Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Schwieriger Aufstieg (zum Verstehen)

Schwieriger Aufstieg (zum Verstehen)

Ich erinnere mich – aus jugendlicher Frühzeit – an einen Ausflug mit meinem Vater über die Schweizer Grenze zum Tüllinger Hügel in Deutschland. Dort sollte unter freiem Himmel ein Theaterstück aufgeführt werden, fussend auf einer Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel, gespielt von Schülern aus der näheren Umgebung.
Es war meine erste Bergbesteigung und auch meine erste Theatererfahrung.
Der Weg zum Spielort kam mir endlos vor, den Aufstieg empfand ich als besonders mühsam, bei der Ankunft auf dem Hügel war ich frustriert und ohne jede positive Erwartung.
Die nachfolgende Aufführung war grossartig, für mich eine echte Premiere. Da traten Kinder – wohl etwas älter als ich – in Rollen von Erwachsenen auf, trugen altertümliche Kostüme, redeten in altertümlicher Sprache und durften, darüber hinaus, ungeniert Gläser und Teller am Boden zerschmettern.
Alles Theater!
Für mich nicht nur ein unvergessliches Erlebnis (nämlich: Theater als eine mögliche Welt tatsächlich erlebt zu haben), sondern auch die Einsicht, dass der mühselige Weg naturgemäss die Aufmerksamkeit und die Wertschätzung für das Ziel erhöht.
(Eine Einsicht übrigens, die auch für die Lektüre Geltung hat: Je schwieriger der Zugang zu einem Text – also etwa das Verstehen eines Gedichts – ist, desto ergiebiger wird die Anstrengung mit Sinn belohnt.
Das Faszinosum des Hermetismus!
Wie schon um 1622 der niederländische Sprachkünstler Constantijn Huygens ex negativo konstatierte: «Ohne Anstrengung ist die Poesie bloss eine fade Angelegenheit, die auch den Dümmsten gefallen kann.»)

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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