27. Januar

Besuch in der Ausstellung »Russland 1900« auf der Darmstädter Mathildenhöhe. Die Materialauswahl aus den Bereichen Malerei, Design, Theater, Architektur ist enttäuschend eng, aufdringlich didaktisch kuratiert, für mich ohne jede Überraschung. Aufgrund des opulenten Katalogs hatte ich mir deutlich mehr erhofft. Allerdings strömt viel Publikum herbei, vor der Kasse steht man lange an, in den Kojen herrscht Gedränge. Ich hätte mir den Durchgang ersparen können, dies umso mehr, als mein geschwollener und schmerzender Sprungfuß mich noch immer unangenehm behindert. Anschließend treffe ich Oswald Egger in der Stadt, ich humple an seiner Seite durch die Fußgängerzone, erst nach längerer Zeit findet sich ein Ort zum Verweilen und Reden. Am frühen Abend verabschieden wir uns am Bahnhof; um Mitternacht bin ich zurück in Zürich. Habe unterwegs von René Girard den ›Satan‹ gelesen, von Michail Bachtin das Buch über ›Autor und Held‹, das ich für die FAZ besprechen soll. – Nach raschem Einschlafen wache ich schon nach einer dreiviertel Stunde aus diesem Traum auf: Bin auf einem Spaziergang in waldigem Gelände, stoße bald auf eine kleine Siedlung von Holzbauten unterschiedlicher Art, vielleicht ein Pfadfinderlager oder eine verlassene Jagdstation. Die Baracken erweisen sich aber beim Nähertreten als luxuriöse Bungalows, die von außen zwar wie Abrissbuden aussehen, im Innern aber höchsten Komfort bieten. Gleich um die Ecke befindet sich, vom Wald dicht umstanden, ein riesiges Wohngebäude aus der Gründerzeit oder auch aus den 1930er Jahren, exklusiv für Kaderprominenz aus Sofia bestimmt. Ich stelle mein Gepäck neben mir ab, geh hinüber zum Kiosk, um Zigaretten zu kaufen. In der wackligen Wellblechkabine kauert ein alter Mann, bietet Schnüre, Sicherheitsnadeln, Tampons, Zwirnspulen, Augenbinden, Lumpen aller Art an, beginnt in dem Gerümpel sofort auch nach Zigaretten zu suchen, derweil meine Straßenbahn heranrollt und ich es schon nicht mehr zurück über die Gleise schaffe. Muss also auf den nächsten Kurs warten, komme mit drei muntern jungen Frauen ins Gespräch. Die eine von ihnen zeigt mir ein zerschlissenes Reclamheft mit verdrecktem kodakgelbem Umschlag. »Kleine Sachen von Bunin«, sagt sie: »Aber ganz groß!« Heinz Szadrowsky, mein Buchhändler und Lektüreberater aus der frühen Basler Studienzeit, steht schweigend dabei; er nickt und meint damit offensichtlich: »Nein!« – Bin gegen zwei Uhr früh wieder eingeschlafen; es kamen weitere, härtere Träume, keinen hab ich behalten, aber ich ahne sie alle – als lägen sie in der Zukunft. – Pro Jahr zwei Bücher und mindestens ein Literaturpreis – auf diesem eindrücklichen Niveau hält sich seit geraumer Zeit die literarische Performance der heute 87jährigen Friederike Mayröcker, die mithin, ihrem hohen Alter zum Trotz, jedem noch so patenten »Fräuleinwunder« Paroli bieten kann. Neu liegt nun (nach den beiden Lyrikbänden von 2009 und den ›Fusznoten‹ von 2010) ein Prosabuch vor, das schon durch seine Titelei – ›vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannswahnsinn‹ – eher als ein poetisches denn ein erzählerisches Werk ausgewiesen ist. Die Autorin schließt mit diesem Text explizit an ihre früheren dichterischen Nachrufe auf Ernst Jandl an, verschränkt hier nun aber die eigene Klage um den verstorbenen Geliebten mit Clara Schumanns Notaten zum ebenso tragischen wie peinlichen Ableben ihres Mannes Robert. Von Künstlertum, von Krankheit, Einsamkeit, Wahnsinn und Geschlechtlichkeit ist hier wie dort die Rede, aber auch – romantisch intoniert – von Wehmut, Innigkeit, Seelenweisheit und einer Überfülle von Tränen, die in ungebremstem, spontan sich ergießendem Schreibfluss ihre literarische Entsprechung finden, aufschäumend (gewissermaßen) zwischen den »Schluchten der Sprache« und dem »Schluchzen der Sprache«, sich fügend schließlich zu einem vielstimmigen Redeschwall, der Erinnertes, Gelesenes, Assoziiertes, Erträumtes, Gefürchtetes, auch Alltägliches unterschiedslos in sich aufnimmt. Friederike Mayröckers Fließtext ist durchsetzt mit einer Vielzahl von Eigennamen, die ihn als zeiträumliche Koordinaten – von Johann Sebastian Bach über Angelika Kaufmann und Franz Liszt bis hin zu Francis Ponge und Ferdinand Schmatz – unaufdringlich historisieren. Oft verweisen die Namen (darunter auch Derrida, Genet, Beckett) auf Textvorlagen, die die Autorin in diskret plagiatorischer Weise für sich vereinnahmt und aus denen sie mancherlei Versatzstücke in ihren eigenen Schreibfluss eingeschmolzen hat. Hin und wieder frage ich mich, welche spezifische Qualität der Mayröckerschen Grafomanie zuzuschreiben ist, frage mich auch, was aus ihrer laufenden Produktion würde … wie und ob ihre Produktion auch dann weithin publiziert und vorwiegend freundlich besprochen würde, wenn sie unter unbekanntem Namen oder gar anonym an ihren Verlag gelangte.

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