Und … aber liesse man das Rätsel Rätsel sein?!

Als Anfang 2018 eine Agenturmeldung durch die Presse und durchs Internet ging, wonach „das Rätsel des Voynich-Manuskripts“ vermittels künstlicher Intelligenz „endlich gelöst“ worden sei, erschienen dazu innert Kürze zahlreiche Postings mit unterschiedlichsten Leserkommentaren. Dass eine mittelalterliche Handschrift heute bei einem breiten Laienpublikum kontroverses Interesse findet, ist bemerkenswert. Teilweise dürfte dieses Interesse auf die nach wie vor populären Kloster- und Archivkrimis zurückzuführen sein, die seit Umberto Ecos Grossroman Der Name der Rose zu einem eigenen, inzwischen weltweit praktizierten Erzählgenre geworden ist; teilweise aber auch darauf, dass sich durch Sicherheitslücken und Datendiebstahl weithin die Notwendigkeit ergibt, Nachrichten, Namen, Kennwörter sorgfältig zu kodieren, um Übergriffe von Hackern zu verhindern oder wenigstens zu erschweren.
Im Fall des sogenannten „Voynich-Manuskripts“, das als singuläres Meisterwerk hochmittelalterlicher Schreib- und Illuminationskunst gilt, kommt hinzu, dass dessen Textcorpus und Bildprogramm trotz weltweiter Forschungsbemühungen bislang nicht haben erschlossen werden können. Es bleibt ein Buch mit sieben Siegeln, obwohl in jüngster Zeit ein paar minimale Fortschritte bei der Dekodierung des Manuskripts zu verzeichnen sind, eines Codex wohlverstanden, der bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden ist und der als hermetisches Text-Bild-Werk unzählige Entzifferungs- und Deutungsversuche provoziert hat, ohne dass die „Siegel“ des Buchs hätten gebrochen werden können. Selbst hochgebildete Vorbesitzer wie Kaiser Rudolf II. in Prag oder der Universalgelehrte Athanasius Kircher in Rom vermochten über Inhalt und Bedeutung keine Klarheit zu gewinnen. Nicht einmal der Name des Autors, auch nicht der Titel des Werks haben sich im Lauf eines halben Jahrtausends ermitteln lassen.
Seine Bezeichnung erhielt das Skript von dem polnischen Antiquar Wilfrid Voynich, der es 1912 legal aus den Beständen des Jesuitenkollegs in Rom erwarb und sich in der Folge jahrelang erfolglos um die Dechiffrierung bemühte. Die Unverständlichkeit des Texts wurde damals mit Wertlosigkeit gleichgesetzt, so dass das „Voynich-Manuskript“ für lange Zeit zu einem Ladenhüter wurde. Erst 1961 stellte sich in der Person des international tätigen Buchhändlers Hans P. Kraus ein Käufer ein, der aber für das Manuskript wiederum keinen Kunden fand und es deshalb 1969 der Yale University vermachte, wo es nun in der Beinecke Bibliothek als MS 408 aufbewahrt wird mit dem etwas holperigen offiziellen Vermerk, es handle sich um einen „berühmten Fall von Verschlüsselung, der nicht gelöst oder entziffert werden konnte“.
Auch nach der jüngsten Erfolgsmeldung kann nun keine Rede davon sein, dass das Geheimnis des 240 Seiten mit insgesamt zirka 170.000 Schriftzeichen umfassenden Konvoluts − „the world’s most important unsolved cipher“ − nun erhellt, seine Bedeutung etabliert sei. In Wirklichkeit hat der durch ein kanadisches Forschungsteam seit 2014 bewerkstelligte Einsatz künstlicher Intelligenz kein einziges mit Sicherheit belegbares Faktum erbracht (https://www.cs.ualberta.ca/kondrak/). Die ebenso komplexen wie weitläufigen Computeranalysen führten lediglich zu zwei neuen Vermutungen, dass nämlich der anagrammatisch verschlüsselte Schrifttext entweder eine semitische Sprache oder eine eigens geschaffene Kunstsprache zur Grundlage habe. Die Schrift selbst sei als eigenständige und einmalige Schöpfung des Verfassers beziehungsweise des Skriptors zu betrachten.
Die beiden Vermutungen sind computerlinguistisch aus der vergleichenden Analyse von 380 natürlichen Sprachen sowie von Esperanto mit 97%iger Sicherheit gewonnen worden, doch die hohe formale Präzision findet auf der Bedeutungsebene keinerlei Entsprechung: Nach wie vor lässt sich weder feststellen noch erschliessen, von wem, für wen und wozu denn überhaupt das Werk verfertigt wurde. Auch die vielen Bilder im Text geben darüber keine Auskunft, da sie durchweg fiktive Gegenstände und hybride Wesen vor Augen führen, zu denen es in der Wirklichkeit keine Entsprechung gibt. Davon ausgenommen sind einzig die vielen nackten Frauengestalten, welche den Codex leitmotivisch durchziehen, ohne dass ihnen eine plausible Bedeutung oder Funktion zugeordnet werden könnte.
Die Text-Bild-Gestaltung lässt erkennen, dass bei der Ausarbeitung des Codex zuerst die Illustrationen angefertigt und danach die Textpartien hinzugefügt wurden. Der chiffrierte Text, der bisweilen an die Form von Sprechblasen erinnert, wie man sie aus modernen Cartoons kennt, dürfte demnach als Bildkommentar oder Bildlegende gedient haben.
Fragt sich bloss, wozu verschlüsselte Erklärungen unerklärlicher Abbildungen gut sein sollten, wenn sie doch gleichzeitig jeglichem Verständnis entzogen werden. Es gibt zur Intention und Bedeutung des Skripts − statt der angestrebten Gewissheit − beliebig viele Mutmassungen, laienhafte wie professionelle, und diese reichen von einem katarischen Ketzerbrevier über ein pharmazeutisches Rezeptbuch bis hin zu einem Kur- und Hygieneprogramm für adelige Damen. Dass für den umfangreichen Codex ausschliesslich feines Pergament von Jungkälbern verwendet wurde, mithin ein besonders kostspieliger Schriftträger, unterstreicht jedenfalls den Wert, den das Manuskript für den Verfasser (oder einen allenfalls eingeweihten Auftraggeber?) gehabt haben muss.

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Das „Voynich-Manuskript“ ist jedoch nicht allein im Hinblick auf seine allfällige Dechiffrierung (und damit auch auf seinen geheimen Verwendungszweck) von Interesse, es bietet darüber hinaus ein höchst bemerkenswertes Beispiel dafür, dass Anonymität und Bedeutungsentzug weithin als irritierendes Lektüredefizit empfunden werden und dass man alles daran setzt, dieses Defizit zu beheben. Wo dies nicht gelingt, stellt sich Ernüchterung ein, und das Werk verliert unabwendbar an materiellem wie an künstlerischem Wert. Dass der Codex gerade wegen seiner Unverständlichkeit von Sammlern und Händlern seit jeher geringgeschätzt und schliesslich wegen Unverkäuflichkeit an eine öffentliche Institution verschenkt wurde, ist dafür ebenso charakteristisch wie die bekannte Tatsache, dass anonyme Kunst- und Literaturwerke, seien sie von noch so offenkundiger Qualität, heute vom Markt wie vom Kanon in aller Regel ausgeschlossen bleiben: Ungeklärte Autorschaft gilt in jedem Fall als Mangel und Makel, kann aber anderseits, wie beim „Voynich-Manuskript“, sowohl für ein breites Publikum als auch für die einschlägige Forschung zum Faszinosum werden. Dass sich inzwischen Hunderte von interessierten Laien via Internet und Dutzende von Experten in Büchern oder Fachzeitschriften zu dem alten Codex vernehmen lassen, ist dafür Beleg genug.
Doch die einschlägigen Debatten lassen manche Anschluss- und Grundsatzfragen ausser acht, vorab die Frage, was von einem Werk zu halten ist, das einzig von dem Autor verstanden werden kann, der es als Anonymus konzipiert, in einer Geheimsprache abgefasst und in einer für Aussenstehende unlesbaren Geheimschrift aufgezeichnet hat? Weshalb − und vor allem: wozu? − sollte ein Erbauungs-, Rezept- oder Lehrbuch, das doch im Normalfall auf einen bestimmten Nutzen und ein bestimmbares Zielpublikum angelegt ist, durch sorgfältigste Chiffrierung um seine Verbreitung und Wirkung gebracht werden?

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Womöglich lenkt ja gerade der enorme, dabei unergiebige Problemlösungsaufwand von sehr viel einfacheren, ganz pragmatischen Erklärungen ab. Einerseits könnte es sich bei dem verschlüsselten Codex um eine spielerische Fälschung ohne jeden tieferen Sinn handeln, entstanden aus der Lust am Jux und am intellektuellen Versteckspiel; anderseits um das Zeugnis einer geistigen Krankheit oder einer religiösen Verzückung.
Tatsächlich erinnert die Bild- und Textgestalt des „Voynich-Manuskripts“ stark an die exzessiven Schöpfungen schizophrener Künstler − Adolf Wölfli und die kunstschaffenden Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Maria Gugging bieten dazu höchst aufschlussreiches Vergleichsmaterial. Dieser pathologischen These stehen allerdings der grosse Umfang und die gestalterische Kohärenz des Werks ebenso entgegen wie die Verwendung teurer Kalbshäute und die souveräne Lockerheit der Pinsel- und Federführung.
Vorerst bleibt das „Voynich-Manuskript“ das weltweit bekannteste, zugleich rätselhafteste Meisterwerk des mittelalterlichen Hermetismus. Man wird es als solches weiterhin erforschen − vielleicht lässt es sich dereinst dechiffrieren, vielleicht auch nicht. In aller Regel werden Schrifttexte verschlüsselt, deren Grundsprache bekannt oder leicht zu eruieren ist. Ist diese Sprache, wie im vorliegenden Fall, unbekannt, kann auch kein Code gefunden, keine Decodierung des Texts bewerkstelligt werden.
Es könnte sich beim „Voynich-Manuskript“ durchaus um ein Dokument hermetischer Philosophie handeln, mit dem nichts andres dargetan wird als die grundsätzliche Unverständlichkeit und Unsagbarkeit der Welt, so wie es bei manchen mystisch oder esoterisch inspirierten Texten der Fall ist. Wenn Text und Bild keinen realistischen Weltbezug erkennen lassen, werden sie ihrerseits, wie irgendwelche Dinge sonst, zu einem Teil der realen Welt und sind somit, abgekoppelt von jeglicher fassbaren Bedeutung, nur einfach das, was sie sind. Dann sollte man sie wohl in ihrer Unverständlichkeit bestehen lassen und das Werk als bedeutungsfrei, mithin als „nichtssagend“ akzeptieren. Eben dieser hermetische Status ist es, der zu immer wieder neuer Sinnbildung anregt.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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