2. Januar

Mit Simon Morris beim Chinesen im Bahnhof Enge zum Essen, äußerst scharfe Gerichte, etwas zu fett, die Saucen zu schwer. Im Kontrast dazu die eigenartig sterile Atmosphäre, puppenhaftes Personal, proper, prompt und völlig emotionslos. Alles ist auf formale Perfektion angelegt. Kaum Gäste, nur zwei, drei Tische sind besetzt mit leise gestikulierenden Geschäftsleuten, die über ihre eleganten Dolmetscherinnen wohl irgendwelche Deals aushandeln. Trotz aufmerksamer Bedienung fühlen wir uns dann doch als eigentlich unerbetene Klientel. Den Nachtisch (ein übersüßtes flambiertes Gericht auf Ingwerbasis) nehmen wir in Hut und Mantel zu uns; die Heizung ist ausgefallen. Auf den Flachbildschirmen agiert ohne Ton der Volkskongress. – Habe verschlafen, bin vollgeträumt, aber ohne konkrete Erinnerung an das Geträumte. Fühle mich erholt, bin hellhörig und neugierig wie im Aufwachraum; betaste mich, um zu ergründen, was man bei mir operiert oder amputiert hat. Ich bin völlig in Ordnung und doch irgendwie unvollständig. Zeit, den Spiegel aufzusuchen. Mit wem werde ich mich diesmal verwechseln? – Habe mich heute früh – nach Jahren erstmals wieder – in ›Letzte Liebe‹ festgelesen, da steht alles drin … da steht vieles von mir und über die Welt drin. Erklärungen, Zusätze erübrigen sich. Ein starkes Buch. Ein Buch, das noch immer zu haben, zu lesen, doch völlig vergessen ist. Ein bestes Buch. Dass ich es einst geschrieben habe, ist unerheblich. Das Geschriebene selbst ist das Erhebliche, hat sich längst abgelöst, überragt mich bei weitem. – Ich verprasse Traum um Traum, nachmittags, nachts; es sind große epische Träume, ganz anders eingerichtet und ausgeleuchtet als die sogenannte Wirklichkeit und doch viel wirklicher als sie. Oft lese oder höre ich im Traum einzelne Wörter, Sätze, sehe Sprechblasen über öffentlichen Gebäuden (Parlamenten, Krematorien, Kathedralen), kann sie nicht deuten, lasse sie unverstanden an den Stangen baumeln, bis sie, viel später, verenden. Doch was besagt das alles? Was will man eigentlich von mir? Wozu soviel Luft, soviel Raum? – Erica Pedretti? Doch. Ja. Die Ericanerin aus dem böhmischen Dorf! So? Die Fürstin Sternenhoch doch! Dann lass mich, statt schon wieder in den Därmen, in Gestirnen lesen! – In eben diesen Tagen geht, bei reißender Kälte, anhaltender Regen nieder. Anhaltender Regen ist, die Sprache will es so, Regen, der nicht anhält … der keinen Halt macht. Dieses unablässige, stets gleichbleibende Strömen und Rauschen hat etwas zutiefst Beruhigendes und kann dennoch anregend wirken. Dass solcher Regen auf alles gleichermaßen niedergeht und dabei nichts und niemanden privilegiert oder benachteiligt oder gar unberührt lässt, macht ihn, so unspektakulär und eintönig wie er ist, tatsächlich zu einer Himmelsgabe, zu etwas von dem ganz Wenigen, das unterschiedslos für alle zur Verfügung steht und das nicht abgegolten, nicht abgelehnt, nicht zurückgegeben, nur angenommen werden kann. – Ich komme zu Edmond Jabès zu Besuch in einer unauffälligen Provinzstadt, Sarlat oder Uzès, habe nebst eigenen Texten meine Übersetzung von ›Récit‹ und ›Écrit‹ mitgebracht, zu der ich ein paar Detailfragen hätte. Ein freundlicher alter Herr mit Schildmütze – aber ist das wirklich der Dichter Jabès? – begrüßt mich … führt mich in den Garten, der sich hinter dem schmalen Stadthaus als ebenso schmaler Erdstreifen mit einer einzigen Reihe von Rebstöcken bis zum Horizont erstreckt. Bis zum Meer hinauf … bis zum Himmel hinab. »Ich höre«, sagt der Reb, nachdem wir die Laubhütte erreicht, uns auf der Bank niedergelassen haben. »Ich höre!«, wiederholt er mit unausweichlicher Bestimmtheit. Ich fühle mich dadurch zum Vorlesen aufgefordert, sehe aber beim Öffnen der Mappe sofort, dass ich die falschen Papiere bei mir habe. Da ich mir keinerlei Texte auswendig merken kann, schon gar nicht einen eigenen, entschließe ich mich kurzerhand, die Lesung aus dem Stand zu improvisieren und mir dabei irgendeinen der irrtümlich eingepackten Ausdrucke zum Schein vors Gesicht zu halten. Doch womit beginnen? Und wie sollte ich nun frei sprechen und … aber gleichzeitig so tun, als würde ich einen Text vom Blatt lesen? »Ich höre!«, mahnt Jabès schon wieder, und diesmal klingt es wie eine Drohung. Mir bleibt nun doch nichts anderes übrig, als das vorzulesen, was ich gedruckt vor mir habe. Was ich gedruckt vor mir habe, ist die Gebrauchsanleitung für mein neues Navigationsgerät.

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