Octavio Paz: Suche nach einer Mitte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Octavio Paz: Suche nach einer Mitte

Paz/Brunschwiler-Suche nach einer Mitte

NACHTSTÜCK VON SAN ILDEFONSO

1

Die Nach erfindet in meinem Fenster
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaeine andere Nacht,
einen anderen Raum:
aaaaaaaaaaaaaaaaaazuckendes Festgetümmel
auf einem Quadratmeter Schwärze.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFeurige
Augenblicksbündnisse,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaanomadische Geometrien,
streunende Zahlen.
aaaaaaaaaaaaaaaaVom Gelb zum Grün zum Rot
entrollt sich die Spirale.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaFenster:
Folie, magnetisch geladen mit Anrufen und Antworten,
Hochspannungskalligraphie,
trügerisches Himmel/Hölle-Spiel der Industrie
auf der wandelhaften Haut des Augenblicks.

Zeichen-Samen:
aaaaaaaaaaaaadie Nacht schleudert sie aus,
sie steigen empor,
aaaaaaaaaaaaaaabersten da droben,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaastürzen ab,
schon verbrannt,
aaaaaaaaaaaaaain einen Schattenkegel,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaatauchen wieder auf,
ein Funkengestöber,
aaaaaaaaaaaaaaaaSilbentrauben,
kreisende Brände,
aaaaaaaaaaaaaaastieben auseinander,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaufs neue zersplittert.
Die Stadt erfindet und tilgt sie.

Ich bin am Eingang eines Tunnels.
Diese Sätze durchlöchern die Zeit.
Vielleicht bin ich der, welcher wartet am Ende des Tunnels.
Ich spreche mit geschlossenen Augen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaJemand
hat auf meinen Lidern
einen Wald von Magnetnadeln gepflanzt,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaajemand
lenkt die Reihe  dieser Wörter.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie Seite
ist ein Ameisenhaufen geworden.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie Leere
hat sich niedergelassen im Mund meines Magens.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaIch falle
unaufhörlich in diese Leere.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaIch falle, ohne zu fallen.
Mich friert an den Händen,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafriert an den Füßen
− aber die Alphabete glühen, glühen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDer Raum
entsteht und vergeht.
aaaaaaaaaaaaaaaaaDie Nacht beharrt,
die Nacht befühlt meine Stirn,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaabefühlt meine Gedanken.
Was will sie?

 

 

Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises

an Octavio Paz

Als Octavio Paz Diplom und Goldmedaille entgegennahm und dem König jovial die Hand schüttelte, schien es fast, als wollte er dem schwedischen Monarchen dazu gratulieren, ihm die Insignien seiner wohlverdienten Auszeichnung überreichen zu dürfen. Selten begegnete ich einem so selbstbewußten, offenmütigen und humorvollen Preisträger, der seine Würdigung so gelassen akzeptierte. Überall erfüllte er seine Verpflichtungen während der festlichen Nobelwoche mit dem verbindlichen Lächeln eines routinierten Diplomaten und dem Pondus eines neu gekorenen Laureaten. Es machte ihm offenbar Spaß, im Schweinwerferlicht öffentlicher Aufmerksamkeit zu stehen, wenngleich er bei offiziellen Anlässen sehr zurückhaltend auftrat und seine Umgebung argwöhnisch beobachtete.
Obwohl er seine Nobelvorlesung im überfüllten Festsaal der Schwedischen Akademie mit einer weitgehenden Definition des Wortes „gracias“ einleitete und seine tiefe Rührung in diesem Augenblick bekannte, war das keineswegs eine demütige Danksagung. Er nahm Laudatio und Scheck augenscheinlich als durchaus verdienten Tribut für ein anerkanntes Lebenswerk. Im Spiegel der weltweiten, fast ausnahmslos positiven Kommentare fühlte er sich offenkundig als würdiger Preisträger bestätigt.
Und doch war seine aufrichtige Überraschung bei der Verlautbarung seiner Wahl durchaus begreiflich. Wer konnte schon damit rechnen, daß auch in diesem Jahre wieder ein Repräsentant der spanischen Sprachwelt an die Reihe kommen würde?
„Hand aufs Herz, ich habe das wirklich nicht erwartet – jedenfalls diesmal nicht“, erklärte er den gratulierenden Reportern. „Vor ein paar Jahren schon, aber jetzt – nach Cela…!“ Er war ebenso erstaunt wie auch die meisten Literaturexperten in aller Welt. Seit zehn Jahren stand Paz alljährlich auf der Liste der Spitzenkandidaten. Im Vorjahr war er einer der meistgenannten Favoriten. Wie einer seiner Freunde verriet, hatte er sich bereits für die Feier eines erhofften Triumphs vorbereitet. Um so enttäuschter war er, als der bis dahin nur selten erwähnte Spanier Camilo José Cela ganz überraschend im Glorienschein der Auszeichnung auf dem Fernsehschirm erschien.
Im bunten Mosaik der vielfältigen Schlagzeilen in der Weltpresse zeichnete sich das literarische, menschliche und politische Profil der Preisträger ab, wie es die Literaturkritiker und Journalisten in allen Ländern zu sehen glauben. „Mexikos poetischer Freischärler“ nannte ihn die Basler Zeitung, einen „Sucher und Wanderer im mexikanischen Labyrinth“ der Zürcher Tagesanzeiger. Überall erkannte man die Gegensätze in seiner Person und seinem Werk: „Sozialist, Surrealist, Erotiker“ (Berlinske Tidende, Kopenhagen), „Brückenbauer und Grenzensprenger“ (Dagbladet, Oslo), „Poet, Kritiker und Humanist“ (Time Magazine, New York), „Ein großartiger Lyriker, Essayist und Theoretiker der Literatur“ (Die Zeit, Hamburg), „Dichter und Humanist“ (Politiken, Kopenhagen), „Botschafter der Kultur“ (Le Monde, Paris), „Seine Poesie verkörpert die Freiheit“ (The Guardian, London), „Kein Prophet im eigenen Land“ (Aftonbladet, Stockholm), „Ein Mexikaner – im Herzen ein Europäer“ und „Ein Kosmopolit mit aztekischen Wurzeln“ bezeichneten ihn spanische Zeitungen, und die Wochenzeitung, Zürich, schreibt: „Früher beinahe ein Trotzkist – und heute – ein altgewordener Misanthrop“. „Freude und Verwirrung in Mexiko“ berichtete El Dias, Madrid, und spiegelt damit die kontrastreiche Reaktion in seiner mexikanischen Heimat. Neben den überwiegend begeisterten Bravorufen und nationalistischen Fanfaren „Viva Mexiko“ wurden auch polemische Kommentare laut, vor allem über seine politische Haltung. Linksradikale Widersacher nennen Paz „Kommunistenfresser“ und wollen es ihm nicht verzeihen, daß er unlängst seinen einstigen Freund und Mentor Pablo Neruda als Stalinisten brandmarkte und seine lateinamerikanischen Kollegen García Marquez und Fuentes als Apologeten der Tyrannei bezeichnete.
Überall waren die meisten Pressestimmen positiv, mitunter sogar enthusiastisch, wie in der sonst gegenüber der Nobeljury so kritisch eingestellten Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Immer wieder hat man in den letzten Jahren mit Recht die Nobelpreis-Akademie kritisiert… mit der Wahl von Octavio Paz, einem Autor, der unzweifelhaft zur Weltliteratur gehört, hat sie den rapiden Verfall ihres Ansehens aufzuhalten vermocht…“
Freilich gab es auch grundsätzliche Einwände. Vor allem bei den selbstkritischen Schweden, die sich für den internationalen Ruf ihrer Akademie mitverantwortlich fühlen. „Wiederum ein Mann – sind Frauen etwa nicht preiswürdig?“, „Seit 24 Jahren kein weiblicher Preisträger“, „Ist es strafbar, weibliche Kandidaten zu diskutieren?“, hieß es in vielen schwedischen Zeitungen. Schon bei der Verlautbarung geriet Sture Allén, der Sekretär der Schwedischen Akademie, ins Kreuzfeuer der ständig wiederkehrenden Vorwürfe des „Männerchauvinismus“ der Herren auf dem Parnaß. Vorsichtig versuchte er den Angriffen auszuweichen. „Nur literarische Kriterien entscheiden“, erklärte er, „unter den mehr als hundert vorgeschlagenen Namen sind nur ein halbes Dutzend Frauen“, und er berief sich auf seine statutengemäße Schweigepflicht: „Erst in fünfzig Jahren, also anno 2040, wird das heutige Diskussionsprotokoll zugänglich sein.
Neben dem Chinesen Bao Dei, dem Westinder V.S. Naipaul, dem Tschechen Milan Kundera und dem von sechzig deutschen Kritikern lancierten Max Frisch stand auch Salman Rushdie im Vordergrund des allgemeinen Rätselratens und vor allem die jedes Jahr diskutierten Frauen – Nadine Gordimer, Christa Wolf, Doris Lessing, Marguerite Duras, Ana María Matute und auch die vom Doyen des Gremiums Artur Lundkvist gepriesene Amerikanerin Joyce Carol Oates. Ja, wenn der Leser diesen Band in der Hand halten wird, weiß er auch schon den Namen des am 90. Jahrestag der Nobelstiftung gewählten Laureaten und, ob bei diesem Fest ein buntfarbiges Abendkleid die sonst so solide schwarzweiße Frackbrustreihe auf dem „Pinguinberg“ auflockern wird.
Auch Paz meinte: „Gewiß sollte auch eine Frau mit dem Preis bedacht werden – aber nicht, weil sie eine Frau ist, sondern weil sie preiswürdige Bücher schreibt.“ Er wollte aber keinen Namen nennen. „Wichtig ist, daß Poesie nicht als Handelsware betrachtet wird. Poesie ist ja der innerste Kern der Wahrheit. Gleich der Mystik ist Dichtung unerklärlich, außer in ihrer eigenen Terminologie.“ Auf die Frage, ob Poesie in dieser von sozialen, ökologischen und politischen Katastrophen erschütterten Welt einen Sinn haben kann, antwortete er spontan:

Natürlich, um wenigstens etwas vor dem Verfall zu bewahren, der Trostlosigkeit zu begegnen. Mitgefühl, Spontaneität und Humor sind wichtige Waffen im Kampf gegen jedweden Totalitarismus und gegen Verzweiflung. Poesie ohne Humor ist wie eine Blume ohne Duft…

In Interviews mit schwedischen Journalisten definierte er seine politische Einstellung. Als Dichter fühlt er sich nicht nur als Repräsentant einer Nation, sondern des Universums überhaupt, als ein Diener und Wärter der Sprache. Er sicht sich vor allem als Dichter, freute sich aber darüber, daß die Laudatio auch sein essayistisches Werk berücksichtigte. „Trotz 22 Jahren im diplomatischen Dienst war ich nie Politiker“, sagte er, „aber gleichwohl ein ständiger Kritiker der Politik.“
Unumwunden gab er zu, daß er sich als einer der ersten lateinamerikanischen Schriftsteller vom Kommunismus distanzierte. „Immer noch unterstützen viele Intellektuelle in Mexiko und anderen Ländern bürokratische Militärdiktaturen wie in Kuba und verherrlichen den vulgären Marxismus“, erklärte er dem Reporter des Stockholmer Expressen, „darum habe ich so viele politische Feinde.“ Mit besonderem Interesse beobachtet er jetzt die Entwicklung in Osteuropa und ihren möglichen Einfluß auf die Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Lateinamerika. „Gegen die Bezeichnung dritte Welt bin ich allergisch“, stellt er fest, „ich finde sie erniedrigend und irreführend. Nur wenig vereint die Länder in dieser sogenannten dritten Welt. Die arabische Welt ist ein eigenes Universum. China und Indien gehören einer anderen Zivilisation an als Lateinamerika und Afrika. Alle sind sie die armen Exzentriker der westlichen Welt.“
Auch in den lebhaften Diskussionen mit den Studenten der Universitäten in Stockholm und Uppsala, die nach traditionellem Brauch die Literaturpreisträger ins Kreuzfeuer nehmen, warnte er vor den Gefahren der Konsumgesellschaft. Er betrachtet den exzessiven Konsum als eine Art Selbstmord. „Gewiß, ohne freien Markt keine funktionierende Demokratie, meint er, „aber die Logik des freien Marktes darf nicht zu einem allgemein gültigen Moral erhoben werden. Kommerzialismus gefährdet heute auch die Kunst, untergräbt wahrhaftige Werte und verdirbt oft die besten Künstler. Zum Glück spekuliert man heute noch nicht auf meinem Gebiet. – Dichtkunst ist noch von Kurssteigerung und –fall verschont…“
Mit dem dichten grauen Haarschopf, den buschigen Brauen über den stets Neugierde und Lebenslust ausstrahlenden Augen, der beinahe faltenlosen hohen Stirn und den sinnlichen Lippen sieht Paz viel jünger aus als er ist. Der 76jährige Ex-Diplomat trägt immer perfekt zugeschnittene Anzüge aus feinstem Stoff, bevorzugt Hemden in auffallenden Farben, kardinallila, rosa, dunkelrot und dazu bunte Seidenkrawatten, alle sorgfältig ausgewählt von seiner blonden, 23 Jahre jüngeren Frau, die ihn auf Schritt und Tritt begleitet. Marie José Tramin de Paz lächelt freudestrahlend, wenn er von den für ihn so bedeutungsvollen Jahren als Botschafter in Indien spricht. „Ein phantastisches Land, für mich schicksalhaft, weil ich dort meine Frau traf. Der erste Kuß von Marie José an einem Abend in New Delhi vor 25 Jahren hat mein Leben ebenso verändert wie die Begegnung mit der uralten indischen Kultur, die heute noch weiterlebt und nicht wie die mexikanische von einer anderen Zivilisation überschattet wurde, in der man Götter wie Shiva und Kali verehrt und die Sexualität verherrlicht.“
Er legte ihr liebevoll den Arm um die Schulter und zwinkerte ihr zu: „Wir verstehen uns großartig, sie ist ja auch Künstlerin – ich male Bilder mit Worten und sie malt Gedanken mit Papierschnitzeln und Tuchfetzen.“ Marie José schildert in einer sehr persönlichen Collagetechnik in abstraktem Stil Personen und Szenen aus Marcel Prousts À la recherche du temps perdu.
Mit Octavio Paz spricht man einfach nicht von Wetter und Wind. Sofort entspinnt sich ein lebhafter Dialog, in dem es um wesentliche Dinge geht. Ehe er noch ins Börsenhaus, den Sitz der Schwedischen Akademie, eintritt, sieht er sich um und vergleicht den Baustil des Gebäudes mit dem benachbarten Schloß und den Silhouetten der ein paar Jahrhunderte älteren Hansabauten am Hafenkai. Bei seinem Teebesuch bei Artur Lundkvist, dem Doyen der Akademie und eifrigsten Fürsprecher spanisch schreibender Autoren, denen er – wie Vincente, Neruda, García Márquez und Cela – zu den Nobellorbeeren verhalf, unterhielt man sich nicht nur über Gemeinsamkeiten der schwedischen und lateinamerikanischen Lyrik, sondern diskutierte auch die gefährdete Lebensqualität der von der Luftverschmutzung im Hexenkessel von Mexico City geplagten Menschen und die Gefahren der technischen Errungenschaften auf Kosten der Natur.
Wesentliches zu diesem, ihn persönlich stark engagierenden Thema wollte er auch in seiner kurzen Tischrede beim Nobelbankett aussagen. Für ihn geht es da nicht nur um einzelne Menschenschicksale, wie sie Romanautoren schildern, sondern um das Schicksal der Menschheit überhaupt. Bekanntlich stehen dem Tischredner nach dem präzisen Zeitplan nur drei Minuten zur Verfügung. Paz hob beschwichtigend seine breiten Hände, als er ans Mikrophon trat:

Schon gut, ich werde mich kurz fassen, aber da die Zeit nun einmal elastisch ist, müssen sie mir immerhin 180 lange, sehr lange Sekunden zuhören… Das Leben auf unserem Planeten ist in großer Gefahr. Unser gedankenloser Fortschrittskult und unser rücksichtsloser Kampf, um die Natur zu beherrschen und auszubeuten, ist ein selbstmörderischer Wettlauf geworden, im selben Augenblick, da wir die Geheimnisse der Galaxien und Atomkerne zu entschleiern beginnen, die Rätsel der Molekularbiologie und des Ursprungs des Lebens überhaupt, haben wir die Natur in ihrem innersten Wesen verwundet… Sterne, Wolken, Berge, Bäume, Vögel, Grillen, Menschen… wir sind uns endlich bewußt geworden, ein Teil des Netzwerks aller Systeme zu sein, und nur, wenn wir das Gefühl der Solidarität mit der Natur wieder aufleben lassen, können wir das Leben verteidigen. Es ist nicht unmöglich. Brüderlichkeit ist das Losungswort, das zur Tradition von Liberalismus und Sozialismus, Religion und Wissenschaft gehört… Die Philosophen der Antike sprachen vom Universum. Eine der ältesten Gesten, tagtäglich millionenfach wiederholt vom Anbeginn der Zeit, ist die, in den Sternenhimmel zu blicken, das große Wunder zu bestaunen und sich mit ihm vereint zu fühlen… Als ich unlängst in den wolkenlosen Himmel blickte, hörte ich den metallischen Ton einer schwirrenden Grille und glaubte da die eigenartige Kongruenz der Vibrationen des nächtlichen Firmaments und der Musik des winzigen Insektes zu vernehmen…

Gedankenvolle Stille folgte seinem Trinkspruch „zum Wohle Eurer Majestäten und des großen, edlen und friedensliebenden Volkes der Schweden“, ehe tosender Beifall ihm bestätigte, daß man ihn verstanden hatte. Ein tiefernster Einschlag im munteren Trubel des festlichen Abends. Als kurz danach die mit seinem Gefolge nach Stockholm gekommenen mariachis in bunter Nationaltracht und silberverbrämten mächtigen Sombreros mexikanische Rhythmen anschlugen, nahm er Marie José in seine Arme und verschwand mit ihr im Wirbel der tanzenden Gäste.
Nach außenhin schien es, als betrachte er die feierliche Preiszeremonie eher als ein alltägliches Ereignis, als kümmerte ihn all das Aufsehen im grellen Scheinwerferlicht gar nicht. Er saß gelassen auf dem Podium, blickte neugierig um sich. Einmal zwinkerte er seiner Frau im Parkett zu, als wollte er sagen: „Gar nicht so übel, all dieser Prunk, dieses Blumenmeer, die Diademe und Orden…“ Der erfahrene Diplomat bewahrte sein Pokerface. Als ihn aber ein Fernsehreporter später am Abend fragte, was er in diesem Augenblick spontan gefühlt habe, meinte er offenmütig: „Ich war tief bewegt, aber als ich da auf der Estrade saß, erwachte plötzlich das scheinbar verschwundene Kind in mir, es lockerte die Zügel meiner Phantasie. Ich sah ein Meer von lächelnden Gesichtern vor mir, da mußte ich auch lächeln…“
Beim Empfang im Festsaal der Akademie war er überrascht, in zwei Schaukästen die meisten seiner Bücher in der Originalsprache und auch in zahlreichen Übersetzungen neben vielen Fotos und Briefen zu finden. „Ich weiß kaum, ob ich so viele dieser Ausgaben zu Hause habe“, erklärte er und lachte laut auf, als er da auch ein Jugendbild entdeckte. „Da siehst du ja aus wie ein Golfspieler“, meinte Marie José. „Ach, ich wollte vermutlich smart aussehen“, lachte er, „aber woher die Leute all dieses Material haben?“ Die reiche Auswahl seiner Werke und Dokumente hatte Anders Ryberg besorgt, seit 1969 Chef der Nobelbibliothek, ein Feuergeist, der jeweils alles daransetzt, die kompletten Werke der als Kandidaten vorgeschlagenen Autoren zu bekommen. Mit ihren nahezu 200.000 Bänden in mehr als 30 Sprachen auf etwa 40 Regalkilometern ist diese Bibliothek die größte auf zeitgenössische Literatur spezialisierte Bücherei Nordeuropas. Eine Fundgrube für Literaturforscher aus aller Welt, die jeweils einen eigenen Schlüssel zum „Studienkeller“, dem Leseraum im ehemaligen Weinkeller, bekommen, um dort in aller Ruhe Tag und Nacht studieren zu können. Hier finden sie auch die Wörterbücher, Enzyklopädien und etwa 150 internationale Literaturzeitschriften.
Die wichtigste Aufgabe dieser Bibliothek ist es, den Mitgliedern der Akademie und des Nobelausschusses eine möglichst vollständige Auswahl der Werke der jeweils aktuellen Nobelpreiskandidaten mit Übersetzungen und Kommentaren von Experten vorzulegen und sie über die wichtigsten Neuerscheinungen zu informieren. Jedes Jahr werden rund 2000 neue Bücher erworben. Hier werden auch die jedes Jahr eintreffenden Vorschläge der Literaturwissenschaftler überall in der Welt (etwa 500 Briefe mit 100 bis 150 Namen) aufbewahrt, unter denen der Nobelausschuß, dessen Sekretär Anders Ryberg ist, die drei oder vier interessantesten auswählt.
Paz hatte in dieser Woche ein umfangreiches Programm zu absolvieren, nahm sich überall Zeit für alle Fragesteller und fühlte sich in der Gesellschaft von Kollegen, Professoren, Würdenträgern, Studenten und Kindern gleichermaßen zu Hause. Am wohlsten schien ihm bei den Stockholmer Studenten zu sein. Er unterhielt sich angeregt beim Lunch in der Mensa und parierte elegant die herausfordernden Fragen der ihn kritisierenden linksradikalen Akademiker. „Dialog ist unerhört wichtig“, stellte er fest und definierte seinen moralischen und politischen Standpunkt. „Sonst benahm er sich bei offiziellen Anlässen sehr zurückhaltend“, erklärte sein ihm vom Auswärtigen Amt zugeteilter Attaché, Botschafter Peter Landelius, Lateinamerikaexperte und Übersetzer spanischer Autoren. „Im intimen Kreis aber blüht er auf und debattiert ebenso geistvoll und faszinierend wie in seinen Essays.“
Nach der Aufführung seines Dramas Beatrice – Rappaccinis Tochter, die das Königlich Dramatische Theater zeitgerecht zum Nobelfest vorbereitet hatte, unterhielt er sich lange mit den Schauspielern über viele Aspekte des modernen Theaters und die Zusammenhänge zwischen Drama und Poesie.
Sehr lebhaft konversierte er auch mit seinen Tischdamen beim Bankett im Stadthaus, der Prinzessin Christina und der Gattin des Ministerpräsidenten Ingvar Carlsson, und besonders beim Galadiner im Königsschloß mit der perfekt Spanisch sprechenden Königin Silvia. Nach dem Besuch in Uppsala, wo man in der berühmten Bibliothek Carolina Rediviva zwischen Reliquien schwedischer und internationaler Literatur auch eine Ausstellung seiner Werke arrangiert hatte und er im alten Schloß mit allen übrigen Preisträgern zum Mittagessen eingeladen war, fühlte er sich plötzlich müde. Er lehnte alle weiteren Einladungen höflich ab. „Auf Wiedersehen – vielleicht im nächsten Jahr“, sagte er seinen Gastgebern, die ja alle 180 heute lebenden Preisträger zur Feier des 90. Jubiläums der Nobelstiftung eingeladen haben. 1901 wurden die Nobelpreise zum erstenmal verliehen. Wilhelm Conrad Röntgen erhielt den ersten Preis für Physik, der in Berlin wirkende Holländer Jacobus Henricus van’t Hoff den Preis für Chemie, der Mediziner Emil Adolf von Behring wurde für seine Serumtherapie geehrt und Sully Prudhomme war der erste Literaturpreisträger. Jean Henry Dunant, der Gründer des Internationalen Roten Kreuzes, erhielt in Oslo gemeinsam mit Frédéric Passy, dem Präsidenten der Société française pour l’arbitrage entre les nations, den Friedenspreis. Das Jubiläum wird im Globen, dem neuesten Wahrzeichen am Stockholmer Horizont, mit Platz für die 6000 erwarteten Gäste stattfinden. Und die Preissumme wurde auf Skr 6 Millionen erhöht.
Octavio Paz war mit seinem Scheck über Skr 4 Millionen durchaus zufrieden. Mit all den Tantiemen, Vortragshonoraren, Preisen und Stipendien hat er mehr als genug, um gut zu leben. Er klagte nicht, wie die meisten seiner Vorgänger, über unbezahlte Steuerschulden. Auf die übliche Frage, was er nun mit den Nobelmillionen anfangen werde, antwortete der eifrige Kunstsammler mit einem Achselzucken: „I don’t know. Vielleicht kaufe ich mir ein schönes Bild. Aber bei den jetzigen Preisen, vielleicht nur ein halbes… Geld ist für mich nicht so wichtig. Dieser Preis ist eine Herausforderung und kein Paß für die Unsterblichkeit. Er gibt mir die Verantwortung für einen erweiterten Leserkreis zu schreiben.“
Schreiben ist seine Leidenschaft. In jeder freien Minute macht er Notizen, Wie er seinem schwedischen Übersetzer Anders Cullhed in einem Gespräch über seine Kindheitserinnerungen anvertraute, begann für ihn diese „Kleine Geschichte“ schon vor 66 Jahren. „Knapp zehn Jahre alt schrieb ich mein erstes Gedicht. Ich war unerhört glücklich, als hätte ich ein Spielzeug konstruiert. Es reimte nämlich, also funktionierte es…“
In den in fast allen seinen Werken weiterlebenden Erinnerungen an den idyllischen Garten in seinem kleinen Heimatdorf Mixcoac, das nach dem atztekischen Gott des Sternenhimmels, der Milchstraße und auch des Krieges benannt ist, hatte er damals ahnungslos seinen Pegasus bestiegen, der ihn nun auf den Olymp der internationalen Geistesaristokratie gebracht hat. So viele Leute schreiben Gedichte in der Kinderstube und später auch. Aber es gibt eben nur einen einzigen Nobelpreis in jedem Jahr.

E. Michael Salzer

Verleihungsrede

anläßlich der feierlichen Überreichung des Nobelpreises für Literatur 1990

Ihre Majestät, Ihre Königliche Hoheiten, meine Damen und Herren!
Wenn der Nobelpreis für Literatur in der Folge zum zweitenmal einem Autor der spanischsprechenden Welt zuerkannt wird, dann ist dies ein Zeichen ihrer außerordentlichen literarischen Lebenskraft und ihres Reichtums in unserer Zeit. Doch in erster Linie wenden wir uns an einen ihrer brillantesten Vertreter: an den mexikanischen Dichter und Essayisten Octavio Paz. Die Begründung des Preises zeigt an, was vielleicht in unmittelbarster Form sein Werk auszeichnet: seine Leidenschaft und seine Integrität. Wir finden sie vereint in den energischen Worten non serviam – die Weigerung zu dienen −, die dieser Dichter in mehrfachem Sinn ausspricht. Einerseits wirft er sein Nein gegen die utopische, allmächtige Gesellschaft der Linken, andererseits richtet sich sein Protest gegen einen Kapitalismus ohne Ethik und ohne Kultur. Aber ebenso wahrt er seine Integrität in bezug auf sein Erbe, welches für diesen großen Humanisten so lebendig ist – denn nur in der Auseinandersetzung mit der Tradition kann der Dichter einen authentischen Dialog mit der Vergangenheit führen.
Paz’ bekanntestes Nein ist indessen seine Demission als Gesandter seines Landes in New Delhi als Protest gegen das Massaker gegen demonstrierende Studenten auf dem Platz von Tlatelolco im Jahre 1968. Doch dies ist, in seinen Augen, der Ausdruck einer Aggression gegen eine gefahrvolle Vergangenheit, die in unserer Mitte weiterlebt. Entfernte Epochen und Umgebungen existieren hier und jetzt. Die Gegenwart von indischen und japanischen Erfahrungen ist ebenso natürlich wie die des aztekischen Kalenders. Mexikos große Dichterin des 17. Jahrhunderts ist in diesem Sinne eine Zeitgenossin: in Sor Juana Inés de la Cruz erkennt Paz nicht nur das Besondere des mexikanischen Charakters, sondern ebenso die Intellektuellen unseres Jahrhunderts, die sich, unter dem Druck einer totalitären Inquisition, in ihre eigenen Verfolger verwandeln.
Das Überraschende ist, wie sich diese großen Konfigurationen von Zeit und Raum in wenigen Worten verdichten. Paz ist, wie Carlos Fuentes sagt, ein Meister in der Kunst des Schweißens, und mitten in einem Regen von Funken einen seine Paradoxe die verschiedensten Formen des Seins. Ein zentrales Konzept ist „der ewige Augenblick“ – das geläufige Szenarium der Poesie von Paz. In seinem wundervollen Gedicht „Piedra de sol“ aus dem Jahre 1957 finden wir ein Jetzt in Flammen, worin „alle Namen ein einziger Name sind / alle Gesichter ein einziges Gesicht / alle Zeiten ein einziger Augenblick“. Es ist, sagt er uns, „ein Augenblick, gemeißelt gegen den Traum“ – und er erinnert uns an die frühen Impulse des Surrealismus, der gerade verschiedene Zeiten, Umgebungen und Identitäten in einem einzigen Hier und Jetzt und Ich vereinte, diktiert von der Logik der Träume. Aber Paz ist auch einer der großen Dichter der Liebe in spanischer Sprache, und im Zentrum seiner Dichtung ist es weniger der Traum als die sinnliche Verbindung, die alle Verschiedenheit besiegt, so daß, „zwei, taumelnd umschlungen, niederfallen ins Gras: der Himmel kommt herab… nichts als Licht ist der Luftraum“ und „wir verlieren unsere Namen, lassen uns treiben zwischen Grün und Bläue“ in „eine erfüllte Zeit“ („Piedra de sol“). Auch in seinem letzten Gedichtband, Arbol adentro, gelingt es der Liebe auszulöschen, was uns begrenzt: sie öffnet „die verbotene Tür“ und „trägt uns an die andere Seite der Zeit“.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Verbindung von Denken und Sinnlichkeit. Sie ist eines der großen Themen der modernen Poesie. T.S. Eliot knüpft hier an die englischen Dichter des 17. Jahrhunderts an, „die ihr Denken (noch) so plötzlich wahrnehmen konnten wie den Duft einer Rose“. In ähnlicher Form schöpft Octavio Paz Kraft aus der präkolumbischen Poesie seines Landes auf seiner Suche nach der „sinnlichen Intelligenz“, wie sie in der Begründung des Preises genannt wird. „Am Ende wird die Intelligenz Fleisch“, sagt er in einem Gedicht von 1948. Aufs genaueste Denken und Sinnlichkeit vereinend, gelingt es Paz, seinen ständigen Überlegungen zur Poesie eine unmittelbare Sprache zu geben, sei es, daß er sich zur Aufgabe macht, die Welt zu „entziffern“, ihr einen Namen zu geben und sie damit sichtbar zu machen, sei es, daß er selbst sich aIs Leser „belauscht“ fühlt vom „Gezischel“ im „Laubwerk der Buchstaben“ (Pasado en claro). Auf diese Weise kann er der unangenehmen Bedrohlichkeit der Zeit Gestalt geben und ebenso der Liebe die notwendige Kraft, sie zu besiegen.

Lieber Octavio Paz,
es war mir erlaubt, Ihr literarisches Werk in wenigen Minuten vorzustellen. Dies ist, als ob man versuchte, einen ganzen Kontinent mit Gewalt in eine Nußschale einzupferchen. Ein Unterfangen, für das die Sprache der Kritik nur ärmlich dotiert ist. Es ist jedoch gerade das, was Ihnen so oft in Gedichten gelang: sie zeugen von unwahrscheinlicher Dichte.
Ich freue mich, die herzlichen Glückwünsche der Schwedischen Akademie einem so bedeutenden Dichter überbringen zu dürfen, und bitte Sie, den diesjährigen Nobelpreis für Literatur aus den Händen Seiner Majestät des Königs in Empfang zu nehmen.

Kjell Espmark, 10.12.1990

 

Erster Kreis Werden des Dichters – 1914–1943

2. Dichterische Leidenschaft und soziales Engagement

In den beiden vorangegangenen Generationen von Intellektuellen in seiner Familie, die ihm ihr Erbe vermachten, gab es nicht allein bildungsbeflissene oder schöpferische Köpfe: seine Vorfahren zeigten außerdem tatkräftiges soziales Engagement. Vielleicht ist es deshalb gar nicht verwunderlich, wenn Octavio Paz bereits auf der Sekundarschule ein feines Gespür für die sozialen Probleme Mexikos bewies und sich an der damaligen Studentenbewegung beteiligte. Von einem katalanischen Mitschüler, José Bosch, dem Sohn eines alten Aktivisten der Iberischen Anarchistischen Föderation (FAI), wurde er an den Anarchismus herangeführt. Die beiden Jugendlichen tauschten ihren Lesestoff: Bosch bekam Romane und Lyrik, Paz verschlang Kropotkin, Proudhon, Reclus und Ferrer. Kurz darauf versuchten die beiden, ihre Mitschüler der Escuela Secundaria Número Tres zu einem Streik aufzurufen. „Der Direktor“, so erzählte Paz später, „rief die Polizei, die Schule wurde für zwei Tage geschlossen, und wir wurden aufs Revier in eine Zelle geschafft. Zwei Nächte haben wir im Arrest verbracht.“
1931 kam er auf die Escuela Nacional Preparatoria, die im Gebäude des ehemaligen Colegio de San Ildefonso untergebracht war, das im 17. Jahrhundert den Jesuiten gehörte und das seinem fast vier Jahrzehnte später geschriebenen, bedeutenden Gedicht „Nachtstück von San Ildefonso“ („ Nocturno de San Ildefonso“), der Anrufung Mexikos, wie er es um 1931 erlebte, den Namen gibt. Darin macht er die Intensität jener Epoche spürbar und kritisiert das soziale Engagement mit seinem zunehmenden Hang zur Gewalt, der die gemeinsamen Ideale der damaligen Oberschüler prägte.

Der junge Bursche, der durch dieses Gedicht geht,
zwischen San Ildefonso und dem Zócalo,
ist der Mann, der dies schreibt:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadiese Seite
ist auch ein Gang durch die Nacht.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaHier werden Gestalt
die Freundesgespenster,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Ideen zerstreuen sich.
Das Gute, wir wollten das Gute:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Welt ins Lot bringen.
Es fehlte uns nicht an geradem Sinn:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauns fehlte die Demut.
Was wir wollten, wollten wir nicht mit Unschuld.
Rezepte und Konzepte:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaHochmut von Theologen:
Dreinschlagen mit dem Kreuz,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaGrund legen mit Blut,
das Haus errichten mit Verbrechensziegeln,
die Zwangskommunion dekretieren. (…)

Zwar blieb sein leidenschaftliches gesellschaftliches und politisches Engagement weiterhin lebhaft und kämpferisch, doch seine dichterische Leidenschaft reifte auf anderen, bisweilen parallel verlaufenden, bisweilen entgegengesetzten Bahnen. Während der Jahre auf dieser Oberschule lernte er die bedeutendsten Dichter der älteren Generation persönlich kennen und machte sich mit der Lyrik ihrer Zeit vertraut. Carlos Pellicer, José Gorostiza und der Philosoph des „Mexikanischen“, Samuel Ramos, waren seine Lehrmeister. Damals lernte er Jorge Cuesta und Xavier Villaurrutia kennen, die ihn ihrerseits schätzten. Gerardo Diegos berühmte Anthologie erschloß ihm die spanische Lyrik in ihrer ganzen Tiefe, so wie Jorge Cuestas Anthologie dies für die mexikanische Lyrik tat.
Zu jener Zeit gründete und leitete er zusammen mit Salvador Toscano, José Alvarado, Rafael López Malo und Arnulfo Martínez Lavalle seine erste Zeitschrift, Barandal (1931–1932), in der sie die literarische Avantgarde des 20. Jahrhunderts für ihre Generation entdeckten. Dort wird Paz’ erster Essay veröffentlicht, „Ètica del artista“ (Ethik des Künstlers), eine Reflexion über die Bedeutung der Kunst als historisches Zeugnis. Mit denselben Leuten gab er später seine zweite Zeitschrift heraus, Cuadernos del Valle de Méxiko (1933–1934), die insofern von Bedeutung ist, als dort erstmals eindeutiger die Notwendigkeit formuliert wurde, über das hinauszugehen, was sie „poesía pura“ nannten. Gleichwohl veröffentlichte Paz damals eine Art von Lyrik, die seine Zeitgenossen mit dem Begriff „intimistisch“ abqualifizierten. Und in seiner ersten Gedichtsammlung, Luna silvestre (Wildwachsender Mond, 1933), findet sich nicht die geringste Anspielung auf Politik oder Geschichte.
Im Jahre 1934 kommt Rafael Alberti nach Mexiko. „Es war das erste Mal“, so erzählt Octavio Paz, „daß ich einen Poeten seine Gedichte öffentlich vortragen hörte, und ich war hingerissen. Alberti war damals schon Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens und, soviel ich weiß, auf einer Propagandareise durch Amerika. Er hielt mehrere Vorträge und las seine Gedichte vor. Die Vorträge fand ich nicht so bemerkenswert, aber die Lesungen seiner Gedichte waren beeindruckend. Für mich war es eine große Offenbarung. Nach seinen öffentlichen Auftritten trafen wir uns manchmal mit ihm in einer Bierstube und redeten bis drei oder vier Uhr morgens, ganz wie in Spanien. Einmal las ihm jeder von uns, die wir ihn umringten, seine eigenen Gedichte vor. Unglaublich, wie aufgeschlossen Alberti sich verhielt. Wir alle waren schließlich links, aber von da an verspürte ich ein gewisses Unbehagen, was die politische Lyrik betraf und die Literatur, die sich später ,engagiert‘ nannte. Zu jener Zeit schrieb Alberti politische Lyrik. Es war die Zeit von Consignas, diesem Bändchen, in dem er die Behauptung aufgestellt hatte, die Dichtung müsse im Dienst der Kommunistischen Partei stehen.“ Als Alberti die Gedichte jenes zwanzigjährigen Jungen las, wies er sofort darauf hin, daß dies keine gesellschaftlich-politische Dichtung sei, doch den „revolutionären“ Wert seines Versuchs, die Sprache zu wandeln, erkannte er an.
1937, mit dreiundzwanzig Jahren, beschloß er, das Haus der Familie, das Studium an der Juristischen Fakultät und die Stadt Mexiko zu verlassen. Fast vier Monate verbrachte er im Südosten des Landes, in Yucatán, wo er mit ein paar Freunden eine neue fortschrittliche Arbeiterschule gründete, so wie Jahre zuvor bereits einmal in Mexiko-Stadt, als er Mitglied einer ,Studentische Union für Arbeiter und Bauern‘ genannten Organisation war, die in der Stadt Abendschulen eröffnete, deren Unterricht sich alsbald in politische Versammlungen verwandelte.
Im Mai 1937 veröffentlicht er, von Merida aus, seine „Reisenotizen“ in der hauptstädtischen Zeitung El Nacional. Darin sind seine poetischen Eindrücke von der Stadt und ihren Einwohnern verquickt mit seinem sozialen Bewußtsein, das alles gefärbt von einer guten Dosis Utopie. Die starke Präsenz des Indianischen in Yucatán berührt den Dichter, desgleichen die Streiks und Versammlungen der Arbeiter und Campesinos in Mérida, die der vom Land zurückeroberten Stadt, so der junge Autor, „Würde verleihen, ihr wahres Gesicht zeigen“. Und immer wieder spürt er den sinnlichen Puls der Stadt, ihre erotische Dimension:

Des Abends keucht die Stadt; Mädchen plaudern auf den Balkons und in den Türen, ihre Stimmen sind wie ein tiefer Fluß, dunkle Ahnung des Wassers. Bisweilen seufzt leise ein Wetterhahn. In einer stillen Straße erhebt sich ein poltern von Eisen und Stein, und ein durchdringender Geruch nach Pferdelippen und verschwitzten Gliedern weht heran: eine Kalesche fährt vorbei. Um diese Zeit liegt, trotz der Brise, die das nahe Meer herantreibt, etwas Beklemmendes in der Luft, das bedrückt und berückt; eine verborgene, verschlossene Sexualität ist zu erspüren, gehemmt, mit Grimm verheimlicht und in Fesseln.

Der Autor fordert die Bewahrung der Kraft des Maya-Elements auf der Halbinsel. Er geißelt den Imperialismus, die Latifundisten und den Kastengeist. Schließlich entdeckt er in Yucatán ein Symbol des Lebens und des Todes: die Agave.

Wie in jeder kapitalistischen Herrschaft verwirklicht sich hier, daß der Mensch vom Tod des Menschen lebt. Nachts erwacht man zuweilen in Trümmern und Blut. Die Agave, unsichtbar und alltäglich, geleitet das Erwachen.

Es war die Epoche der populistischen Regierung von Präsident Lázaro Cárdenas, der Landreform und der großen Massenmobilisierung. Unter dem Eindruck des Elends der Maya-Campesinos auf den Agavenfeldern schrieb Paz die erste Fassung seines Gedichts „Entre la piedra y la flor“ (Zwischen Stein und Blüte). Darin versucht er, den Gegensatz zwischen dem einfachen, von Riten gelenkten Leben jener Campesinos und dem abstrakten, weltumspannenden System des Geldes aufzuzeigen, das sie in ihrer Existenz bedroht, ohne daß sie es überhaupt ahnen. Was der Dichter zwischen Stein und Blüte entdeckt, zwischen der Kargheit jenes Landstrichs und der erstaunlichen Blüte der Agave, ist der Mensch. Wie ein steter Regen auf den Stein ist der Mensch und sein Schaffen.
Vor allem aber findet Paz, schon in der ersten Fassung, auch einen geglückten, eindringlichen Ausdruck für das neu erschaffene Leben, für eine tiefere Wahrheit, die über jede politische Aussage hinaus Bestand hat. Vom Autor selbst nach mehreren Fassungen als relativ mißlungener, zumindest unbefriedigender Versuch angesehen, legt dieses Gedicht immerhin ein klares Zeugnis darüber ab, was Octavio Paz in jenen Jahren unter anderem auf der Dichterseele lag; gewiß, sicher nicht vorrangig. „Entre la piedra y la flor“ war jedenfalls nicht so offensichtlich ein „sozialkritisches“ Gedicht wie ein anderes, das Octavio Paz 1936 in bezug auf den spanischen Bürgerkrieg veröffentlichte: „¡No pasarán!“, bestimmt von einer Rhetorik, die sein Autor später in Bausch und Bogen verwerfen sollte. Der Verkaufserlös des Gedichts ging an die Spanische Volksfront in Mexiko.
Wie dem auch sei, die beiden Gedichte stehen in klarem Gegensatz zu denen, die Octavio Paz in seine ersten beiden Sammlungen aufnahm, Luna silvestre (Wildwachsender Mond, 1933) und Raíz del hombre (Wurzel des Menschen, 1937). Im ersten Band erkennt man den Versuch, intellektuelle Strenge und Lyrisches miteinander zu vereinen. In beiden sind Liebe und Erotik von vorrangiger Bedeutung, der große Strom, der sich, beginnend mit diesen Bänden, durch das gesamte dichterische Werk von Octavio Paz zieht.
Im Laufe der Zeit bekannte sich der Autor nicht mehr zu den sieben Gedichten aus seinem Band Luna silvestre, und so verschwanden sie aus den Sammlungen. Doch in einem Gedicht, dem fünften des Bändchens, findet sich bereits im Keim die Leidenschaft, der seine Dichtung von nun an immer wieder nachspürt: die Wörter als dem Begehren Entströmendes, als Brücke zwischen den Körpern, als machtvolle Anrufung der Geliebten.

Aus dem Schweigen klingen
deine Wörter noch hervor;
unter Zweigen stürzen deine Wörter hin
wie träges, reifes Licht.
Meine Arme umschließen den vollkommenen Kreis,
die Leere, angefüllt mit der Erinnerung,
die mir das Fehlen deines Körpers hinterläßt.

So bist du, ungreifbar, stets bei mir,
schemenhaft, verschwommenes Bild aus Kindertagen.

Luna silvestre, noch unter dem Namen Octavio Paz Lozano veröffentlicht, stieß in der Presse auf keinerlei Echo. Dies änderte sich jedoch bei seinen folgenden Büchern. Unter dem Pseudonym Marcial Rojas besprach Bernardo Ortiz de Montellano erstmals Octavio Paz’ Lyrik. In einem „Rhetorik und Dichtung“ betitelten Beitrag (veröffentlicht in der Halbmonatsschrift Letras de México, Nr. 1, 15. Januar 1937) führt er, ohne den Namen des jungen Dichters zu erwähnen, seine letzte sozialkritische Dichtung an und argumentiert, dies sei keine Lyrik. Aber während „¡No pasarán!“ als eine überaus rhetorische, linke Arbeit eingeschätzt wurde, erkannte man in Raíz del hombre das Werk, das man von einem jungen, hochtalentierten Dichter erwartete. Der Kritiker und Dichter Jorge Cuesta war der erste, der sich anläßlich dieses Buches über Octavio Paz äußerte (Letras de Mexico, Nr. 2, 1. Februar 1937):

Was Octavio Paz in seiner Jugendlichkeit auszeichnet, ist die Entschlossenheit und die Willenskraft, mit der er es fertigbringt, sein Innerstes der Gefräßigkeit eines Gegenstandes auszusetzen. (…) Ich erwartete von ihm ein Buch wie Raiz del hombre, dessen Poesie seine Berufung bestätigt. Nun bin ich sicher, daß Octavio Paz eine Zukunft hat. Er wird sich nicht mehr davor schützen können, es herausgefordert und uns kundgetan zu haben. (…) Unverwechselbar sind die Stimmen von López Velarde, Carlos Pellicer, Xavier Villaurrutia oder Pablo Neruda, die in Paz’ Gedichten widerklingen (…); und die Tatsache, daß Octavio Paz sie aufnimmt, hat den Vorzug, sie der sichersten und wertvollsten Zukunft anheimzugeben, die man ihnen bieten kann.

Jorge Cuestas treffende Anmerkung führte dazu, daß Octavio Paz unter seiner und Villaurrutias Patenschaft in den berühmten Kreis um die Zeitschrift Contemporáneos eingeführt wurde, anläßlich eines Essens, bei dem unter anderem darüber gesprochen wurde, was man als Widerspruch zwischen seinen politischen Vorstellungen und seiner Dichtung ansah.
Im selben Jahr, während seines Aufenthaltes in Yucatán, einem Bundesstaat mit bedeutenden archäologischen Fundstätten, entdeckte er den Reichtum der prähispanischen Vergangenheit Mexikos und liebäugelte vorübergehend damit, Archäologe zu werden. Diese Faszination – Liebe, Schrecken, leidenschaftliche Neugier – für das alte Mexiko sollte später ein grundlegender Wesenszug seines lyrischen und essayistischen Œuvres sein. Seine späteren Arbeiten über das prähispanische Mexiko, insbesondere dessen Kunst, erwiesen sich sogar als wesentlicher Beitrag für die Fachwelt. „Die Kunst Mexikos hat mich verzaubert“, sagte er einmal in einem Interview, „Manchmal scheint sie mir eine schreckliche Kunst zu sein, und manchmal auch eine Kunst, die mir die Tür zu einer anderen Wirklichkeit aufstößt. Sie ist eine andere Dimension unseres Bewußtseins.“

Alberto Ruy Sánchez, aus Alberto Ray Sánchez: Octavio Paz. Leben und Werk, Suhrkamp Verlag, 1991

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Octavio Paz

Der Magistrat der Stadt Frankfurt a.M. und der Suhrkamp Verlag ehren den Dichter Octavio Paz am 27.9.1992 im Kaisersaal des Römers.
Lesungen und Reden: Octavio Paz, Ulla Berkéwicz, Elisabeth Borchers, Eva Demski, Friederike Roth, Ralf Rothmann, Andreas von Schoeler, Siegfried Unseld, Rudolf Wittkopf

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Bernhard Widder: Belesenheit und Fantasie
Wiener Zeitung, 28.3.2014

Peter Mohr: Romantiker in diplomatischen Diensten
titel-kulturmagazin.net, 31.3.2014

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Octavio Paz – Porträt, Gespräch und Lesung Teil 1/2.

 

Octavio Paz – Porträt, Gespräch und Lesung Teil 2/2.

 

Octavio Paz – Filmporträt nach seinem Tod.

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