geleskul schreibt wohl auch selbst Gedichte. Was wissen Sie darüber?
Wir kennen seine Gedichte nicht, er scheint sie bis jetzt niemandem vorzulesen oder zu zeigen. Sie ist überzeugt:
Wir werden auch das noch erleben. Er ist ein Halbgott, er schafft alles. Sagen Sie ihm, er sei Spitzenklasse…
Brodskij hatte ihr aus der Verbannung seine neuen Gedichte geschickt.
Ich habe schon einmal meinen blanken Neid auf Brodskij gestanden. Ich las seine Gedichte und dachte: Das hättest du schreiben sollen und das hier auch. Ich beneidete ihn um jedes Wort, um jeden Reim. Ich hätte ihn auch um das Gedicht „Zum Tod von Eliot“ beneiden können, aber dieses gefällt mir weniger.
Wir erzählten ihr von den Erinnerungen, die Sinaida Nikolajewna Pasternak geschrieben hatte, sie hatte sie wenigen Zuhörern – wir waren auch dabei – in Peredelkino vorgelesen. Die Geschichte ihrer Jugend, ihrer ersten Liebe, ihres Familienlebens. Und dann überraschend eine unverhüllte Schilderung sexueller Beziehungen, als ob sie die Fragen eines Arztes beantworte. Sie versuchte vor allem zu beweisen, daß nicht Olga Iwinskaja das Vorbild von Lara, der Geliebten Jurij Schiwagos, war, sondern sie, die angetraute Ehefrau. Und daß Pasternak immer ein „echter Sowjetmensch“ und „parteiloser Bolschewik“ geblieben sei. Über Mandelstam schrieb sie wie über einen aufdringlichen Bettler, der Pasternak „Unannehmlichkeiten eingebracht“ habe. Anna Andrejewna hörte erregt zu, sie ärgerte sich nicht nur über Sinaida Nikolajewna, sondern auch über Boris Leonidowitsch Pasternak.
Er vergötterte die vulgärsten Weiber, besonders wenn sie Fußböden wischten… Und als er den Faust übersetzte, geriet ihm Gretchen gröber als bei Goethe; er gestaltete eine Spießbürgerin wie Sinaida Nikolajewna. Aber jetzt muß man sie beschützen, denn wenn die Jugend erfährt, was sie über Mandelstam schreibt, wird sie wohl in der Luft zerrissen werden.
Sie erzählte von ihrem Stück – einer Tragödie. Wir verstanden nicht, meinte sie dasjenige, das sie in Taschkent verbrannte? „Es regt sich nur in Komarowo. An allen anderen Orten schweigt es.“ ,Es regt sich‘. Was meint sie damit? Will sie das verbrannte Stück wiederherstellen, oder geht es um ein neues?
An jenem Tag nach ihrer Italienreise war sie lebhafter als gewöhnlich. Sie spricht vom Umbruch ihres Gedichtbandes Lauf der Zeit: „Sie haben wieder einmal auf den bereits fertigen Seiten Zeilen vertauscht. Ich bekomme noch einen Herzinfarkt.“ – „Anna Andrejewna, was werden Sie tun?“ – „Ich habe ein Telegramm geschickt. Aber sie hören ja nicht auf mich. Sie werden sich schon was einfallen lassen. Dann kleben sie eben einfach ein Porträt von Nasser ein. Sie lachen? Weinen müßte man.“ Aber sie lacht selbst.
IX
Kopelew: Februar 1966. Prozeß gegen Sinjawskij und Daniel – ein schändliches Gerichtsverfahren. Aber das Präsidium des Schriftstellerverbands hat das Urteil, sieben und fünf Jahre Straflager, gebilligt.
Anna Andrejewna kam nach einem Infarkt aus dem Krankenhaus. Sie rief uns mehrmals an, lud uns ein. Ich aber war unentschlossen, zögerte, jemand hatte Anna Andrejewna erzählt, daß Hans Werner Richter uns die Broschüre geschickt hatte. Sie erinnerte nun jedesmal:
Bitte, vergessen Sie nicht, den Artikel dieses Deutschen mitzubringen, ich hörte, er sei amüsant.
Aber wie konnte ich ihr diese Reportage bringen, da waren doch einige Zeilen über ihr Alter, ihr Äußeres, ihre Vergangenheit, die sie kränken mußten. Ich berief mich auf irgendwelche eiligen Angelegenheiten, zögerte den Besuch immer wieder hinaus und hoffte, es würde gelingen, auch ohne die Broschüre zu ihr zu gehen.
Anna Andrejewna rief am 26. Februar wieder an. Ausweichen war jetzt nicht mehr möglich. Sie sagte, sie hätte uns ihre neuen Bücher zurechtgelegt – den Gedichtband Lauf der Zeit und einen Band mit Nachdichtungen.
Am 27. Februar kamen wir zu ihr. Sie wirkte unverändert, war wie immer natürlich majestätisch und ungezwungen freundlich. Keine sichtbaren Spuren ihrer Krankheit.
Die Ärzte nennen mich ein medizinisches Wunder. Als sie mich ins Krankenhaus brachten, dachten sie, ich würde gleich sterben. Aber ich habe die Medizin betrogen.
Sie fragte nach dem Prozeß gegen Andrej Sinjawskij und Julij Daniel. Damals hofften wir noch auf Begnadigung, auf Aufhebung des Urteils, auf den bevorstehenden Parteitag.
Ich habe erst jetzt erfahren, daß Winogradow an dieser Gemeinheit beteiligt war, er war Vorsitzender der Gutachterkommission. Er ist doch ein Wissenschaftler, wir kennen uns seit fünfzig Jahren, sind sogar befreundet. Er hat interessant über meine Gedichte geschrieben. Aber jetzt kann ich ihm nicht mehr die Hand geben.
Sie wollte erfahren, wer von den Schriftstellern für die Verurteilten eingetreten sei.
Das ist gut zu wissen. Es sind doch jetzt andere Zeiten. Sehr gut.
Sie zeigte uns ein dunkelgraues dickes Buch.
Hier, Sie können nun anschauen, wie die Amerikaner Achmatowa herausgeben. Gesammelte Werke, der erste Band. Empörend! Im Vorwort wimmelt es von Fehlern und Lügen. Sie haben zwei fremde Gedichte hineingebracht, von wem, weiß ich nicht. So etwas hätte ich nicht schreiben können. Überall Fehler. Viele Druckfehler.
Wir versuchten zu widersprechen: „Trotz allem ist es gut, daß es dieses Buch gibt. Das Requiem ist gedruckt. Die Fehler werden in der zweiten Auflage berichtigt. Und fremde Gedichte? Vielleicht sind das Gedichte von Shurawljow,7 der Ihnen zwei gestohlen hat? Dafür haben sich die Amerikaner an ihm gerächt – Auge um Auge.“
Sie lacht kurz, winkt ab.
Nein, nein, es ist ein empörendes Buch.
Dann zeigt sie alte, vergilbte Fotos.
Hier habe ich dasselbe Kleid an wie auf dem Porträt von Altman, auch sitze ich genauso.
… Eine Aufnahme von einer schlanken Turnerin, sie liegt auf dem Bauch, den Kopf zurückgeworfen, die schönen Beine wie Bogen gespannt, die Fersen am Hinterkopf.
Das hätte ich werden sollen – eine Zirkusartistin.
Noch eine Aufnahme, ganz neu aus dem „Zentralen Staatsarchiv für Literatur“ (ZGALI). Dort wird ein Büchlein aus Birkenrinde aufbewahrt, eine Sammlung von Achmatowas Gedichten, die einige verhaftete Frauen im Straflager zusammengestellt hatten. Die Gedichte kannten sie auswendig. Deutliche Zeilen in die Birkenrinde eingeschnitten:
Einundzwanzigster. Montag. Nacht.
Im Nebel die Stadtsilhouette.
Da irgendein Nichtstuer ausgedacht,
Daß es Liebe auf Erden gäbe.
Als sie unsere bittenden Blicke bemerkte, schenkte sie uns die Aufnahme.8 Auf die Rückseite schrieb sie das Datum und ihr „A“, von einem beflügelten Strich geteilt.
Ich übersetzte ihr Richter vom Blatt, wobei ich natürlich die Scherze über die „Schönheit aus dem Jahr 1905“ und das Durcheinander mit den verschiedenen Ehemännern überging. Sie hörte mit sichtlichem Vergnügen zu. Ein paarmal lachte sie laut:
Ja, so war es. Ach, dieser komische schlaksige Ire, niemand hat verstanden, was er vorgetragen hat… Wunderbar. So muß man Reportagen schreiben. Unsere sollten von ihm lernen. Soll ich Richter mein Buch schicken? Oder besser ein Foto, er kann ja nicht Russisch.
Wir fürchteten, sie zu ermüden, und machten einige Male Anstalten zu gehen. Aber sie ließ uns nicht. Sie trug uns einige Gedichte vor.
Andere führen ihren Liebsten mit fort,
Ich sehe ihnen nicht neidvoll nach,
Allein sitze ich auf der Anklagebank
Wohl bald schon ein halbes Jahrhundert.
…
Es wechseln die Gesichter der Wächter,
Schon der sechste Staatsanwalt hat seinen Infarkt…
Als wir uns verabschiedeten, sagte sie:
Lassen Sie mir bitte dieses Heft von Richter hier. Ich möchte es mir ansehen.
28. Februar. Morgens ruft Anna Andrejewna an. In der Stimme ein Lächeln.
Ich habe alles gelesen und würdige Ihre Gentleman-Haltung. Aber jetzt möchte ich Sie sehr bitten, mir alles zu übersetzen. Alles, ohne Ausnahme. Ich fahre heute mit Nina Antonowna ins Sanatorium, aber Viktor Jefimowitsch [Ardow] und die Jungen werden uns dort besuchen. Bitte, schicken Sie die Übersetzung, sobald Sie sie fertig haben.
Ich übersetzte zügig. Die Stenotypistin tippte es schnell. Am 5. März um 10.15 Uhr rief ich Ardow an, er sollte ins Sanatorium fahren, wir verabredeten, daß er unterwegs bei mir die Übersetzung abholen würde.
Eine Stunde später rief er an:
Anna Andrejewna ist gestorben, ungefähr zu der Zeit, als wir miteinander telefonierten.
Aus Kopelews Tagebuch.
Das heißt, ich habe am 28. Februar zum letzten Mal ihre Stimme gehört. Bestürzung. Trauer. Ich telefoniere und telefoniere. Am schwersten, es Lidija Tschukowskaja zu sagen. Ich habe Richter in Berlin angerufen. Es schien mir wie ein Vermächtnis…
Anja9 rief an. Sie erzählte, daß Anna Andrejewna am Abend zuvor um das Neue Testament gebeten hatte – sie wollte die Texte des Evangeliums mit den Texten der Qumraner Schriftrollen vergleichen. Am Morgen des 5. März sei sie sehr fröhlich aufgewacht. Aber zum Frühstück wollte sie nicht gehen, sie fühlte sich schwach. Die Schwester gab ihr eine Spritze. Sie scherzte mit ihr. Und starb mit einem Lächeln.
Am 7. März morgens in der Kirche des Heiligen Nikolaus eine Totenmesse, die Marija Judina bestellt hatte. Es kamen etwa vierzig Menschen.
Der junge Geistliche las die Messe ernst und gesammelt. Zwei Kirchendienerinnen mit schwarzen Tüchern sangen „Mit allen Heiligen laß ruhen…“ Altvertraute, traurig-tröstliche Worte, altbekannt, dennoch werden die Augen feucht. Wir hielten Kerzen. Ewiges Gedenken. Alle sangen mit. Abends versammelten wir uns bei Iwan R. Ihre Stimme vom Tonband – eine tiefe, müde Stimme. Ein paar Gedichte, begleitet vom Klopfen des Regens am Fenster. Alles neuartig bedeutsam, erhaben und traurig. Und hörbarer, faßbarer wird die tiefe Weisheit ihrer Verse. Das „Ich“ klingt entfremdet wie „sie“; die leidenschaftlichen Bekenntnisse – die unmittelbare Wirklichkeit der Liebe, die Wehmut der sinnlichen Erinnerungen – sind zugleich Gefühle und Gedanken und dabei ein nüchternes und waches Denken.
Der sechste, siebte, achte März: unaufhörliche Telefonanrufe, lange Gespräche. Der Schriftstellerverband beauftragte Arsenij Tarkowskij, Lew Oserow und Viktor Ardow, den Sarg nach Leningrad zu begleiten. Aber was ist mit Moskau? Die Führung des Schriftstellerverbandes hat offensichtlich Befürchtungen, daß es „Demonstrationen“ geben könnte, und möchte alles möglichst schnell hinter sich bringen. Es heißt: Vom Haus des Schriftstellerverbands fährt um elf Uhr ein Autobus zur Leichenhalle.
Immer wieder rufen Freunde, Bekannte und Unbekannte an, fragen:
Stimmt es wirklich, daß man uns nicht die Möglichkeit gibt, Abschied zu nehmen?
Achmatowa hat einmal geschrieben:
Welcher verrückte Maler
Wird meinen letzten Weg darstellen?
Und so kam es, daß ich, mit keinerlei Vollmachten versehen, am Telefon im Namen der „Kommission des Schriftstellerverbands für die Beerdigung von Achmatowa“ zu handeln begann.
Eine erprobte und bewährte Methode: Nicht die großen Chefs, sondern kleinere Beamte ansprechen. Ich rief beim Flughafen an, bei der Abteilung für Luftfracht, gratulierte den Mädchen mit samtener Stimme zum bevorstehenden Frauentag am 8. März, erklärte, was für eine großartige Frau Anna Achmatowa gewesen sei. Und jetzt dieser Schmerz, diese Trauer am Vorabend des internationalen Frauentages. Ohne Schwierigkeiten erhielt ich die Erlaubnis, den Sarg zwei oder gar drei Stunden später als verabredet direkt zum Flugzeug zu bringen. Allen, die uns anriefen, sagten wir, sie sollten am Morgen nicht zum Verband, sondern direkt zur Leichenhalle gehen.
8. März. Früh am Morgen kamen Etkind und Dudin. Ich rief noch einmal beim Flughafen an, ließ mir bestätigen, daß auch die jetzt Diensthabenden sich an die gestrigen Abmachungen halten würden. Gegen zehn Uhr fuhren wir zur Leichenhalle. Ein kalter Regen. Ein matschiger, grauer, kleiner Hof auf der Rückseite des Sklifassowskij-Krankenhauses. In einer kleinen neblig-weißlichen Kammer auf einem Postament – der Sarg.
Platingraue Haare. Das rosige Gesicht, geglättet, fast ohne Falten. Die Züge wie gemeißelt. Nicht der Tod ist es, sondern tiefer Schlaf.
Am Sarg stehen Nina Antonowna Olschewskaja, Anja, Nadeshda Jakowlewna Mandelstam, Nika Glen,10 Julija Shiwowa.11 Es kommen und kommen Menschen, langsam vorwärts drängend, innehaltend, schweigende Menschen. Viele bekannte Gesichter, aber noch mehr ganz unbekannte.
Raissa war zu Lidija Kornejewna Tschukowskaja gefahren, um sie zu holen. Wir machten uns Sorgen wegen ihres Herzens. Immer mehr Menschen kommen. Viele bringen Blumen. Keine Kränze – es ist ja kein Staatsbegräbnis.
In der Enge Geflüster, leises Schluchzen, plötzlich das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Eine Gemeinsamkeit in der Trauer, selbstverständlich und ungezwungen.
Als Pasternak begraben wurde, gab es auch keine offizielle Mitteilung, wollte man auch das Abschiednehmen verhindern, fürchtete es. Damals, an jenem heißen Junitag, waren viele Menschen nach Peredelkino gekommen, ungeachtet der Widersacher und ihnen zum Trotz. Zwischen den Tausenden von Trauernden flitzten Dutzende von ausländischen Korrespondenten, Agenten in Zivil und Fotografen des KGB, Litfond-Funktionäre hasteten hin und her… An seinem Grab erklangen nicht nur Worte der Trauer, sondern auch des Zorns.
Der Abschied von Achmatowa war anders. Nur Trauer. Eine leise, demütige und stolze Trauer. Alles ihr feindliche – feige Intrigen, böse Ängste – blieb fern, blieb irgendwo dort hinter den Türen der Dienstzimmer im Schriftstellerverband und anderer „Dienststellen“.
Und das geschieht an jenem Tag in Moskau,
Wenn ich die Stadt für immer werd verlassen,
Und streben werd zum langersehnten Hafen,
Doch meinen Schatten laß ich unter euch.
Am Eingang zur Leichenhalle trat Ardow auf die ausgetretenen Stufen.
Freunde, beginnen wir unsere Trauerkundgebung.
Er sprach die üblichen Worte, die in Grabreden gesagt werden. Aber in seiner Stimme war echte Trauer. Dann sprach Lew Oserow:
„… Achmatowa! Dieser Name ist wie ein einziger Seufzer…“ Diese Worte schrieb vor fünfzig Jahren Marina Zwetajewa. Und wir wiederholen sie heute. Und werden sie immer wiederholen, weil es für große Künstler keinen Tod gibt, es gibt nur ihren Geburtstag… Das große Leben von Anna Andrejewna Achmatowa ist zu Ende gegangen. Ihre Unsterblichkeit beginnt, hat schon begonnen…
Efim Etkind sagte:
In einem Artikel über Puschkin hat Achmatowa geschrieben, daß man den Zaren Nikolaj und seinen Minister Benkendorf heute nur noch als Puschkins Verfolger kennt, als seine unbedeutenden Zeitgenossen… Wir leben in der Epoche der Achmatowa. Und unsere Nachfahren werden die Verfolger Achmatowas so ansehen wie wir heute die Puschkins.
Orlowa: Am selben Abend war eine Versammlung im Schriftstellerverband:
Bilanz des Literaturjahres.
Einer aus dem Präsidium sagte:
Anna Achmatowa ist gestorben. Ehren wir ihr Andenken, indem wir uns von den Plätzen erheben.
Tamara Wladimirowna Iwanowa sprach erregt und zornig:
Im Hof der Leichenhalle habe ich mich für unsere Organisation zu Tode geschämt. Wir hatten doch genug Zeit. Es hätte nicht zu dieser improvisierten Totenfeier kommen müssen. Wir hätten sie auch hier abhalten können.
Ihr antwortete Michalkow:
Ich möchte dazu erklären: Es ist nur natürlich, daß an das Präsidium eine Reihe von Anfragen zum Tod Anna Achmatowas gerichtet wurden. Es wird gefragt, warum die Moskauer Schriftsteller nicht die Möglichkeit erhielten, von ihr Abschied zu nehmen. Ich halte es für meine Pflicht, darüber zu berichten, um unnötiges Geschwätz zu vermeiden. Sie starb im Sanatorium, von wo sie, wie es üblich ist, in die Leichenhalle des Sklifassowskij-Krankenhauses gebracht wurde – am Vorabend des 8. März, des Frauenfeiertags. Da gab es einfach keine Möglichkeit mehr, etwas zu tun. Auf Bitten ihrer Angehörigen gab es gestern eine Totenmesse nach dem orthodoxen Ritus. Und in drei Tagen findet die offizielle Trauerfeier in Leningrad statt.
Tamara Wladimirowna rief laut von ihrem Platz aus:
Das ist alles Lüge! Das war ganz anders.
Michalkow:
Ich habe die Information vom Schriftstellerverband, von der Leitung, und diese Information stimmt. Wir haben uns an eine Reihe von Instanzen gewandt, es gab keine Hindernisse. Mich hat auch einiges erstaunt, aber…
Ein anderer Funktionär sagte:
Zwei Worte zur Beerdigung. Michalkow hat die Wahrheit gesagt. Die Regelung wurde so getroffen. Aber natürlich muß die Moskauer Sektion – und ich schließe mich hier nicht aus – eine Möglichkeit finden, Achmatowa zu ehren. Dieser Fehler muß korrigiert werden, wir werden bald einen Festabend veranstalten. Tote soll man nicht fürchten!
Es gab aber keinen Gedenkabend für Achmatowa im Schriftstellerverband. Und die Toten fürchtete man nach wie vor. Sogar die, die man feierlich zu Grabe getragen hatte wie Ehrenburg, Paustowskij, Twardowskij. Ihre Grabstätten wurden bewacht, uniformierte und zivile Wächter ließen „Unbefugte“ nicht heran…
Aus Kopelews Tagebuch, 9. März.
Um Mitternacht fuhr ich zusammen mit Iwan Roshanskij und Wjatscheslaw Iwanow nach Leningrad. Am Bahnhof drängten sich die Reisenden und ihre Begleiter. Michail Ardow und seine Freunde brachten uns Anna Andrejewnas Koffer, darunter den wichtigsten mit Manuskripten, Heften, Notizbüchern für die Punins.
… Die große blauweiße Kathedrale. Wir kamen zu dritt mit M. und I. Drinnen Gedränge. Die Messe ging mit einer Fürbitte für den Patriarchen und viele andere Menschen, deren Namen von Listen verlesen wurden, zu Ende. Die Menge wurde immer dichter. Viele bekannte Gesichter, Leningrader Schriftsteller. Das Totenamt begann, aber ich konnte den Sarg nicht sehen. Vermutete ihn dort, wohin der Metropolit ging. Menschen mit Fotoapparaten und Filmkameras knipsen, blitzen, klettern auf Hocker. Plötzlich ein durchdringender Schrei:
Ihr Rowdys! Hört auf! Wir sind hier in einer Kirche!
Das war Lew Gumiljow… Es wurde länger gesungen und gebetet als auf dem Totenamt in Moskau. Alles war aufwendiger, hochtrabender und formeller. Trotz allem schnüren manche Worte wieder das Herz zusammen.
Vergib uns unsere Sünden, die gewollten und ungewollten, die wissentlichen und unwissentlichen, und schaffe ewiges Gedenken.
Schaffe Gedenken!
Als das Abschiednehmen begann, drängten wir uns zunächst zum Ausgang durch und kamen dann von dort aus langsam zum Sarg vor. Junge Burschen und Mädchen standen, die Arme ineinander verschränkt, als lebende Mauer außen herum.
… Anatolij Najman sah Iwan und mich und ließ uns durch. Am Sarg stand Anja, in einem dunkellila Umhang, verweint und müde aussehend. Sie stellte uns Lew Gumiljow vor:
Das sind die Moskauer Freunde von Akuma.12
Er ähnelte seiner Mutter in den Gesichtszügen, manchmal auch in der Sprechweise. Doch er ist kleiner. Hat ein krankhaft aufgedunsenes Gesicht, einen glanzlosen Blick. Gereizt nickte er uns zu, hastig, gleichsam abwehrend drückte er uns die Hand. Ich übergebe ihm die Gedichte von Bella Achmadulina zum Tode Achmatowas.
Keine Gedichte am Sarg! Das ist abgeschmackt!
Viele junge Menschen drumherum. Iossif Brodskij, blaß, zerzaust; Tolja Najman, düster vor sich hinblickend; ein uns unbekannter junger Kerl mit breitem Gesicht, die Haare im Pagenschnitt, der Mund schmerzverzerrt.
Noch immer gehen Menschen am Sarg vorbei – alte Petersburger Damen in Mützen, über die ein Schal gebunden ist, hübsch gekleidete Mädchen, junge Burschen, Intellektuelle, Arbeiter in alten Wattejacken und wieder alte Petersburgerinnen. Sie küssen ihr die Stirn, die mit einem weißen schmalen Band mit schwarzen kirchenslawischen Schriftzeichen bedeckt war. Einige weinen leise vor sich hin, andere klagen laut:
Mein Gott, wie ist sie schön!
Der Ordner murmelt erschrocken:
Genossen, bitte gehen Sie etwas schneller, es wollen noch mehr Abschied nehmen. Um zwei müssen wir im Schriftstellerverband sein.
Jemand sagt:
Was für eine riesige Achmatowka!13
Die Jungen bilden eine Kette und drängen die Menge zurück. Wir tragen den Sarg zum Katafalk. Der Kirchhof ist voll von Menschen. Auf der Kirchentreppe viele Bettler, die sich laut unterhalten.
Sie war eine treue Kirchgängerin, eine eifrige… Nie hat sie weniger als zwanzig Kopeken gegeben, auch schon mal einen Rubel an Feiertagen… Eine gute Frau war sie. Gott habe sie selig…
Wir versuchen den Katafalk mit dem Taxi einzuholen, auf dem Litejnyj Prospekt hält uns ein Milizposten an:
Sie können nicht in die Woinowstraße fahren. Ein Staatsbegräbnis.
Vor kurzem noch hat man Achmatowa diffamiert und geschmäht, quer durchs Land, von Wilna bis Wladiwostok, aber jetzt ein „Staatsbegräbnis“.
Beim „Haus der Schriftsteller“ eine Menschenmenge. Die Schlange endet erst einige Häuserblöcke weiter. Ich zeige meinen Schriftstellerausweis, erst einem Leutnant, dann einem Major, schließlich einem Oberst; man schiebt uns an der Schlange vorbei in den Haupteingang. Ein mitfühlender Milizionär:
Drücken Sie nur feste, Sie werden schon Platz finden.
Auch im Treppenhaus Gedränge. Wir kommen langsam, nur schrittweise voran, stehen lange. Für jede Stufe brauchen wir ein paar Minuten. Im ersten Stock findet die offizielle Trauerfeier statt. Einige Leningrader Schriftsteller sprechen an ihrem Sarg.
Zum Friedhof in Komarowo fahren einige Busse und viele Personenwagen. Am Stadtrand ein plötzlicher Halt, der Katafalk macht kehrt. Es stellte sich heraus, daß man das Kreuz vergessen hatte. Die meisten Personenwagen fahren weiter. Eine große Menschenmenge erwartet den Katafalk am Tor zum Friedhof. In Komarowo ist noch richtiger Winter. Gegen Abend begann es zu frieren.
Über hundert Menschen stapfen durch den Schnee. Oleg Wolkow sagt zu mir:
Die Familie möchte, daß Sie am Grab sprechen.
Meine Rede war fertig, zum ersten Mal hatte ich einen Text schon vorher aufgeschrieben. Wolkow nennt dem Leningrader Schriftsteller, der die Trauerfeier eröffnet, mehrmals meinen Namen.
Als erster spricht Jurij Makagonenko. Statt meiner wird Michalkow aufgerufen. Er hatte sich in der Menge warmgehalten, war hin- und hergehüpft, hatte seine Nachbarn angestoßen, wobei er fast zu kichern schien. Er zieht ein maschinengeschriebenes Blatt Papier aus der Tasche und liest einen belanglosen, floskelhaften Standard-Nachruf vor. Dann spricht Arsenij Tarkowskij, der mit Mühe seine Tränen zurückhalten kann.
Letztes Abschiednehmen. Der Geistliche streut Erde auf sie, legt ein Gebetsblatt hinein. Der Sarg wird verschlossen. Nachdem das Grab zugeschüttet worden war, entsteht ein Streit, wohin das Kreuz zu stellen sei, an das Kopf- oder das Fußende. Man streitet immer lauter, beruft sich auf Bräuche und kirchliche Regeln. Lew Gumiljows hohe, aufgebrachte Stimme ist zu hören. Und wieder sagt jemand:
Eine richtige posthume Achmatowka.
Noch in derselben Nacht fuhren wir nach Moskau zurück. Im Zug erzählte Nadeshda Jakowlewna Mandelstam von der Totenfeier in der Datscha in Komarowo:
Die Punins hassen Ljowa [Gumiljow] und er sie ebenfalls. Jetzt wird es um das Archiv gehen…
Sie behielt recht.
In den folgenden Jahren dachte ich mit einem bitteren Gefühl daran, wie wir die Koffer mit den Manuskripten von Anna Andrejewna am Leningrader Bahnhof den Punins eigenhändig übergeben hatten. Irina Punina hat später das so kostbare Archiv zerstört und verschleudert, sie hat Teile daraus an das Staatsarchiv und die Leningrader Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek verkauft und schamlos mit dem einzigen rechtmäßigen Erben Lew Gumiljow prozessiert.
X
Kopelew: Den ersten Gedächtnisabend für Anna Achmatowa veranstalteten die Studenten der Mathematischen Fakultät der Moskauer Universität am 31. März 1966.
Eine halbe Stunde vor Beginn wurden Tarkowskij und ich ins Dekanat gebeten. Der Parteisekretär und der stellvertretende Dekan fragten, worüber wir reden würden. Und ob wir ihnen nicht die Manuskripte oder wenigstens die „Thesen“ unserer Reden zeigen könnten.
Wir lehnten ab:
Wir haben keine fertigen Manuskripte oder Thesen. Wir wollen über das sprechen, was wir wissen und woran wir uns erinnern.
Verstehen Sie doch bitte, wir müssen eine Mißstimmung vermeiden, es könnte eine politisch brisante Situation entstehen. Unter unseren Studenten, das heißt bei einigen von ihnen, gibt’s ein ungesundes Interesse. Es hat doch den bekannten ZK-Beschluß von 1946 gegeben, der ist ja noch nicht aufgehoben. Aber andererseits ist sie natürlich eine große Dichterin… Dies ist der erste Abend, und wir dürfen nicht zulassen, daß er zu einer unangenehmen politischen Sensation wird.
Wir beide gaben, zunehmend gereizt, im wesentlichen ein und dieselbe Antwort. Wir wollten hier keine politische Demonstration veranstalten, alle würden über die große Dichterin sprechen.
Es begann der vorsitzende Student A. Gefter:
Anna Andrejewna hatte uns im letzten Jahr versprochen, daß sie bei ihrem nächsten Moskaubesuch zu uns kommt. Sie ist nicht gekommen. Aber dennoch ist sie hier mit uns.
Arsenij Tarkowskij:
Anna Achmatowa ist in einem Alter gestorben, in dem man die Menschen gewöhnlich als alt betrachtet. Doch war sie nie gealtert. Bei jeder Begegnung mit ihr freute ich mich darüber, daß ihr Geist immer größere Tiefen erfaßte und ihre Lyrik immer zeitloser wurde. Dieser Prozeß ihrer inneren Entwicklung hat sich bis zu ihrem Tod fortgesetzt…
Margarita Aliger erzählte, wie sie sich auf einem Wolgaschiff plötzlich mit Achmatowa in einer Kajüte befand, als sie im Herbst 1941 in die Evakuierung geschickt wurden.
Anna Achmatowa hat sich zu Lebzeiten ihrer Zeit immer als würdig erwiesen… Sie konnte sich mit den großen Ereignissen der Geschichte messen, und dafür hat die Geschichte sie belohnt…
Semjon Lipkin:
Man hat hier eben von Harmonie gesprochen. Das ist richtig. Aber es gibt noch etwas, was den Dichter zum Dichter macht. Das ist sein Bewußtsein, seine Gedankenwelt. Ohne geistige Tiefe gibt es keine große Dichtung, obwohl das allein in der Dichtung nicht ausreicht. Wenn man Achmatowa liest – und ich lese sie mein Leben lang ebenso wie Puschkin, Lermontow, Tjuttschew, alles Dichter ihres Ranges –, spüre ich, wie sie mir geistig überlegen ist.
… Ihr Mathematiker wißt das: Das, was nicht gerecht ist, ist eben unrecht. Und wenn es unrecht ist, ist es sinnlos. So auch hier. Es gibt keine Kraft, die der Achmatowa ihr Rußland und Rußland seine Achmatowa nehmen könnte.
Wjatscheslaw Iwanow:
Anna Achmatowa hat viel darüber gelesen und nachgedacht, was die alte Kultur des Ostens von der des Westens unterscheidet, und auch darüber, worin die moderne Wissenschaft mit der modernen Kunst vergleichbar ist. Aber sie hatte ihre Erkenntnisse auch aus dem Bereich des Irrationalen geschöpft. Ein großer Dichter sieht oft sein Schicksal voraus, wie in einem Spiegel…
Achmatowas Schicksal war schrecklich. Und sie hat das vorausgesehen, sie wußte im voraus, was ihr beschieden war. Nach ihrer Typhuserkrankung in Taschkent hatte sie die Vision eines Theaterstücks, das so sehr das wiedergab, was später geschah, daß sie das Stück verbrannte…
Hellsehen, Zauberkunst, Magie waren ihr vertraut. Das ist eine besondere Gabe, ohne die es keinen großen Dichter gibt. Doch zugleich war sie von außergewöhnlich gesunder Vernunft und klarem Verstand. Und sie war oft sehr fröhlich. Man kann sich kaum vorstellen, wie heiter sie sein konnte, auch in den letzten Tagen, und ihr Alter schien dabei nichts zu bedeuten. Iossif Brodskij, dessen Gedichte sie so hoch schätzte, war für sie genauso ein Zeitgenosse wie Mandelstam, den sie stets als einen der größten Dichter besonders herausgehoben hat.
Dann hörten wir Tonbandaufnahmen. In dem großen Saal, im andächtigen Schweigen einiger hundert junger Menschen klang ihre Stimme ganz anders als früher, als wir ihr lauschten. Sie klang auf eine neue Weise majestätisch, traurig und dennoch feierlich.
An jenem Abend habe ich die Rede vorgelesen, die ich am Grabe nicht halten durfte.
Die Dichtung von Anna Achmatowa, ihr Schicksal, ihre Gestalt – schön und majestätisch – verkörpern Rußland in den schwersten und tragischsten Jahren seiner tausendjährigen Geschichte.
ANNA VON GANZ RUSSLAND – so nannte sie Marina Zwetajewa. Anna von ganz Rußland! Sie war unbeugsam stolz, stolz auch in Erniedrigungen und in Todesangst; sie war demütig – eben demütig, aber nie unterwürfig –; sie blieb spöttisch nüchtern selbst im höchsten Triumph, erhaben in Trauer und gelassen in Freude, sanft weiblich und unerschrocken mutig; eine strenge hellseherische Prophetin, die jugendhaft beherzt in die tiefsten Geheimnisse des Lebens einzudringen versucht; eine rationalistische Denkerin, die mit brillanten Gedankenblitzen auch erfahrene Wissenschaftler überraschte, und gleichsam eine Magierin, eine Zauberin, die selbst von den magischen Gewalten ihres eigenen musischen Wortes verzaubert war.
Unser heiliges Handwerk
Ist tausend Jahre alt…
Auch ohne Licht erhellt es die Welt.
Doch es sagte bis jetzt noch kein Poet,
Es gebe keine Weisheit und kein Altern,
Und, vielleicht, auch keinen Tod.
Anna von ganz Rußland, doppelt gekrönt mit der „Dornenkrone des Leidens“ und der „Sternenkrone der Poesie“. Ihre Dichtung ist einheitlich und facettenreich. Sie wächst aus lebensspendenden Widersprüchen, aus der Einheit von Herz und Vernunft – des glühendheißen verwirrten Herzens und der kristallklaren strahlenden Vernunft. Ihre Dichtung ist weit offen und dennoch dicht verschlossen, geheimnisvoll. Ihre Poesie ist von unstillbarer Sehnsucht nach Liebe und Glück durchdrungen, immer wieder von Trauer und Verzweiflung überschattet, doch auch dann von stoischer Würde gezeichnet. In ihren Gedichten erklingen russische Volksweisen, wehmütige Klagen und stille Gebete, schelmische Scherzverse und trostlose Lieder der Zuchthäusler.
Ihre Werke sind unterschiedlich – manchmal wesentlich unterschiedlich – in Themen, Stimmung, Vokabular. Doch stets und immer bleibt wahrnehmbar der Grundton: ihre einzigartige Stimme und ihre tiefverwurzelte Verwandtschaft mit Puschkin – die Verwandtschaft einer unmittelbaren poetischen Erbin. Das Erbe offenbart sich sowohl in der Form, im Wort wie im Inhalt, in der Weltempfindung, die national und zugleich weltumfassend ist.
Dostojewskij sprach über Puschkins „Verständnis für die ganze Welt, für die ganze Menschheit“. Das gleiche war auch Achmatowa zu eigen. In ihren Werken leben die Gestalten des alten Hellas und Roms, des biblischen Orients und der Gegenwart Europas: Der Trotz Londons im Bombenhagel, der Schmerz von Paris, von der Wehrmacht besetzt, das war auch ihr Mut, ihr Schmerz… Und immer wieder spürt man in den Versen die strengen granitnen Rhythmen des alten Petersburg, das schimmernde Licht der weißen Nächte, das Rauschen der Haine von Zarskoje Selo, der karelischen Wälder, der Gärten von Taschkent, das Atmen der Newa und des Schwarzen Meers und das donnernde Krachen der Bomben im belagerten Leningrad.
Achmatowas majestätische Größe ist um so deutlicher, weil sie nicht allein, nicht in einer Leere erscheint. Sie war Nachfolgerin und Zeitgenossin von großen Dichtern. Über unserem Jahrhundert leuchtet ein beispielloses Gestirn: Alexander Blok, Welimir Chlebnikow, Andrej Belyj, Nikolaj Gumiljow, Wladimir Majakowskij, Sergej Jessenin, Ossip Mandelstam, Wladislaw Chodassewitsch, Marina Zwetajewa, Boris Pasternak. Diese Reihe schließt Anna Achmatowa. Mit ihr endet eine Epoche.
Sie bleibt unsterblich wie das russische Wort. Dagegen sind ihre Verfolger entweder zur höchsten Strafe des Vergessens verdammt oder zur schändlichen Haft für alle Zeiten in kleingedruckten Kommentaren des letzten Bandes ihrer Werke verurteilt.
Für alle, die Anna Achmatowa persönlich kannten, die das Glück hatten, ihr zu begegnen, sie zu hören, wurde am 5. März 1966 das Leben ärmer und finsterer. Doch uns bleibt die Erinnerung an sie, als trauriger und stolzer Trost.
„Wetschnaja pamjat“ – Ewiges Gedenken, das sind nicht nur Worte aus der Totenmesse, nicht nur Worte des Gebets und der Hoffnung. Das ist auch ein sicheres Wissen. Wir bekennen uns zum ursprünglichen Sinn dieser Worte, wir glauben und wissen: Ewiges Gedenken.
XI
Wir haben neun Jahre nach Achmatowas Tod über sie zu schreiben begonnen. Jetzt fällt es uns zunehmend schwerer, uns vorzustellen; daß wir sie ihre Gedichte vortragen hörten, daß wir mit ihr gesprochen, sie freundlich, zornig, fröhlich, kokett und weise erlebt haben, daß wir gemeinsam lustig waren, beim Wein zusammensaßen…
Einige Jahre lang haben wir Achmatowas Dichtung als eine Strömung im großen Strom verstanden. Und ihre Erscheinung sahen wir irgendwo in der Tiefe eines breiten Panoramas.
Aber heute ist gerade sie für uns besonders wichtig geworden.
Wenn wir einander Gedichte vorlesen, greifen wir am häufigsten zu einem Bändchen ihrer Verse.
Das Erfassen von Dichtung läßt sich genausowenig mit dem Verstand erforschen wie die Gedichte selbst.
Und jeder Leser ist wie ein Geheimnis,
Wie ein Schatz, verborgen in der Erde…
Trotzdem versuchen wir zu erzählen, wie jeder von uns seine Achmatowa und wie wir gemeinsam unsere Achmatowa gefunden haben, und wir versuchen, eine Erklärung zu finden, warum sie für uns so wichtig ist.
Orlowa: Das Requiem bekam ich gleichzeitig mit Solschenizyns Iwan Denissowitsch, Schalamows Kolyma: Insel im Archipel und Jewgenija Ginsburgs Gratwanderung in die Hand. Bei Achmatowa hörte ich vor allem „das Heulen der schwarzen Marussjas“, der Gefängniswagen, sah sie „als dreihundertste mit ihrem Lebensmittelpaket“ in der Schlange vor dem Gefängnis stehen, spürte die grausame Ironie der Worte am Gefängnisschalter:
Für Gumiljow von Achmatowa.
Mir war vor allem wichtig, wovon sie sprach. Aber ganz entfernt schwang ein beschwörender Ton mit – er blieb noch lange unbestimmt.
Allmählich begriff ich, daß mich in Achmatowas Gedichten das schicksalhafte Standhalten gegenüber Tod, Finsternis und Chaos anzog. Sie lebte immer am Rand des Abgrunds und hatte eine Todesangst vor Dunkelheit und Chaos. Aber sie überwand die Furcht mit ihrer Dichtung.
Ihre Ängste waren konkret: Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg, Hunger. Tod und Verfolgung ihrer Angehörigen. Verhaftung des Sohnes, erneute Verhaftung des Sohnes. Zweiter Weltkrieg, Verfolgung.
Im Vorwort zum Requiem erinnert sie sich, wie eine Frau in der Schlange vor dem Gefängnis sie fragt:
Und das können Sie beschreiben?
Und sie antwortet:
Ja.
Sie hat das beschrieben – das Chaos der schrecklichsten Jahre Rußlands.
Es ist keine Chronik. Kein Aufschrei der Verzweiflung. Ein „Requiem“.
Ein Epos der Schmerzen über ihre Leiden als Mutter. Uber die Leiden anderer Mütter. Über die Leiden Rußlands. Das überwundene Chaos.
Als ich das Poem ohne Held zum ersten Mal las, habe ich darin nichts verstanden. Die Worte im Vorwort: „… erklären werde ich nicht“ haben mich sogar verletzt. Ich hätte eine Erklärung gebraucht.
Aber der Widerhall wurde mit jedem Lesen stärker. Es vergingen zehn Jahre, bevor Widerhall und Sinn eins wurden.
Unsere Trennung ist nur scheinbar,
Ich bin nicht von dir zu trennen,
Mein Schatten ist auf deinen Mauern,
Mein Spiegelbild in den Kanälen,
Meiner Schritte Klang in den Sälen der Ermitage…
Sie schrieb über ihren Abschied von Leningrad, ich aber las daraus meine Verbundenheit mit dem steilen Hang oberhalb des Moskwa-Flusses in Shukowka, mit den Moskauer Straßen meiner Kindheit, der Twerskaja, der Dimitrowka, der Petrowka…
Heute erscheint mir Achmatowas Kampf mit ihrer Erinnerung am wichtigsten. Man kann und darf nicht alles in der Erinnerung bewahren, sonst geht man zugrunde, und die Erinnerung überflutet das Leben in der Gegenwart. Aber man darf auch nicht vergessen, das wäre Verrat an den Toten und an den Lebenden. In der „Nordischen Elegie“ geht es nicht nur um das Vergessensein, sondern auch um das Vergessen.
… Und dann kommt jene bitterste Erkenntnis,
Wenn uns bewußt wird: was vergangen,
Hat nicht mehr Platz in unserem Leben.
Daß wir nicht mehr erkennen würden,
Diejenigen, die früher schon gestorben,
Daß die, von denen Gott uns trennte,
Vortrefflich ohne uns zurechtgekommen sind,
Und mehr noch:
Alles ist zum besten.
Das Vergangene läßt sich in unserem Leben schwer unterbringen. Die Last der Vergangenheit drückt, verschlägt den Atem. Aber das Leben wehrt sich, es verschlingt das Vergangene, deckt es zu, saugt es langsam, beharrlich und unwiderruflich in sich hinein.
Kopelew: Achmatowas Dichtung ist mir vor allem deshalb so wichtig geworden, weil ich – wie die meisten Menschen – den Tod fürchte, die bodenlose Leere, das Nichts.
Achmatowas Poesie strahlt eine lebensspendende Kraft aus ebenso wie die Stanzen von Puschkin:
Und mögen jungen Lebens Töne
Umspielen meines Grabes Spur
Im Glanz der gleichmütigen Schöne
Der unvergänglichen Natur.14
Diese Zeilen waren für mich von Kindheit an wie ein Gebet, wie eine Beschwörung, zugleich eine Verheißung der Unsterblichkeit.
Viele Jahre später hörte und las ich Achmatowas Verse, die ich mir seitdem immer wieder ins Gedächtnis rufe:
Das Beständigste auf Erden ist die Trauer,
Und ewig währt des Wortes Majestät.
Achmatowa überwindet den Tod. Und ihre Worte sind heute für mich, ebenso wie die Worte Puschkins, ein unvergängliches Licht, das auch „in der Finsternis leuchtet“.
Als sie noch eine junge Lyrikerin, eine Anfängerin war, schrieben Wladimir Nedobrowo und Ossip Mandelstam, daß ihre Lyrik aus der russischen Epik wachse. Manchmal sind in wenigen Strophen eine Novelle oder auch ein ganzer Roman verdichtet.
Achmatowas Dichtung half mir, mich vom ideologisch bestimmten moralischen Relativismus und von flach pragmatischen Vorstellungen über Ursachen und Ziele der Kunst zu befreien. Achmatowas eigene innere Freiheit ist auch von ihrer tiefverwurzelten Religiosität mitbestimmt worden. Ihr Glaube war so inbrünstig, daß er keine dogmatische Absicherung benötigte. Sie fürchtete sich nicht davor, als „häretisch“ oder „blasphemisch“ zu gelten, und betete auch nicht um „Hilfe im Unglauben“.
Sie blieb unabhängig von äußeren Gewalten, frei von jedwedem Fanatismus und gehorchte demütig und stolz der göttlichen Kraft ihrer Gabe.
XII
Unsere Jugend verlebten wir ohne Achmatowa, und das war nicht nur ein ästhetischer, sondern auch ein ethischer Verlust.
Doch eben in den Jahren der tiefsten geistigen Krisen haben wir an ihrem Schicksal Anteil genommen und ihre Dichtung inniger und um so stärker erlebt.
Sie kam zu uns, als wir zwischen den Trümmern der zerstörten Götzentempel, im Rauch der verglimmenden Hoffnungen und Illusionen umherirrten.
Achmatowa diente niemals dem Bösen, das uns so lange gefangengehalten hat. Ihre Dichtung half uns, in unsere Vergangenheit und in unsere Gegenwart zu schauen, ohne die Augen zu schließen, ohne zu verzweifeln, ohne zu resignieren. Sie bescherte uns Freude. Sie half uns im schweren Ringen mit unseren eigenen Erfahrungen.
Orlowa: Unser Manuskript blieb einige Jahre unberührt liegen. Als ich es wieder las, war ich unzufrieden. Vieles haben wir nicht genau ausdrücken können. Ton und Stil erinnern bisweilen an eine Ode. Achmatowas Welt war komplizierter, tiefer, innerlich widersprüchlicher, als sie uns erschien. Man darf nicht das Dämonische übersehen, das sie selbst in zahlreichen Gedichten und im Poem ohne Held direkt anspricht.
… Gleich jener vom Teufel Besessenen
Rast ich wie auf den nächtlichen Brocken…
Aber noch wichtiger als solche Erwähnungen ist die „grüne, dämonische Flamme“ (Lidija Tschukowskaja), die viele ihrer Gedichte durchdringt. Über die Gattung „romantisches Poem“, die sie als Märchenwesen, als Fee empfand und zum Dichten ihres eigenen Poems ohne Held bewegte, schrieb Achmatowa:
Ich hab sie getrunken mit jedem Tropfen,
Besessen von dämonischem, schwarzem Verlangen,
Nicht wissend, wie ich frei von ihr werde…
Im Poem ohne Held, in dieser Petersburger Walpurgisnacht, wird ihr dichterisches Dämonenreich konkret. Im karnevalesken Gedränge taucht selbst der „Herr der Finsternis“ auf, den die irdischen und gespenstischen Gäste mitgeführt haben in die geisterhafte, „dämonische Stadt Dostojewskijs“.
Die Autorin ironisiert sich selbst:
Ich bin doch die Stillste, bin schlicht und einfach,
„Wegerich“, „Weißer Schwarm“…
Sie ist weder still noch einfach. Abgrundtief sind ihre „Keller der Erinnerung“, die mit der grenzenlosen Höhe des Himmels untrennbar verbunden sind.
Ich habe eine alte Freundin Anna Andrejewnas gefragt, ob sie zum Ende ihres Lebens ruhiger, gleichmütiger geworden sei.
Wo denken Sie hin, gerade da war sie wie von Teufeln besessen.
Achmatowa erfuhr wie Goethe und auch Puschkin die Verführungen und die Macht jener teuflischen Kraft, die „stets das Böse will und stets das Gute schafft“, und kleidete sie in Worte. Und darin – nicht nur im Göttlichen, auch in ihren faustischen Zügen – liegt eine der Quellen ihrer dichterischen Größe.
Kopelew: Das stimmt. Als wir zu schreiben begannen, und solange wir dort, zu Hause, schrieben, folgten wir gewissermaßen den Gesetzen der Gattung – der Grabrede. Trotzdem nehme ich kein Wort von dem zurück, was ich in der eigentlichen Grabrede gesagt habe.
Aber das, was Raissa Orlowa die faustischen Züge Achmatowas nennt, verstehe ich anders. Faust hat bewußt und freiwillig einen Bund mit dem Teufel geschlossen. Faust wird genau in dem Augenblick von der Sorge geblendet, als er nicht mehr glaubt, daß dieser Bund nötig ist. Faust verneint die Priorität des WORTES – des Geistes – und kommt zu der Überzeugung: „Im Anfang war die TAT“. Eben darin erkannte der russische Philosoph Alexander Meier den Ursprung der tragischen Schuld von Faust. Ein faustisches Schicksal hatte Gorkij. Er glaubte auch an die Priorität des Handelns, war auch verführt und geblendet und hörte im Knirschen der Totengräberschaufeln die munteren Laute des sozialistischen Aufbaus.
Pasternak hat selbst seinen Protagonisten Jurij Schiwago mit Faust verglichen. Doch Schiwago und sein Autor haben den Bund mit dem Teufel abgelehnt.
Achmatowa ist ebenso wie sie dem Bund mit den teuflischen Kräften der Epoche entgangen. Sie war nichts weniger als ein Engel. Sie mußte unter dem Druck des Bösen zurückweichen, sie versuchte die Henker zu erweichen, und um ihren Sohn zu retten, hat sie Verse über Stalin geschrieben. Aber sie war nie eine Verführte oder Geblendete.
Orlowa: Man soll den Begriff des Dämonischen nicht so übermäßig politisieren, ihn nicht nur auf „die bösen Kräfte der Epoche“, den Staat, beschränken. Das Böse, das Dämonische kann auch in ein Menschenherz eindringen. Manchmal ist es nur eine „Zutat“, manchmal tritt es überhaupt nicht hervor, aber es kann auch mächtig und zerstörerisch wirken. Wie bei Faust:
Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust.
Wie bei Dostojewskij:
Hier kämpfen der Teufel und Gott miteinander, und das Schlachtfeld sind die Herzen der Menschen.
,Zwei Seelen‘ sind auch bei Achmatowa erkennbar.
Die Nacht hindurch streite ich
Mit meinem unbezähmbaren Gewissen…
Kopelew: Das ist nicht nur faustisch, sondern allgemein menschlich. Faust dagegen hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und, wenn auch vorübergehend, die eine von den Seelen triumphieren lassen; im Gegensatz zu Mephisto wollte er Gutes, aber schaffte Böses.
Das Dämonische in Achmatowa war von ganz anderer Art. Nicht erworben durch einen Teufelspakt, sondern ureigen angeboren wie das Dämonische von Goethe und Puschkin, Blok und Bulgakow.
Achmatowa widmete der Witwe Bulgakows, die sie „die Zauberin“ nannte, ein Gedicht.
Ich gehöre nicht zu denen,
Die fremdem Zauber verfallen,
Ich selbst… doch nein,
Meine Geheimnisse gebe ich nicht preis.
Achmatowa ist eher dem Verführer Mephisto verwandt als dem verführten Faust, oder mehr noch, den Schöpfern der gewaltigsten Faust- und Mephisto-Gestalten.
Orlowa: Lewij Matwej, der Apostel in Bulgakows Meister und Margarita, sagt, daß der Meister „das Licht nicht verdient hat. Er hat Ruhe verdient.“ Achmatowa hat die Wahrheit verdient, und wahrlich, in dem Bestreben, die Wahrheit zu erkennen, ist mehr Liebe zur Dichtung, mehr Achtung gegenüber dem Dichter als in den schönsten Lobreden.
Kopelew: Sie hat Licht und Wahrheit verdient. Das Licht der Unsterblichkeit. Und die Wahrheit – in jenem Spiel von Licht und Schatten, ohne das es kein Leben gibt.
(1975–1984)
Aus Raissa Orlowa und Lew Kopelew: Zeitgenossen, Meister, Freunde, Albrecht Knaus Verlag, 1989
Eine Himbeerrute, die von unten bis oben
mit Blütentrieben besetzt ist. Du fragst mich,
was das bedeutet. Jetzt, heute: Austreiben,
im August ist Schluss. Dann musst du Himbeerruten,
die abgetragen haben, abschneiden.
Marina Zwetajewa, „Der Strauch“, 20. August 1934.
Margret Kreidl
Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München
Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
signaturen-magazin.de
Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011
Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016
Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968
Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989
Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989
Anna Achmatowa Begräbnis.
Tilman Spreckelsen: Wenn die Sonne morgens durchs Fenster schreit
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.9.2024
Ralph Dutli liest aus dem Buch Fatrasien.
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