19. August

Gegen vier Uhr früh trommelt mich der Regen aus dem Traum. Das Trommeln und Scheppern auf dem Schindeldach des Gartenhauses wird verstärkt durch das Platschen des Wassers, das aus der verstopften Dachrinne schwappt und genau vor meinem Schlafzimmerfenster aufs Pflaster klatscht. Manchmal, in weiter Ferne, rollt ein dumpfer Donner dazwischen, ein klägliches Bellen und Heulen und … oder ein akuter Windstoß mengt sich ein. Wundersame Symphonie! Ich möchte schon gar nicht mehr einschlafen, möchte statt dessen lieber diesem grauen Rauschen lauschen. Doch nun dringt durch alle Ritzen ein Blitz mit seinem zackigen Licht herein, und gleich darauf bricht überm Haus der Donner auseinander. Erst gegen halb sechs schlafe ich wieder ein. – Mein Artikel über Boris Vildé in der NZZ hat mir ein paar aufmunternde Feedbacks eingebracht, und ich überlege nun doch, ob und wie ich mich für diesen singulären Autor, den in Deutschland niemand kennt, nützlich machen könnte. Am ehesten wohl durch die Übersetzung seines Tagebuchs aus dem Gefängnis der Wehrmacht in Paris. Übersetzen? Ich habe … ich hätte mit meinen eigenen literarischen Projekten genug zu tun und sollte meine Zeit und Energie vielleicht besser dafür einsetzen? Anderseits sind all die vergessenen Autoren, für die ich mich bisher als Vermittler und Kommentator engagiert habe, wie Kunstfiguren in mein Lebenswerk eingegangen … in mein Werk und mein Leben gleichermaßen – Alexander Meyer, Nicholas Bachtin, Alejandra Pizarnik, Nikolaj Jewreinow, Jean Tardieu, Benjamin Fondane und andere mehr gehören zu meinen bevorzugten »Wiederentdeckungen«, sind aber als solche auch zu Protagonisten meiner Einbildungskraft geworden. – Die Arbeit an meiner großen russischen Anthologie (recherchieren, übersetzen, kommentieren usf.) läuft seit zweieinhalb Jahren neben andern Beschäftigungen einher – sie hat den Vorzug, dass ich sie jederzeit unterbrechen, beliebig dosieren und auch jederzeit wieder aufnehmen kann, was beim Schreiben eigener Texte nicht möglich ist, da hier Kontinuität und Intensität gleichermaßen gefragt … gleichermaßen unabdingbar sind. Tausende von Gedichten aus der Zeit zwischen 1800 und 2000 hatte ich unter der Hand, rund einhundertfünfzig davon kann ich in die Anthologie übernehmen – ein anderer Herausgeber hätte sicherlich eine andere Auswahl getroffen. Konzept und Bestand meiner Sammlung ermöglichen einen völlig neuen Zugang zur russischen Versdichtung: Ich biete nicht die übliche »Blütenlese« mit den stets wiederkehrenden besten Gedichten, sondern versuche mit meiner Auslese darzutun, was für die unterschiedlichen Personal- und Epochenstile thematisch wie formal kennzeichnend ist. Dafür wähle ich von möglichst zahlreichen Autoren jeweils nur ein einziges Gedicht, darunter auch Texte mittlerer und minderer Qualität, die aber beispielhaft für eine bestimmte historische Phase … für eine bestimmte literarische Schule oder Tendenz stehen können. All diese Texte, all diese Autoren werden mir allein dadurch, dass ich sie übersetze und übersetze, sehr vertraut … vertraut auch dann, wenn sie fremd bleiben; vertraut deshalb, weil sie … weil jeder einzelne von ihnen künstlerische Möglichkeiten realisiert oder verfehlt, die auch ich irgendwann schon mal verfehlt oder realisiert habe. Von daher ist es sicherlich berechtigt, dass ich diese »Anthologie des einen Gedichts« unter meinem Namen herausbringe – ein Buch, als wär’s von mir. – Viele starke, äußerst detailreiche Träume in diesen Nächten, leider das Meiste vergessen; stellt sich die Frage – was geschieht mit den vergessenen Träumen? Wohin verlagern sie sich? Wie … wo wirken sie fort? Manchmal denke ich … oft überlege ich angesichts meiner literarischen Sachen, ob vergessene Träume nicht vielleicht in diesen Texten … in Gedichten, in Prosa sich ausleben, indem ich sie unbewusst fortschreibe?

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