15. Dezember

Wie ein gewaltiger grauer Block gefrorener Gallerte liegt … hängt der Nebel über der Senke zwischen Envy und Premier. Das Thermometer vor meinem Küchenfenster steht exakt bei Null Grad, und überhaupt scheint alles bei Null stehen geblieben zu sein, auch der Wind macht Halt, nichts – soweit ich’s übersehen kann – regt sich, kein noch so feiner Zweig, kein noch so niedriges Tier, der Rauch über den Kaminen steht senkrecht über den Dächern – eine ungleiche Reihe kleiner, durchscheinender, vorm grauen Grund kaum wahrnehmbarer Wolkensäulen. – Die postsowjetische Philosophie hat sich, nachdem das jahrzehntelange Diktat des Marxismus-Leninismus obsolet geworden ist, im Wesentlichen auf die Übernahme westlicher Vorgaben und den Rückgriff auf das eigene verschüttete Erbe beschränkt. Wohl wurden dadurch punktuell neue Wertsetzungen vorgenommen (klare Präferenz etwa für Oswald Spengler, Carl Schmitt, Ernst Jünger oder C. G. Jung gegenüber Adorno, Lukács, Sartre, Ernst Bloch), doch eigenständige impulsgebende Neuansätze sind kaum auszumachen. Nun legt der Moskauer Philosoph und Politologe Aleksandr Dugin, bekannt als Verfasser von zwei Dutzend wissenschaftlichen Monografien wie auch als Wortführer einer patriotisch geprägten »neoeurasischen« Bewegung, eine fünfhundert Seiten starke Schrift vor, die als Manifest für eine radikale Erneuerung des russischen philosophischen Denkens gelten kann. Das mit zahlreichen Diagrammen und einem Literaturverzeichnis im Umfang von rund eintausend Titeln ausgestattete Werk ist in mancher Hinsicht bemerkenswert. Ein paar erste Lesenotizen zu einer geplanten Besprechung will ich hier provisorisch festhalten. Auffallend ist zunächst die Tatsache, dass ein nationalistisch gesinnter Autor wie Dugin, der für Russland eine eigenständige, dabei völlig »neue« Philosophie fordert, sich eine solche Philosophie allein nach dem Vorbild und unter der geistigen Führung Martin Heideggers vorstellen kann. ›Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie‹ – so betitelt er denn auch sein unlängst erschienenes Buch, das mit einem kritischen Rückblick auf die Eigenart, die Evolution und die Errungenschaften russischen Denkens seit 1800 beginnt, um im Anschluss daran die Philosophie Heideggers apologetisch vorzuführen und zuletzt aufzuzeigen, wodurch und wie sie für Russland einen »zweiten«, einen »andern« Anfang ermöglichen könnte. In einem ersten Schritt bietet der Autor eine staunenswerte – ebenso sachkundige wie selbstkritische – Bestandsaufnahme der russischen philosophischen Kultur, staunenswert allein schon deshalb, weil hier ein konservativer Nationalist zu einem Rundumschlag ausholt, den sich wohl kein noch so progressiver »Westler« erlauben würde. Dugins Fazit besteht nämlich ohne Wenn und Aber darin, dass der bisherige Ertrag russischen Denkens null und nichtig sei – lediglich ein hybrider Ableger (nach Oswald Spengler eine »Pseudomorphose«) abendländischer Schulphilosophie, untermischt mit mythischen Vorstellungen, Esoterik und Folklore, insgesamt ein unbekömmliches, unreines, unbrauchbares Gedankengemenge, dem es an Konsistenz ebenso mangele wie an Eigenständigkeit. Die prekäre Besonderheit russischer Philosophie beschränke sich eben darauf, nicht eigenständig, nicht konsistent, vielmehr durch und durch uneigentlich, also eine Fälschung zu sein. Als Produkt dieser Fälschung, an der Philosophen aller Denkrichtungen willfährig mitgearbeitet hätten, stellt Dugin die von ihm so genannte »Archäomoderne« heraus, eine bipolare geistesgeschichtliche Konstellation, die das russische Denken seit jeher schwer behindert, aber auch in die Irre geführt, wenn nicht gar »verdummt« habe. Dugin scheut sich nicht, gerade Russlands einflussreichste philosophische Autoren – allen voran Wladimir Solowjow – einer spezifischen »Dummheit« zu bezichtigen, von der im Übrigen auch die meisten der jüngst wiederentdeckten und heute hochgeschätzten Denker der vorrevolutionären Moderne geschlagen gewesen seien. Was sich hier wie ein vernichtendes Pauschalverdikt ausnimmt, erweist sich jedoch als ein verkapptes Lob solcher Dummheit – idiotisches, absurdes, chaotisches Denken ist nämlich, so Dugin, bei all seiner argumentativen und konzeptuellen Schwäche ein produktives Möglichkeitsdenken, das Spekulation und Offenbarung, Wissen und Glauben gleichermaßen zu integrieren vermag und auch für Widerspruch und Widersinn offen bleibt; nicht Systembildung, vielmehr Sinnbildung ist das Ziel dieses Denkens: Lebensphilosophie und Lebenshilfe in einem. Von daher vermag er seine Kritik dann doch noch ein wenig zu relativieren, etwa mit Hinweis auf die russische Sophiologie als Verbindung von Weisheit und Weiblichkeit (in der Nachfolge Wladimir Solowjows), auf den Neobyzantinismus (Konstantin Leontjew) oder auf Ansätze zu einer Synthetisierung von Philosophie und christlicher Orthodoxie (bei Sergij Bulgakow, Pawel Florenskij). Was für Dugin nunmehr ansteht, ist die kompromisslose Demontage der russischen »Archäomoderne«, will heißen: die definitive Überwindung der »abendländischen« Schulphilosophie, die Erschließung östlicher Weisheitslehren, die Synthetisierung euroasiatischer Denkformen – all dies aber nicht in Form einer neuen Systembildung, vielmehr als Ermöglichung einer »chaotischen« philosophischen Gemengelage, die zugleich Aufruhr und Dauerzustand sein soll, nämlich eine »authentische« Lebensphilosophie in permanenter Revolte. In Martin Heidegger erkennt Dugin den weltweit einzigen Präzeptor, aus dessen Denken sich eine derartige Philosophie entwickeln ließe, eine Philosophie mithin, die der russischen Mentalität und Religiosität, dem russischen Natur-, Geschichts- und Selbstverständnis, aber auch den heutigen geistigen Bedürfnissen und Möglichkeiten des Russentums optimal zu entsprechen vermöchte. Zwei Gründe für dieses erstaunliche Ansinnen werden namhaft gemacht [bricht ab]

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