Christoph Buchwald & Karl Mickel (Hrsg.): Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1990/91

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christoph Buchwald & Karl Mickel (Hrsg.): Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1990/91

Buchwald & Mickel (Hrsg.)-Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1990/91

COLEOPTERA

Der Glöckner Harry Martinsons
Läutet den Weltuntergang ein,
Indem er seinen Wiesen ausstirbt. In Polen
Zieht Zbignew Herbert seinen Hut
Vor einem Käfer, der DER FÜR NATURKUNDE war,
ERSCHLAGEN VON DEN STROLCHEN
FÜR GESCHICHTE. Pablo Neruda trauert
Um den CHIASOGNATHUS GRANTI STEPHANI,
BIZARRES, IN HARTE JADE GEKLEIDETES
aaaaaUNTIER,
Mit den geopfterten Wäldern dahingegangen,
Und führt ihn nur noch im SCHÖPFUNGSPLAN auf.
Vicente Aleixandre der Spanier weiß
Mit filigransten Fühlern zu sprechen
Aus einem Käferschicksal selbst heraus.

Niemand aber war beim Sturz
Einer uralten Eiche dabei,
Spürte schon stockende Jahrhundertadern
Aufbrechen. Allein die Hirschkäfer
Wissen die eichenen Quellen zu deuten:
Starr vor traurigster Trunkenheit alle,
Beben im Blut sie der Aorten
Solch wahrhaft Gestürzter.

Mit erhobenen Zangen
Harrn sie der Stürze und Blitze.
Aussterbend sind sie vermögend,
Das All aufzugabeln und zu vergehn
In jeder seichten Schonung.

Wilhelm Bartsch

 

 

 

Abspann:

Das jährliche Nachwort soll nicht zum Ritual werden. Gibt es Jahr für Jahr etwas zur Erhellung der Gegenwartslyrik zu sagen? Wir fanden diesmal: dieses Jahrbuch fragt zuerst nach dem Kommentar der Leserinnen und Leser, und es hält ihnen eine Wurst hin, die gut abgehangen ist (S. 59ff.).

Christoph Buchwald, Nachwort, 1990

 

Über dieses Buch:

Das siebte Jahrbuch der Lyrik hat – nach Elke Erb 1986 – als Mitherausgeber wieder einen Lyriker aus der DDR: Karl Mickel. Das ist keine Verbeugung vor „Deutschland-einig-Vaterland“, sondern Ausdruck einer Praxis, die in dieser sich von Jahr zu Jahr fortschreibenden Anthologie der Gegenwartslyrik Tradition hat: einen umfassenden Überblick über die deutschsprachige Poesie zu geben. Der Band enthält u.a.:

− eine Vielzahl neuer Namen,
− das Kapitel „Quartett“ als eine Art Sonderausstellung,
− im Kapitel „Blick zum Nachbarn“ neueste Gedichte aus der Volksrepublik China, ausgewählt und übersetzt von Wolfgang Kubin,
− eine kleine Anthologie, „Grab, Grimm und Trost“, mit Gedichten „alter Meister“, zusammengestellt von Karl Mickel
− und eine Biobibliographie der abgedruckten Autorinnen und Autoren.

Und wenn Blättern, Vergleichen und genaue Lektüre manche Leser von dem Ausruf „Das kann ich auch!“ abhält – um so besser.

Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 1990

 

 

Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa

Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr

Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009

Fakten und Vermutungen zum Jahrbuch der Lyrik

 

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Nachrufe auf Karl Mickel: Berliner Zeitung ✝ FR ✝  der Freitag ✝
Der Tagesspiegel ✝ Die Zeit ✝ FAZ ✝ ndl ✝ NZZ ✝ Ostragehege ✝︎

Konrad Franke: Der souveräne Weltanschauer
Süddeutsche Zeitung, 23.6.2000

Ijoma Mangold: Forderung nach Leichtigkeit und Höhe
Badische Zeitung, 24.6.2000

Zum 10. Todestag von Karl Mickel:

Thomas J. Richter & Heike Friauf: Eine Frage – Zum 10. Todestag des großen deutschen Dichters Karl Mickel
Die Linke, Juni 2010

Zum 80. Geburtstag von Karl Mickel:

Stefan Amzoll: Was ist das, ein Mensch?
neues deutschland, 12.8.2015

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Mickel“.

1 Antwort : Christoph Buchwald & Karl Mickel (Hrsg.): Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1990/91”

  1. Redaktion sagt:

    Selbstvorstellung
    Anläßlich der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

    Wäre es nach mir gegangen, ich stünde womöglich jetzt auch hier, aber doch nicht als Dichter. Ich war 17 und wünschte Artillerie-Offizier zu werden; ich wollte die schmerzliche Lücke schließen helfen, die der Tod des Genossen Stalin soeben gerissen gehabt hatte. Meine Bewerbung ward abgeschlagen. Ich hätte 12 Tage früher geboren worden sein müssen. Nach dem 17. Juni waren die Vorschriften eine Zeitlang buchstäblich befolgt worden. So blieb ich Herr meiner selbst und entschloß mich zum Studium der Volkswirtschaftsplanung. Im Sozialismus gelte das Wertgesetz: hatte Stalin entschieden. Die autoritative Beilegung des unter den Theoretikern schwelenden Streites wurde allseits enthusiastisch begrüßt, nur, was das Wertgesetz sei? – das konnte aus meinem Umkreis niemand mir sagen. Ich erhoffte, das Studium werde diesbezüglich mich belehren; die Hoffnung erfüllte sich im ersten Semester. Zugleich aber ward mir ein Glaubensakt abverlangt. Die Sozialistische Ökonomie werde von einem „Gesetz der planmäßigen (proportionalen) Entwicklung der Volkswirtschaft“ objektiv geleitet: das sollte ich frei heraus bekennen. Es ist unmöglich, einen auch nur hypothetischen Begriffsinhalt des terminologischen Monsters zu artikulieren. Jeder Versuch endet tautologisch. Wenn in der volkswirtschaftlichen Binnenstruktur nicht bestimmt Proportionen strikt gewahrt werden, dann ist das volkswirtschaftliche Ganze in sich disproportioniert. Weniger intelligente Exegeten versicherten ernsthaft, infolge planerischer Weisheit walte die intendierte Harmonie tatsächlich. Es müsse nur die Produktion von Produktionsgütern allzeit schneller wachsen denn die Produktion von Konsumgütern. Das sind groteske Vorstellungen, aber, bevor Sie sich der Heiterkeit hingeben, erwägen Sie bitte, daß von Herder der Eid auf die Concordien-Formel hartnäckig verlangt worden war. Warum den Zeitgenossen ankreiden, was wir den verblichenen Konsistorien nachsehen! die historisch bedingte Narrheit.
    In dieser Umgebung erschien mir Hans Mottek. Stotternd vor Gedankenfülle las er Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Er stellte den Geschichtsprozeß als Streit changierender Tendenzen dar und, statt letztinstanzliche Wahrheiten zu predigen, konfrontierte er öffentlich kontroverse Ansichten. Das entrüstete viele. Ein Kommilitone erhob sich und forderte: „Erzählen Sie uns einfach, wie es wirklich gewesen ist.“ Was ich gewollt hatte, ohne es zu wissen, nun wußte ich es. Das wird mein Fach. „Es ist gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“ Mottek durfte keinen Studenten mehr ausbilden. Er empfahl mich an Jürgen Kuczynski. Ich saß zu Füßen von Heinrich Otto Meisner. Ich fand heraus, daß die Schuhmacher-Gewerkschaft 10 Jahre früher gegründet worden war als bisher angenommen. 1989, auf dem Empfang für Präsident Mitterand, sagte mir Kuczynski, er hätte mich ’58 zum Assistenten haben wollen. Ich hatte jedoch die Concordien-Formel noch immer nicht unterschrieben gehabt, und den sog. kleinen Wissenschaftsdisziplinen waren die Planstellen gekürzt worden. Der zuständige Staatssekretär war Wilhelm Girnus gewesen, später Chefredakteur der Zeitschrift Sinn & Form. Ich saß ihm als ein klassizistischer Dichter gegenüber und machte ihn für meine Verse verantwortlich. Die Verskunst hatte nie und nimmer mein Hauptgeschäft werden sollen. Wenn es nötig ist, schreibt ein gebildeter Mann Verse; selbstverständlich beherrscht er das. So hatten es Michelangelo gehalten und Christian Ewald von Kleist; die vielbelächelte Bitterfelder Konferenz, ebendies hatte sie proklamiert. Die Bildung war zugemutet: Jedem. Ulbricht verkörperte unterschiedliche Rollen. Eine davon hieß: Der Oberlehrer auf dem Thron; da blickte er drein wie Emil Jannings im Blauen Engel.
    Noch einmal wäre ich fast auf die Bahn eingeschwenkt, die zu durchlaufen mein Wunsch und Wille gewesen war. Ich wurde 30 Jahre und alle Türen gingen vor mir zu. Bei Hans Mottek war eine Assistentenstelle vakant, und er setzte durch, daß ich sie erhielt. Am Donnerstag unterschrieb ich den Arbeitsvertrag, und am Montagmorgen, 8 Uhr, leitete ich das erste Seminar. Die Zentraleuropäische Agrarstruktur im X. Jh. Woche für Woche unterrichtete ich 11 Seminargruppen zu je 30 Studenten je 2 Stunden lang Über die gleiche historische Periode. An Motteks Institut arbeiteten zu meiner Zeit Dr. Baar, Dr. Becker, Dr. Schröter, Walter Wilberg. Lothar Baar und Walter Becker leben noch. Während der Instituts-Sitzungen blieb unsere Türe von innen verschlossen. In der Mensa, am Nebentisch, sah ich Den und Den, die soeben gehässige Artikel und Leserbriefe gegen mich hatten drucken lassen. Die hatten auch das Gerücht in Umlauf gesetzt, wir alle seien Schwiegersöhne des Professors. Das Institut wurde 1990 abgewickelt, d.h. abgeschafft. Der Gebrauch des unklaren Worts verrät ja häufig ein Schamgefühl, das sich zu verbergen trachtet, ein verschämtes Schamgefühl also. Ich war in vorzügliche Gesellschaft geraten und war nicht ungern der letzte am Tische. Ich wußte, daß ich ein guter Dichter war und ein guter Historiker werden würde. „Wer im Archiv sitzt“, hatte Heinrich Otto Meisner gesagt, „der sieht etwas mehr von der Welt.“ Ich besitze ein schäbiges Zettelchen, auf dem Hans Mottek mitgeteilt wird, eine Aspirantur für mich käme nicht in Frage, die Promotion sei unerwünscht. Eines grauen Vormittags rief Ille Rustler an und sagte, Helene Weigel wolle mich sprechen. Mottek ließ mich ziehen, mitten im Semester, die Kollegen übernahmen meine Unterrichte. Zu den geschlossenen Instituts-Sitzungen blieb ich eingeladen; einige Semester ging ich noch hin. Ich war 35 Jahre alt; mein Lebensplan war endgültig gescheitert, aber nicht so, daß ich ihm hätte nachtrauern müssen. Als 60jähriger las ich Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, und mir schwante, welchem Ideal ich in der anderen Existenz auf den Fersen geblieben wäre.

    Karl Mickel 1998, aus: Michael Assmann (Hrsg.): Wie sie sich selber sehen. Antrittsreden der Mitglieder vor dem Kollegium der Deutschen Akademie, Wallstein Verlag, 1999.

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