Hubert Witt (Hrsg.): Die nicht erloschenen Wörter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hubert Witt (Hrsg.): Die nicht erloschenen Wörter

Witt (Hrsg.)-Die nicht erloschenen Wörter

DIE riesige Scheibe des Himmels, das maßlos
aaaaagemaserte Mattglas,
Wurde bestürzend von deiner Wehmut gestreift.
Gib dem Verlangen nicht nach, sinnlos ermüdeter
aaaaaAtlas,
Dem langsam verlöschenden Zeichen nicht, an dem
aaaaadie Bezauberung greift.

Die Handbewegung vergiß, die Geste fernhin zu Wäldern,
Wo sich von Baum zu Baum das Belangvolle schwingt.
Die unerleuchtete Landschaft von Fährnis und Feuermeldern
Darfst du bewohnen, bitter und unbedingt.

Bitter und unbedingt steht deines Leibes Kegel
Zwischen die Gegenstände der Deutung gezwängt.
Verhöhnt von den altüberkommenen Torsi der Totenvögel,
Vom staubigen Netz der Norne, das deinen Fuß umfängt.

Verblichene Falter, verwichene Junischwärmer
Liegen zwischen die knöchernen Reste früherer Absicht verstreut.
Williger wurde der Tag, willig das Hirn und ärmer
Seine vergorene Form, seine Wahrscheinlichkeit.

Daß noch die Nächte geschehn, kündet dir Unbekanntes,
Daß noch die Monde atmen, ist ein Beweis.
Stütze die riesige Scheibe des Himmels. Dein neuer Cervantes
Schreitet voran im warnenden Duft des Salbeis.

Werner Riegel

 

 

 

Nachwort

„Die nicht erloschenen Wörter“ – das meint nicht Ewigkeitswerte, Erbauung und museale Dauer. Selbst die älteren der hier versammelten Dichtergenerationen verbanden damit einen rebellischen Impuls: „Das Feuer ballend in den nackten Händen…“, „Ein Wort flammt auf…“, „Gegen die Dunkelheit der Welt“, hieß es bei Werner Bergengruen, Reinhold Schneider, Oda Schaefer. „Ich bin im Licht, das auf die Mitte des Dickichts fällt“, so beschreibt Wolfgang Weyrauch den Vorgang des Dichtens. „Ein feurig Gedicht“, heißt es bei Günter Eich. „Meine Behausung / am Platz für öffentliche Unordnung / ist der brennende Zirkus“, so Günter Bruno Fuchs. „duck dich nicht weg / schlag funken“, fordert Christian Geissler seine Leser. Peter Härtling beschwört „das körperliche Licht / erfahrener Zukunft“. „Da war ein Feuer in ihm, das sie nicht löschen konnten“, beginnt Peter Maiwald sein Gedicht auf den sowjetischen General Karbyschew, der in einem deutschen Konzentrationslager ermordet wurde. Das sind nur einige der Licht- und Feuermetaphern, die sich in den Texten dieses Bandes finden, um Poesie mit aufklärerischen, humanitären, aufrührerischen Assoziationen zu verbinden. In dem Gedicht Jürgen Theobaldys, das dieser Sammlung den Namen lieh, heißt es über die Hinterlassenschaft des tödlich verunglückten Dichters Brinkmann:

dieses Arsenal von Wörtern, Wortfelder,
Trümmerplätze von Wörtern, zersprengte
Waffenlager, Wortalpträume
gegen den täglichen Alptraum,
,Wortidyllen‘, denen er
die Haut abzog…

Bei allen Unterschieden, ja Gegensätzen der hier versammelten Dichter zeigen sie Gemeinsamkeiten. Diese Gedichte, selbst wo sie von konservativen Autoren stammen, verstehen sich nicht als Apologie des nach 1945 in Westdeutschland, Westberlin und der BRD herrschenden Gesellschaftssystems. Hymnik, Panegyrik kommen allenfalls in ironischen Brechungen vor. Noch die Naturidyllen, mythologischen Exklaven und phantastischen Gegenwelten, die Frei- und Spielräume außerhalb der Gesellschaft entwerfen, signalisieren den kritischen Vorbehalt, die Distanz zum Bestehenden. Das emanzipatorische Potential zeigt sich allerdings bei den einzelnen Dichtern in sehr unterschiedlicher Intensität. Und die Gemeinsamkeiten schließen Polarisierungen zwischen den Autoren nicht aus.
Die vorliegende Anthologie setzt bei der Gegenwart ein, wo viele Sammlungen enden, und blickt von hier zurück zu den Anfängen der westdeutschen Nachkriegslyrik. Wenn so die Chronologie der Generationen auf den Kopf gestellt wird, geschieht das, um an Historizität zu gewinnen. Unterschiedliche Momente sind daran beteiligt. Schon die eintretende Verfremdung stellt – nach einem Diktum Brechts – einen Akt der Historisierung dar. Statt zu mitgehendem Nachvollzug wird zu gegenläufiger Lektüre eingeladen. Und es wird auf die Suggestion verzichtet, es sei aus einer imaginären Vogelperspektive eine Art maßstabgerechter Verkleinerung des realen Literaturprozesses modelliert worden. Der Herausgeber konnte und wollte nicht verbergen; daß er, sichtend und auswählend, von literarischen Erfahrungen der sechziger, siebziger und beginnenden achtziger Jahre beeinflußt war, und ermöglicht dem Leser, das Material aus dem gleichen Blickwinkel zu betrachten.
Ein weiterer Vorteil des Umkehrverfahrens ist es, daß die Gedichte weniger an den Absichtserklärungen und Theorien ihrer Autoren gemessen als von ihrer Wirkungsgeschichte her anvisiert werden. Dichterpoetiken und poetische Praxis sind selten kongruent, oft genug stehen sie komplementär zueinander. Beispielsweise hatten die hier aufgenommenen Gedichte Benns schon zur Zeit ihrer Entstehung recht wenig mit den gleichzeitigen Poetik-Theorien des Autors zu schaffen, nach denen sie oft beurteilt wurden. Von ihren Nachwirkungen her betrachtet, werden sie zu Vorläufern moderner Alltags- und Porträtgedichte.
Der entscheidende Grund aber, weshalb in dieser Anthologie die jüngste Autorin das erste und der früheste Autor das letzte Wort haben, liegt in der Besonderheit westdeutscher Lyrikentwicklung: sie beginnt mit Poeten, deren biographische und literarische Entwicklungskurve sich dem Ende entgegenneigt; die bereits vor dem ersten Weltkrieg ihre literarische Prägung erfuhren, soeben die Jahre der Nazidiktatur überstanden hatten und den Anforderungen einer Zeitenwende, die radikale Abrechnungen mit dem Faschismus und Neuorientierungen gebraucht hätte, recht hilflos gegenüberstanden. Vor der Barbarei hatten sie sich in Naturidyllen, humanistisch-klassizistische, mythologische, religiöse Refugien zurückgezogen. Zu keiner entscheidenden Wandlung mehr fähig, setzen sie weiterhin auf politische Abstinenz und Zeitlosigkeit. Die Frage nach der eigenen Schuld wird nur verhalten gestellt. Bekundungen der Ohnmacht, der Klage und Ratlosigkeit gehören zu den überzeugendsten Texten. Die eigene Spätlage und die Trümmersituation nach 1945 ergeben manchmal seltsame Endzeitstimmungen; aber es überwiegen die lyrischen Entwürfe heiler Kleinwelten. Die wenigen Proben, die aus solchen Materialien gewählt wurden, zeigen nicht die Regel, sondern die Ausnahme; belegen Bewältigungsversuche und zugleich deren Unangemessenheit. Neu entstandene gesellschaftliche Probleme wurden erst mit erheblichen Verspätungen reflektiert und poetisch aufgearbeitet.
Die Lyrik der um 1945 Geborenen, mit der die Anthologie einsetzt, bildet in mehrfacher Hinsicht den Gegenpol zu den Gedichten der ältesten Autoren: politisiert, problemzugewandt, geschichtsbewußt; kritisch und selbstkritisch. Ausgehend von eigenen Erfahrungen, Haltungen, Entwürfen, von der individuellen Bestandsaufnahme im Hier und Jetzt, versuchen sie in räumlich und zeitlich immer weiter gespanntem Zirkelschlag, das Land und die Welt, den Tag und die Epoche zu erkunden. Hatten die Früheren in klassizistischen Formtraditionen Halt gesucht, proklamieren die Jüngeren das „offene Gedicht“, das fast völlig auf Reim, rhythmische Strenge, Strophik, gehobene Sprache und Metaphorik verzichtet und bis zur Gefährdung des Kunstcharakters Elemente anderer Gattungen (Prosa, Journalismus, theoretischer Essay) assimiliert. Im autobiographischen Rückgriff verbinden sie die eigene Geschichte mit der Historie, reflektieren den eigenen Entwicklungsgang und den des bundesrepublikanischen Staatswesens, schreiben die Annalen ihrer Hoffnungen, Enttäuschungen, Kämpfe, Lernprozesse. Im Bestreben nach unentfremdeter Ganzheit und Existenzfülle versuchen sie, das Ich und die Gemeinschaft, Literatur und Realität, Lyrik und Politik, Theorie und Praxis einander anzunähern. Und sie bringen dabei eine Fülle von Material, Kommentare, Diskussionen ein, die dem Verständnis auch der früheren literarischen Entwicklungsphasen und Richtungen zugute kommen.
Nach „beiden Seiten der Gegenwart“ (um eine Formel der Kiwus zu zitieren), der Geschichte und der Zukunft, sind sie gleichermaßen engagiert. Und sie haben einen Blick für die Menschen ihrer Umgebung, versuchen auch die Eltern und Vorfahren unbefangen ins Auge zu fassen. Daß ihnen das bei leiblichen oder selbstgewählten geistigen Verwandten leichter gelingen will als bei den unmittelbaren Vorgängern ihrer Kunst, sollte nicht verwundern. Noch jede neue Künstlergeneration hat, um sich in ihrer Neuheit hervorzuheben, das Kontrastierende betont, das sie von den Früheren trennt. Für die meisten der jüngeren Autoren waren die politischen Erfahrungen des Jahres 1968 prägend, haben die geistige Entwicklung und die Schreibweise entscheidend bestimmt. Aber schon seit Anfang der sechziger Jahre hatten sich Wandlungen der Poetik angekündigt, die Höllerer 1965 auf die Formeln brachte: „Wer ein langes Gedicht schreibt, schafft sich die Perspektive, die Welt freizügiger zu sehen, opponiert gegen vorhandene Festgelegtheit und Kurzatmigkeit“, und: „Das lange Gedicht ist, im gegenwärtigen Moment, schon seiner Form nach politisch…“ Weiter zurückgreifend, konnte sich der politische Autor auf die in den fünfziger Jahren entstandenen Gedichte von Rühmkorf, Enzensberger, Fuchs, Grass berufen, konnte bei Weyrauch und Semmer Anregungen finden. Daß aber auch das hermetische, esoterische, chiffren- und metaphernreiche Gedicht, das in den fünfziger Jahren die Moderne repräsentierte, auf vielfältige Weise späteren Entwicklungen vorgearbeitet hat, sehen nur wenige der jüngeren Autoren. So hebt Jürgen Theobaldy hervor, daß die Betonung der Form gegen den Inhalt damals ein fortschrittliches Moment gewesen sei, weil so die traditionalistische Phase überwunden und der Anschluß an internationale Entwicklungen hergestellt werden konnte. Und bei Horst Bienek heißt es: „Der revolutionäre, der schöpferische, der vorwärtstreibende Impuls der fünfziger Jahre…“
Uwe Timm fordert, die realistische Literatur von heute solle sich „von der sogenannten experimentellen Literatur holen, was sie braucht“. Von der „konkreten Lyrik“ (hier im Band nur mit Heißenbüttel und Mon vertreten) haben ohnehin alle Richtungen genommen; politische Dichtung nutzt deren technisches Arsenal, um Sprach- und Ideologiekritik zu betreiben.
Selbst wenn man, wie Theobaldy das hinterlassene Werk Brinkmanns, die frühen Gedichte nur als „Trümmerplätze“ und „Waffenlager“ betrachten wollte, wäre bei der Rückschau vielerlei zu entdecken. Aber über den „Materialwert“ hinaus bieten sie Herausforderungen. Der relativ rasche Wechsel der Trends hat Entwicklungen abgebrochen, bevor ihre Möglichkeiten ausgeschöpft werden konnten; der Bezug auf Expressionismus und Surrealismus ist wohl nicht für immer abgetan. Und die traditionellen „geschlossenen Formen“, Strophe, Reim, regelmäßiger Rhythmus, Parallelismus usf., die ohnehin im Lied, in kabarettistischen oder agitatorischen Genres kontinuierlich genutzt wurden, finden verstärktes Interesse, seit das Alltags-Parlando immer häufiger zur „Laberlyrik“ (Roman Ritter) verkommt.
Daß die idyllisierende Naturlyrik der Frühzeit andere Lesarten gewinnt, seit die Drohung ökologischer Katastrophen allgegenwärtig ist, wäre nicht der einzige Grund, sich neu mit ihr auseinanderzusetzen. Der Vorwurf lyrischen Kleingärtnertums, an die „Neue Innerlichkeit“ gerichtet (oder wie Jörg Drews schrieb: „die alte und die Neue Innerlichkeit reichen sich die Hände“), verweist auf seltsame Verwandtschaften der jüngeren mit der frühen westdeutschen Lyrik; auch die Neigungen zu Reservaten und Aussteigerhaltungen gehören hierher.

Deutlich die Flucht hinaus hinaus
aus der entfärbten Stadt
in die gepflegte Zeitlosigkeit

sagt Ursula Krechel im Eingangsgedicht der Sammlung und meint damit nicht die Gedichte des Bandes, zu denen sie gleichwohl den Bogen schlägt. Und die Unangemessenheit der frühen Lyrik, ihre Hilflosigkeit gegenüber zurückliegenden Katastrophen fordert Überlegungen heraus, welche Mittel heutige Lyrik verfügbar hat, wenn es gilt, künftige Katastrophen abzuwenden.

Die vorliegende Sammlung ist ein Torso: ein Lesebuch, das Proben und Beispiele bietet, ohne in irgendeiner Hinsicht Vollständigkeit anstreben zu können.
Kein wie immer geartetes Anthologienkonzept schien in der Lage, eine mehr als drei Jahrzehnte umfassende Lyrikentwicklung mit ihren Differenzierungen, Wandlungen, Zäsuren und den Wechselbeziehungen der einzelnen Richtungen nachzuzeichnen. Bereits zu den ersten Vorüberlegungen der Auswahl gehörte, daß die Autoren nicht als Materiallieferanten für thematisch-motivische oder poetologische Kompositionen des Herausgebers genutzt und daß ihre Gedichte nicht in der Sammlung verstreut werden sollten. Umfangsbegrenzungen schränkten die Auswahlmöglichkeiten ein, so daß die aufgenommenen Autoren auch für vergleichbare Leistungen von Kollegen einstehen müssen. Der Fragmenteffekt von Lyrik, die in Splitter, Detail, Wirklichkeitsausschnitt die Welt zu spiegeln vermag, ermutigte zu dem Versuch, im (fragmentarischen) Reichtum divergierender Ansätze am Ende dennoch mehr zu geben als die Summe der aufgenommenen Texte. Im Vertrauen darauf, daß wenige charakteristische, authentische, intensive Beispiele für das jeweilige Œuvre einstehen können, wurde bei der Auswahl versucht, möglichst über das Verhältnis des Autors zu sich und der Welt, zur literarischen Tradition, zu Historie und Utopie einige Auskunft zu erlangen. Bei benachbarten Gedichten sind zyklische Anbindungen vermieden worden, um die Textdeutungen nicht auf den jeweiligen Zusammenhang einzuengen. Dennoch ergeben sich – in der Nähe und in der Entfernung – zahlreiche Bezüge, Echos, Dialoge zwischen den Gedichten, die nicht unbeabsichtigt sind.
Die bisher in der DDR erschienenen Darstellungen, Sammlungen und Einzeleditionen sollten in der Regel nicht wiederholt, sondern weitergeführt und ergänzt werden.

Hubert Witt, Nachwort, November 1984

 

„Veränderte Chronologie“

so heißt das erste Gedicht in dieser Anthologie. Einer „veränderten“, nämlich der umgekehrten Chronologie begegnet der Leser auch in der Aufeinanderfolge der 69 hier versammelten Autoren. Das Buch beginnt mit Ursula Krechel, Jahrgang 1947, es endet mit Wilhelm Lehmann, der von 1882 bis 1968 lebte. Wird hier eine rückläufige Entwicklung dokumentiert? Nein. Ganz im Gegenteil: Vor dem Hintergrund eines Auswahlprinzips, das sich an lyrischen Ausdrucksformen, Themen und Fragestellungen der frühen achtziger Jahre unseres Jahrhunderts orientiert, tritt das Bleibende innerhalb einer fast vierzigjährigen Lyrikentwicklung um so deutlicher hervor. Scheinbar vergessene Namen, oft nur mit wenigen Gedichten hier wieder ins Gedächtnis gerufen, bekommen einen neuen Klang. Worte, vor vielen Jahren aufgeschrieben, erweisen sich als gültig bis auf den heutigen Tag. Wie eine Mahnung wirken zum Beispiel Naturgedichte von Wilhelm Lehmann, hat man zuvor die Texte von Nicolas Born gelesen, die der Umweltgefährdung durch rücksichtslose Ausbeutung der Natur gelten. Und geben nicht die von jüngeren Lyrikern formulierten Erfahrungen mit den Illusionen der „Generation des Aufbruchs“ von 1968 auch den von Wolfgang Borchert am Ende des zweiten Weltkriegs vorgetragenen dringlichen Aufrufen an eine „verlorene Generation“ angesichts neuer Kriegsdrohung eine bestürzende Aktualität? So kann man die vorliegende Auswahl in ihrer Rückläufigkeit auch als eine vorläufige Bestandsaufnahme lesen, die thematische Grundlinien und ästhetische Konzeptionen nicht nur in ihren Zusammenhängen zu erfassen versucht, sondern auch in ihrer nach vorn offenen Widersprüchlichkeit.
Nähert sich der Leser über einzelne Autoren der Anthologie, erwartet ihn auch hier eine aufschlußreiche Lektüre. Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger oder Peter Schütt, Erich Kästner oder Franz Josef Degenhardt werden ihm bereits bekannt sein. Porträts von Ernst Meister oder Heinz Piontek vermitteln ihm Einblicke in verschiedene Schaffensphasen. Schließlich lernt er Gedichte von Helmut Heißenbüttel, Martin Walser oder Franz Mon kennen… Nicht jeder Lyriker konnte berücksichtigt, nicht jeder aufgenommene gerecht präsentiert werden, die Auswahl will nicht als „Blütenlese“ erscheinen. Eine Vielzahl von Stimmen und Formen sollte zu Wort kommen. Der Leser kann einen bestimmten Ton bevorzugen, aber auch die Tendenz in der Lyrik eines Landes nachvollziehen, das im Zentrum der Widersprüche unserer Epoche liegt. „Die nicht erloschenen Wörter“ vermögen aus Erinnerung Funken für Künftiges zu schlagen.

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1985

 

Gedichte als Reflexion erlebter Gegenwart

– Lyrik aus der BRD und Westberlin. –

Anthologien müssen sich immer die Frage nach Prinzip und Repräsentation der in ihnen getroffenen Auswahl gefallen lassen. Diese hier muß es sogar in besonderem Maße, durch ihre Absicht und Eigenart, die sich in einer ungewöhnlichen Anordnung der in ihr vertretenen Autoren zu erkennen gibt – und das heißt in diesem Falle die jüngste zuerst und der älteste zuletzt, eine Rückläufigkeit nach Geburtsdaten: „Die vorliegende Anthologie setzt bei der Gegenwart ein, wo viele Sammlungen enden, und blickt von hier zurück zu den Anfängen der westdeutschen Nachkriegslyrik“, und davon erhofft sich der Herausgeber: „Wenn so die Chronologie der Generationen auf den Kopf gestellt wird, geschieht das, um an Historizität zu gewinnen (…) Statt zu mitgehendem Nachvollzug wird zu gegenläufiger Lektüre eingeladen.“
Von ihren Ergebnissen her soll eine Entwicklung über vier Jahrzehnte hinweg deutlich werden. Die historischen, die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge sollen hervortreten. Bevorzugt werden jeweils solche Gedichte, die solche Zusammenhänge direkt oder indirekt erkennbar werden lassen: Lyrik als Reflektion der Zeit, und dies auch dann, wenn es nicht bewußt und mit entschiedener Wirkungsabsicht geschah und geschieht. Was nun tatsächlich von 1945 bis heute ein angemessener Gesichtspunkt ist.
Allerdings gibt die Anordnung rückwärts dafür doch kaum viel mehr als eine üblichere her, als Anordnung nach Geburtsdaten, und sie bleibt unabhängig davon dann doch schematisch, wenn von den älteren Dichtern Gedichte aus neuerer Zeit ausgewählt sind, wenn so Entstehungsdaten sich dann doch wesentlicher als Generationszugehörigkeiten erweisen.
So habe ich denn auch unbekümmert um Editorenintention in diesem Band von hinten nach vorn gelesen, mit gelegentlichem Zurück- und Vorausblättern, die Zeitfolge wieder vom Kopf auf die Füße stellend, habe angefangen bei Wilhelm Lehmann (1882–1968) und geendet bei Ursula Krechel (Jahrgang 1947). Und habe auch so Kontinuitäten und Wandlungen, Konstanten und Neuansätze, Brüche und Widersprüche dokumentiert gefunden und darin jene „nicht erloschenen Wörter“, mit denen ein Gedichttitel von Jürgen Theobaldy der ganzen Sammlung ihren Titel gegeben hat.
Man wird sich erinnern an jene Lyrikinflation, die es in den ersten Nachkriegsjahren gab, epigonal nach neoklassischen und neoromantischen Mustern, bald wieder vergessen und so auch hier nicht vertreten. Aber da war eben auch ein solcher Naturlyriker wie Wilhelm Lehmann tief betroffen vom Geschehenen: „Die Toten schweigen in der Erde, / Geschwiegen habe ich wie sie“, und faßte die Zeit als eine nach einer „zweiten Sintflut“ auf. Es sprachen christliche Dichter wie Werner Bergengruen, Reinhold Schneider und Albrecht Goes ihr Wort der Anklage und Mahnung, der Trauer und des Trostes aus, und in Elisabeth Langgässers Beschwörungen und Verschmelzungen von Christlichem, antik Mythischem und pantheistischem Naturgefühl gewann die sonst recht diffus gebliebene Vorstellung eines „magischen Realismus“ Kontur.
Es meldete sich die junge Generation der Kriegsheimkehrer zu Wort, in des sterbenskranken Wolfgang Borchert Aufschreien gegen den Krieg und in der nüchternen Wahrhaftigkeit von Dichtern, die dann fast alle in einer mehr oder minder engen Beziehung zur Gruppe 47 standen.
Es gab aber auch das enorm einfluß- und folgenreiche Spätwerk Gottfried Benns, und entdeckt wurde, was in der geistigen Ödnis der Hitlerjahre unbekannt geblieben war: In Hans Egon Holthusens „Variationen über Zeit und Tod“ ein Echo auf T.S. Eliot, und eine Marie Luise Kaschnitz findet zu einer Erneuerung ihrer lyrischen Diktion in der Aneignung der kühneren Bildhaftigkeit und der rhythmischen Freiheit der Moderne, was bei ihr nicht Mode bleibt.
Surreale Metaphorik wird übernommen; Rückbesinnung auf expressionistische Tradition erfolgt: bei Helmut Heißenbüttel und anderen gibt es experimentierende „Konkrete Poesie“; zum Einfluß Benns, tritt ideologisch konträr der Brechts hinzu. Deutlich politisch, oppositionell antirestaurativ, aggressiv kritisch sind Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf – Dichtung, die bewußtseinserhellend und aktivierend sein soll. Seither kaum noch Gedichte, die nicht ein Unbehagen an vorgefundener Wirklichkeit und deren Ablehnung artikulieren, in agitatorischer Direktheit oder als Ausdruck der Frustrationen, welche die revoltierende Studentenbewegung von 1968 hinterließ, aber unter den jüngeren Dichtern mit wenigen Ausnahmen auch kaum schon ganz unverwechselbare individuelle Handschriften und der freie Vers von ihnen für eine allzu leicht handhabbare Technik gehalten.
69 Dichter sind vertreten, und neben den schon als charakteristisch für bestimmte Entwicklungen und Tendenzen genannten müßten auch andere noch hervorgehoben werden: Günter Eich etwa oder Karl Krolow, Walter Höllerer oder Christoph Meckel, auch der mit Textmontagen operierende Rolf Dieter Brinkmann.
„Die vorliegende Sammlung ist ein Torso: ein Lesebuch, das Proben und Beispiele bietet, ohne in irgendeiner Hinsicht Vollständigkeit anstreben zu können“, erklärt Hubert Witt. Das mutet schon allzu bescheiden an, klingt nach einer Entschuldigung, die dieser Band kaum nötig hat.

Helmut Ullrich, Die Zeit, 25.8.19851

Lyrik zum Wieder- und Neulesen

– Ein Sammelband im Verlag Volk und Welt. –

In dem Band Die nicht erloschenen Wörter hat der Verlag Volk und Welt westdeutsche Lyrik seit 1945, Lyrik aus der BRD und Lyrik aus Westberlin zusammengefaßt. Die Sammlung von Gedichten ist immer wieder ein Risiko. Zumeist erwartet der Leser, ob bewußt oder nicht, eine räumlich oder zeitlich eingegrenzte Repräsentation. Jeder weiß natürlich, daß der Herausgeber mit dem ihm eigenen Maß arbeitet, erhofft dennoch die Übersicht und sicher auch eine mehr oder weniger gültige Vollständigkeit.
Heutzutage ist dies kaum noch zu leisten, zu sehr hat sich der Literaturprozeß verzweigt. Hubert Witt, Kenner der Szene und Herausgeber dieses neuen Sammelbandes, ging deshalb wohl ganz bewußt einen gegenläufigen Weg. Er arbeitete demonstrativ gegen das Prinzip, den Schein der Vollständigkeit zu wahren und nannte seine Sammlung einen Torso. Überdies störte er die gewohnte Ordnung, setzte die jüngeren, heute ungefähr vierzigjährigen Dichter an den Anfang und die älteren ans Ende.
Mag es Zufall, mag es die Freude der Wiederbegegnung sein – mir jedenfalls schlugen sich wie von selbst die Seiten auf, die Wolfgang Borcherts „Generation ohne Abschied“, Hans Magnus Enzensbergers „Landessprache“ oder auch Wilhelm Lehmanns „Deutsche Zeit 1947“ zeigten, das mit den Zeilen beginnt:

Blechdose rostet,
Baumstumpf schreit.
Der Wind greint.
Jammert ihn die Zeit?

Wissend, daß es sich um zeit- und generationsbedingte Leseerlebnisse handelt, suchte ich nach dem vom Herausgeber gewollten Prinzip und fand es nicht nur in der zeitlich neuartigen Folge der Gedichte, sondern vor allem in dem deutlich bekundeten Willen, ein Lese-Buch anzubieten, also eine Sammlung von Texten, die als Einzelheit und als Ganzheit zum gründlichen Bedenken, zum Wieder- und Neulesen herausfordern. Keine thematische Linie wird dem Leser aufgedrängt, ihm wird vielmehr empfohlen, gute und dem Experiment zugeneigte Gedichte aufzunehmen und auf sich wirken zu lassen.
In einem ebenso kurzen wie klugen Nachwort sagt der Herausgeber, welche Gedanken ihm bei der Aufnahme dieser Gedichte gekommen sind. Er spricht von der Ohnmacht, der Klage und Ratlosigkeit der Älteren, von ihrer Endzeitstimmung, von der Besonderheit ihrer Protesthaltung gegen unwürdig Gesellschaftliches. Auf die Kraft der Verarbeitung eigener Erfahrungen wird ebenso verwiesen wie auf den Fakt, daß die Jüngeren immer genauer hinzuschauen begehren und dem Wort gegen das Unmenschliche den größten Raum zu geben gewillt sind. Das Nachwort ist eine für sich lesenswerte Skizze.
Den Gewinn wird jeder Leser für sich suchen und auch unterschiedlich finden. Hervorhebenswert empfand ich die außergewöhnliche Intensität und Vielgestalt des Bezugs zur Umwelt, die in jedem Gedicht und in der Gesamtheit der Werke zu finden ist und immer neue, von Seite zu Seite sich verstärkende Eindrücke hervorzurufen vermag. Die Auswahl zeigt, wie eine Dichtkunst sich der Welt zu stellen vermag. Nichts wird ausgelassen, nichts wird schonend behandelt, nichts wird aufgenommen, was als Egozentrismus und als Konzentration auf einen gar zu engen Kreis der Innenwelt des aussagenden Ichs verstanden werden konnte.
Dem Experiment wird Genüge getan, gleichermaßen auch der bohrenden Frage nach den sozialen Problemen. Vergangenheit und Gegenwart sind in ihrem Zusammenhang ebenso wichtig wie die Konfrontation des alltäglichen privaten Lebens mit den politisch bewegenden Vorgängen unserer Zeit. Herausforderung zum Gespräch könnte man diese Gedichte betiteln.
Die Achtung sollte auch einer Auswahl gezollt werden, die uns die Unzahl der Farben nahezubringen versucht, aber keine Konzessionen an schlechten Geschmack beziehungsweise an absurde Reaktion zu machen gewillt ist. Neben der Kaschnitz und der Langgässer — um noch einmal die ältere Generation zu zitieren finden sich Walser, Grass, Geissler, der Degenhardt und der Herburger.
Bei den Jüngeren ist der eine schon mehr, der andere noch weniger bekannt. Die Zeit wird in dieser Beziehung das Ihrige tun. Erfreulich ist, daß im Band neben Peter Maiwald, Jürgen Theobaldy, Rolf Dieter Brinkmann, Peter Schütt, Volker von Törne auch Gedichte von Ursula Krechel und Karin Kiwus enthalten sind.

Anneliese Löffler, Berliner Zeitung, 6.9.1986

Gedichte haben Zeit

Die nicht erloschenen Wörter. Westdeutsche Lyrik seit 1945, Lyrik aus der BRD, Lyrik aus Westberlin.

Der Band 12 unserer im Verlag Volk und Wissen erschienenen Literaturgeschichte Literatur der BRD (1983) bot detaillierte Analysen, in denen zahlreiche BRD-Lyriker genannt und gewürdigt wurden, deren Gedichte für den DDR-Leser eigentlich unbekannt blieben. „Gedichte haben Zeit“ – so die These einer Studie von Michael Zeller zur Geschichte der bundesdeutschen Lyrik. Das darf aber nicht bedeuten – überblickt man die Rezeptionssituation dieser Poesie in der DDR – dass der Vorlauf der Sekundärliteratur, der Interpretationen zu diesem Gegenstand allzu groß gehalten wird.
Mit der vorliegenden, umfangreichen Anthologie Die nichterloschenen Wörter ist jetzt die Möglichkeit gegeben, unsere Textkenntnisse entscheidend zu erweitern, Lücken werden geschlossen, Lust auf Künftiges geweckt.
Die Sammlung wird mit Gedichten jüngerer Autoren eröffnet, die in den Auseinandersetzungen der letzten zehn Jahre um eine Literatur der „Neuen Innerlichkeit“ nicht selten als Kronzeugen larmoyanter Abkehr von den politischen Utopien der 68er Bewegung angeführt wurden. Einige von ihnen haben mittlerweile Gedichtbände vorgelegt, die schon heute zu den authentischen Dokumenten der BRD-Lyrik insgesamt gehören: Brinkmann, Born, Theobaldy, Haufs, Schenk, Krüger. Sie versuchen – kaum wirklich beeinflusst von den Trendsetzungen der Medien –, in der Individualität ihrer Schreibanlässe und sprachlichen Verfahren durchaus unterschiedlich, das vielbeschworene Subjekt als eine „soziale Größe“ (Theobaldy) zu begreifen, Sensibilität beim Aufspüren alltäglicher Widersprüche mit dem Engagement für eine bessere Gesellschaft zu verbinden. Der Herausgeber Hubert Witt hat aus den Arbeiten dieser Lyriker behutsam und kundig ausgewählt, Unterschiede der Poetiken und Verwandtschaften der Erfahrungsräume werden nachvollziehbar. Maiwald, Fels, Schütt, Konjetzky, Zahl und andere vereint – bei allen, zum Teil scharfen, Divergenzen in politischen Einzelfragen – das Bemühen um soziale Konkretion ihrer Gedichte. Dokumente Ihrer Zeit sind die agitatorisch intendierten, auf den Sozialismus orientierenden Arbeiten dieser und älterer Autoren (Troppmann, Semmer, Degenhardt) gewiss. Wer, wie der Herausgeber, Literatur nicht als ausschließlich autonomes Sprachkunstwerk sieht, sondern seine sozialen, auch aktuell-funktionalen Bedeutungen mitberücksichtigt, kann auf die Hereinnahme dieser Lyriker nicht verzichten.
Der mittlere Teil der Anthologie sammelt Gedichte der wesentlichen Autoren einer Generation, die in der ersten Hälfte der sechziger Jahre auf den Plan trat und der bis dahin von Farn- und Flechtenkundlern okkupierten Lyrik neue, realitätsnahe Impulse zu geben vermochte. Besonders zu begrüßen ist es, dass der Herausgeber Gedichte der in der DDR weitgehend ausgesparten Helmut Heißenbüttel und Walter Höllerer ausgewählt hat. Überhaupt bietet dieser Abschnitt der zwischen 1930 und 1920 geborenen Schriftsteller zahlreiche intensive Begegnungen mit unbekannten Texten. Wer hier erstmals Gedichte von Poethen, Mon, Nick, Reinig, Borchers, Bächler, Piontek und Riegel liest, der ist erstaunt über die vielfältige Stimmkraft einer ganzen Generation, deren Worte bei uns nicht bekannt sind.
Das letzte Drittel der Auswahl präsentiert die beeindruckende Reihe bekannter, traditionsstiftender Lyriker, von Hagelstange und Domin bis Benn und Lehmann. Das ironische Wort von den „Farn- und Flechtenkundlern“ darf die hohe ästhetische Qualität vieler ausgewählter Gedichte nicht vergessen lassen. Die sprachliche Genauigkeit nicht weniger Gedichte ist unabweisbar, unabhängig von philosophischer und erkenntnistheoretischer Kritik, die denkbar und berechtigt wäre. Witt verleugnet gerade hier seine Affinitäten nicht: hart gesetzte, kritisch sezierende Texte dominieren auch in diesem Kapitel der Anthologie. Andere Auswahlkriterien hätten eine andere Charakteristik der späten vierziger und fünfziger Jahre erbracht, die zum Beispiel Naturhaftes, Hymnisches betonen würde.
Die Struktur der Anthologie ist ungewöhnlich, ja provokant. 69 Lyriker werden mit jeweils vier bis acht Gedichten in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Geburtsjahre geordnet vorgestellt. Beginnend mit fünf Texten der jungen Ursula Krechel (geb. 1947) schließt der Band mit vier Gedichten des legendären Wilhelm Lehmann (1882–1968). Die der Anordnung innewohnende Problematik liegt auf der Hand: Die abschließende strenge, aber in gewisser Weise auch „einfacher“ zu bewältigende Auswahl von wenigen Gedichten der Schriftsteller mit einem umfangreichen, allseits beachteten Oeuvre und einer langandauernden Wirkungsgeschichte steht mit Notwendigkeit einer eröffnenden, fragwürdigen, ungesicherten Auswahl von Gedichten jüngerer Autoren gegenüber. Was mag wichtig bleiben von den poetischen Versuchen Ursula Krechels, Jörg Fausers oder Wolf Wondratscheks? Gäbe es nicht viele andere Stimmen, die gehört werden sollten?
Die Anthologie stellt sich diesen Anfragen selbstbewusst und ohne Scheu. Der Herausgeber ist bereit, Auslassungen hinzunehmen, Lücken und Brüche offenzulegen.
Die eigenwillige Ordnung der Anthologie gibt dem Leser die Chance, bei fortschreitender Lektüre sowohl überraschende Entdeckungen kaum wahrgenommener Autoren zu machen als auch die Traditionsschichten „abgelagerter“ Poesie neu zu sehen, dabei löst sich die Patina weihevoller Klischees oder auch nur der Staub Jahre währenden Desinteresses. Dem Leser bleibt die anspruchsvolle Arbeit nicht erspart, Fragmentarisches zu einem Suchbild poetischer Anstrengungen zusammenzufügen, eigene Lesarten zu erkunden. Gedichte behalten in dieser Anordnung ihren ästhetischen Eigenwert; aus der im Nachwort eingestandenen Not quantitativer Begrenzung könnte so die Tugend offener, unabgeschlossener Lesbarkeit werden.
Ein Wort am Rande: Das Fehlen eines auch nur knapp gehaltenen bibliographischen Anhangs ist völlig unverständlich, einen gewichtigen Teil der präsentierten Lyriker wird der interessierte DDR-Leser nirgendwo verzeichnet finden.

Klaus Pankow, Sonntag, 7.12.1986

Die bewahrte und die entfremdete Subjektivität

Etwas ufert aus, zerfranst sich an den Bändern. Es entstehen wieder sehr viele Gedichte, in denen sich eine Subjektivität zu erkennen gibt, aber sie erzeugen einen einheitlichen Umriß des Gefühls, einen diffusen Ton idyllischer Leere. Je weniger die Möglichkeit eines Ich zum Ausdruck kommt, das sich als Instanz gegenüber den Strömungen von außen erfährt, desto schaler und ununterscheidbarer werden die Worte. Der Bedarf an Lyrik wächst. In den Verlagsprogrammen steigt der Stellenwert der Gedichte allmählich wieder an, nachdem am Anfang der 70er Jahre die Lyrik mit ihrem hermetischen und dunklen Klang weitgehend aus der Öffentlichkeit gedrängt war. Dabei spielt die Vermittlung der Medien eine immer größere Rolle. Wenn Ulla Hahn im Moment als die Lyrikerin gilt, bei der der Pulsschlag der Zeit am reinsten zum Ausdruck kommt, hat das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung viel dazu beigetragen. Nun, da die von Hubert Witt herausgegebene Anthologie auf dem Tisch liegt, welche die Entwicklung bis in die frühen 80er Jahre nachzeichnet, liegt es nahe, vom aktuellen Stand der Lyrik auszugehen und die Linien zurückzuverfolgen. Ende September fand sich in der FAZ folgendes Gedicht von Ulla Hahn:

ABGETIPPT

Die Hoffnung ist vorbei
etwas anderes könnte mein sein
als ein Schreibtisch an dem sich
das Leben verwandelt in Papier

So unter der Hand geht alles
verloren was wirklich ist
Ich schreib dich ein und aus und um
bis du zerschrieben bist.

Alltag, Partnerschaft, Melancholie. „Die Hoffnung ist vorbei“, das steht als Motto. Von dieser Zeile perlen die anderen Worte ab. Ihre Endgültigkeit verweist ins Existentielle, in etwas, was über die zufällig anwesende Subjektivität hinaus Gültigkeit beansprucht. Doch die Weite, die sich hier auftut, wird sofort zurückgenommen in die Wahrnehmung des Alltags. Sie verringert sich zu einem „etwas anderen“ und verwischt sich mit der wiederholbaren Situation am Schreibtisch, mit dem kleinen privaten Blick eines Ich.
Dieses Kleine ist die geheime Botschaft des Textes. Es zieht unmerklich eine unsichtbare Wand zwischen sich und dem Äußeren und ermöglicht die Anforderungen der gesellschaftlichen Ebene beiseite zu lassen. Aus sich heraus, unbeeinflußt vom Agieren des Draußen, wird eine unbefleckte Welt geboren. Das führt zu einer Selbstwahrnehmung, die scheinbar in Widerspruch zur Ausgangslage steht: Es gibt keine Brüche, keine Irritation von außen, die sich sperrig zwischen die eigenen Zeilen drängt und das subjektive Bewußtsein vorantreibt. Indem sich der Blickwinkel auf das Unwesentliche beschränkt, bleibt der vertraute Zustand unangefochten und wird beglaubigt. Die zweite Strophe ist ein Schlagertext. Sinnlos, sich gegen den Dreivierteltakt zu sträuben. Dabei verzichtet Ulla Hahn keineswegs auf den Touch des Anspruchsvollen, sie hat natürlich nur solche Chansonsänger im Auge, die Bedeutung und Tiefe ahnen lassen, eine verhangene Abgründigkeit. „Ich schreib dich ein und aus und um“, da setzt die Rhythmusmaschine im Hintergrund zart die Schwerpunkte, das „ein“ und das „aus“ und das „um“ bekommen kleine flüchtige Kringel von den Celli und Kontrabässen, bis hin zum Refrain, der das Sherryglas in die Hand gibt: „verloren was wirklich ist / bis du zerschrieben bist“, das bleibt haften.
Es ist eine Melancholie für sanfte 100-Watt-Anlagen und geschützt gelegene Einfamilienhäuser, eine Parklandschaft des Gemüts. Die weiche Rhythmisierung ist geschickt arrangiert wie die Tulpen- und Narzissenbeete im Vorgarten, die Sicherheit im Setzen der vorgefundenen Leere beteuert das Vertraute; gepflegtes Kleinbürgerleid mit heruntergezogenen Jalousien.
Das Gedicht geht kein Risiko ein. Es ruft ab. Man erkennt sich wieder, wenn man es liest, aber man entdeckt sich nicht neu. Nichts, was es zu erobern gälte; kein Wort versucht, sich gegen beliebige Vereinnahmung zu schützen. Die Sperrigkeit, die authentische Subjektivität stets prägt, ist übergegangen in eine geglättete Mittellage, die nichts so sehr fürchtet wie Veränderung.
Die Gestalt der Lyrik hat sich gewandelt. Das Gedicht, das sich in den 60er Jahren entweder in sich selbst zurückgezogen hatte, sich der spontanen Lesbarkeit verweigerte, oder aber plakativ zur Veränderung des Bestehenden aufrief – es ist überführt worden in einen Gemeinplatz. In einer anonymen Umwelt sucht man Halt im Vertrauten, im Wiedererkennen des eigenen Gefühls. Die Signale der Entfremdung, die Warnung vor gesellschaftlichen Tendenzen, welche in den sich entziehenden Versen von Celan, Eich, Bachmann sichtbar wurden, die Momente von Absurdität, von Eigentlichkeit der Sprache, in denen die nicht vereinnahmte Individualität für einen paradoxen Atemzug noch einmal sich selber findet – sie werden erst heute in ihrer Radikalität deutlich. Die gegenwärtige Lyrik sucht nicht mehr die Auseinandersetzung, die Schonungslosigkeit, die Dialektik von Ich und Welt – sie hat den Horizont enger gesteckt, hält sich an das Gegebene, bilanziert das Zufällige, das eben anwesend ist. In einer seltsamen Kreisbewegung wird die Tonlage der Adenauerzeit wieder aufgenommen, mit einer privaten Mythologisierung des Gesellschaftlichen und einem orientierungslosen Gefühl.

Hubert Witt hat für seine Anthologie, die jetzt im Verlag Volk und Welt erschienen ist, eine historische Perspektive gewählt, in der auch die nicht mehr verzeichneten neuesten Tendenzen in ihren Ursprüngen sichtbar werden. Die Autoren sind nach ihren Geburtsdaten geordnet, wobei die jüngste (Ursula Krechel, geb. 1947) den Anfang macht und der älteste (Wilhelm Lehmann, geb. 1882) am Schluß steht. Das erlaubt den Blick von der Gegenwart zurück, und es ist das erklärte Bestreben des Herausgebers, die Vergangenheit kritisch zu sichten: Was hat in unserer Erfahrung noch Bestand, und was ist mehr oder weniger seiner Zeit zum Opfer gefallen? Es eröffnen sich einige wichtige Ausblicke. Die traditionelle Sprache von Werner Bergengruen, Georg von der Vring oder Reinhold Schneider ist im gleißenden Licht der kritischen Generation der 60er Jahre ihres Hintergrunds beraubt. Ohne den Schutzmantel der Entstehungszeit, als man der Frage nach der historischen Schuld auswich und die Töne des Verlassenseins anschlug, nach konservativen Werten suchte, die dem wechselhaften Zeitgeschick widerstehen sollten, wirken diese Gedichte als Opfer von Verdrängung, zeitverhaftet und ideologisch. Die Anordnung nach den Altersstufen der Autoren ermöglicht also generell eine historische Betrachtungsweise. Da aber darauf verzichtet wurde, die Autoren nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu ordnen, verharrt der Band oftmals in bloßen Impressionen. Bezüge außerhalb der Geburtsdaten werden nicht hergestellt. So steht Guntram Vesper, der erst in den 80er Jahren zu einer beachteten lyrischen Stimme geworden ist, fast direkt neben Rolf Dieter Brinkmann. Dessen Texte sind denen Vespers grundsätzlich entgegengesetzt und können nur aus dem Kontext der 60er Jahre heraus verstanden werden. Die Entwicklung des literarischen Klimas der BRD läuft in dieser Anthologie somit nur gebrochen, zwischen den Zeilen mit. Es bietet sich an, den von Witt eingeschlagenen Weg, für den er im Nachwort durchaus einleuchtende Argumente findet, mit einer historischen Sichtweite zu kontrastieren. Stellt man die heutige Lyrik in den Brennpunkt, erhalten die Perspektiven ins Vergangene Konturen. Witts Sammlung birgt verschiedene Möglichkeiten, so etwas wie Probebohrungen in die Vergangenheit zu unternehmen. Dabei könnten Momente entstehen, die historische Linien nachvollziehbar machen.

Alltagslyrik und Neue Subjektivität. Die 70er Jahre
In den 70er Jahren schossen „bekannte Gefühle (…) ins Kraut“, wie Ursula Krechel schreibt. Das geschah anfangs durchaus im Bewußtsein, neue Erfahrungen zu machen und das Terrain des Schreibens auszudehnen. Die vorangegangene Politisierung hatte das Ich vollkommen in den Dienst einer umfassenden gesellschaftlichen Veränderung gestellt, wobei die konkrete Individualität in den Hintergrund rückte. Die neue Privatheit, die Entdeckung der alltäglichen Gefühle wurde danach als „Horizonterweiterung“, als „Selbsterfahrung“ und „Selbstverwirklichung“ verstanden – Modebegriffe, die die 70er Jahre prägten. Programmatisch verkündete dies Gabriele Wohmann in ihrem Gedicht „So ist die Lage“, das 1974 erschien:

Beim Versuch von mir abzusehen
Bin ich auf mich gestoßen
.

Sie unternimmt damit eine Bestandsaufnahme jener Zeit, da sich der als revolutionär empfundene Elan von 1968 verflüchtigt hatte, der „Marsch durch die Institutionen“ längst angetreten war, und man sich in den Mühen der alltäglichen Aufgaben – verhedderte. Die Politisierung, die gesellschaftlichen Erschütterungen erschienen nun als eine Art Ersatzfeld, ein Ausweichmanöver, um der Welt der Väter zu begegnen, der bürgerlichen Sozialisation mit ihren Verdrängungen und überkommenen Strukturen. Der Vietnamkrieg, die Große Koalition von CDU und SPD und die Auseinanderandersetzung einer bürgerlichen akademischen Jugend mit ihrem Elternhaus, das mit dem Makel behaftet war, Hitler an die Macht gebracht und unterstützt zu haben – das alles bildete das Spannungsfeld, das sich in der Studentenbewegung, der Jahre 1967 und 1968 entlud. Als die Woge dann verebbt und die Bewegung an den Universitäten in dogmatisch sich verhärtende kleine Gruppen zerfallen war, stellte man fest: man war auf sich selbst zurückgeworfen, die Bewegung fiel in ihre einzelnen Bestandteile zurück. Atomisierte einzelne, nicht mehr eingebunden in eine Gruppe – die Selbstsuche ging, nunmehr nach innen gerichtet, weiter. Die Sogwirkung, die das Rütteln an den gesellschaftlichen Fundamenten auslöste, hatte von der ungelösten Problematik des bürgerlichen Ich abgelenkt. Dieses stand sich nun fremd gegenüber. Eine vorsichtige Spurensuche begann, ein Vorantasten zu den Antrieben vergangener Handlungen. Die Wurzeln wurden wieder freigelegt. Angereichert durch die Erfahrungen gesellschaftlicher Aktion, fand sich der verlorengegangene Ausgangspunkt wieder, mit all seinen Brüchen und der richtungslosen Unruhe. Das bürgerliche Wohnzimmer, hat einen neuen, den alten Charakter bekommen: „Aber wie kommt es, daß mich die Fernsehbilder jetzt / Weniger angreifen als dein Tonfall vorhin“, heißt es in Gabriele Wohmanns Gedicht. Die politische Sphäre, eine Zeitlang Auffangbecken sich befreiender Emotionalität, läßt mittlerweile die Gefühle stumpf. Sie entdecken die Bedürfnisse des Alltags. Die „Zweierbeziehung“ entsteht – ein Wort, das es so vorher nicht gab. Es ist mit den Erkenntnissen der erarbeiteten Gesellschaftstheorien durchsetzt, deckt aber vor allem den notwendigen Fluchtraum in die Geborgenheit ab. Die Zweierbeziehung ist immer gefährdet, von Mißverständnissen bedroht, die beiden in sie eingeschlossenen Ichs drohen sich ständig voneinander zu entfernen, wenn sich nicht eines im anderen verliert. Die Gedichte, die das zum Ausdruck brachten, bekamen plötzlich eine Massenbasis. Die Erfahrung Gabriele Wohmanns, die heute bereits klischeehaft und seltsam naiv anmutet, traf damals den Nerv und wurde als erregend neu empfunden. Sie macht sich zur Wegbereiterin der neuen Emotionalität, des neuen Weiblichkeitstons, der mit seinem schlichten und liedhaften Charakter die Lyrik entwertet. Der Nerv der Zeit, im Ton des Alltagsgesprächs umkreist, losgelöst vom gesellschaftlichen Hintergrund, der diesen Nerv erst als besonders empfindlich hervortreten läßt – es ist ein Kennzeichen dieser Lyrik, daß sie kurzfristig viele Leser erreicht, aber sehr schnell wieder „out“ ist.
Nicht immer tritt das Private so abrupt ins Zentrum wie bei Gabriele Wohmann. In Roman Ritters „Straßenbahnschaffner“ wird im Alltag behutsam eine leise Zärtlichkeit aufgespürt, die um das Geschichtliche des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit weiß und die Selbstbesinnung der 70er Jahre von innen her aufrauht; die politische Dimension schwingt im eigenen Tun stets mit. Johannes Schenks Balladen vermitteln die poetologische Erkenntnis, daß das Erlebte nicht schon von sich aus authentisch ist, sondern sich erst in der Transformation auf das Papier, in der lyrischen Umsetzung erfährt. „Weggehen und wiederkommen“, die Trennung von der Frau und die immer gleichen Konflikte: das ist im Gedicht als Ereignis gar nicht mehr wichtig, sondern wird getragen von einem ganz eigenen Ton, mit dem die Sprache die Situationen neu erschafft. Die Erfahrungen münden in eine Bilderwelt, die sich assoziativ mitteilt. Auch die abgerissenen Balladen, die einen kurzen und trockenen Klang haben und unverhofft innehalten, sind durch das Alltägliche hindurchgegangen und tragen in einer märchenhaften Verfremdung die Sehnsucht der Utopie:

Die Häuser mit Dächern wie Fischschuppen
sind voll schöner Frauen ihren Wünschen,
ihren zertretenen Schuhen,
ihren abgeschabten Rockzipfeln.

Stets auf der Höhe der politischen Reflexion bleibt F.C. Delius. „Beschleunigung der Poesie“ thematisiert auf witzige Weise den neuen Lyrik-Boom, und in den „Biografischen Belustigungen“ wird ein Ton getroffen, dem das Leerlaufen der einstigen politischen Illusionen kein Grund dafür sein kann, auf gesellschaftlich orientiertes Handeln zu verzichten. Delius benennt nun, welche Rolle die Intellektuellen, die Urheber der gesellschaftlichen Erschütterungen am Ende der 60er Jahre, tatsächlich spielten: sie sind „freie Mitarbeiter der Klassenkämpfe“, nicht deren Akteure. Der Herausgeber hat die für F.C. Delius typischen engagierten Gedichte herausgegriffen; die Spielart des „Privaten“, die bei Delius gelegentlich auftaucht, hätte dem Bild jedoch noch schärfere Konturen verliehen. Die „Einsamkeit eines alternden Stones-Fans“ aus dem Jahr 1975 bringt die Desorientierung seiner Generation, und die definiert sich nicht durch die Geburtsdaten, eindrucksvoll zur Sprache: Es sind nicht nur die politischen Anstöße verlorengegangen, sondern auch die kulturrevolutionären Tendenzen, das optimistische Aufbegehren der Rockmusik, das von den „10 oder 15 Jahre jüngeren Typen, / die längst was andres hören“, nicht mehr mitvollzogen wird.
Als der führende Vertreter der „Neuen Subjektivität“ gilt Jürgen Theobaldy. In seinen gelungenen Texten wird die Notwendigkeit einer Sensibilisierung, der Rückbesinnung auf die Selbstbefragung des Ich behutsam entwickelt. Hubert Witt hat die beiden großangelegten Widmungsgedichte an Rolf Dieter Brinkmann und Pablo Neruda in den Mittelpunkt gestellt; jene für Theobaldy typischen Alltagsgedichte, die sich nicht abschließen und die Irritation des Suchens mitthematisieren, kommen dabei ein wenig zu kurz.
Wo bei Theobaldy das Offene ist, das Beschreiben einer Situation, der unentdeckte Möglichkeiten innewohnen, ein Sammeln der Wahrnehmungen zu einem neuen Fluchtpunkt hin, da schotten sich andere Texte bereits ab und werden ideologisch. Jörg Fauser schafft eine künstliche Welt mit vorgefertigten Versatzstücken, die rituellen Charakter haben und die Leere ausstaffieren: „eine leere Flasche kippt auf den Vorleger“, wenn die Tür des „Apartments“ geöffnet wird; Bier, Whisky und die fetten Hintern der Huren sind von der US-Lyrik ausgeliehen – Motive, die sich verselbständigen und den Blick auf das Ich wie auch den auf die Gesellschaft beiseitelassen. Einen ähnlichen Weg in die keimfreien Zonen der Verwertbarkeit, des Konsums einer vorstrukturierten Gefühlswelt, geht Wolf Wondratschek. Die coole Lässigkeit, mit der hier die Dinge gestreift werden, hat System. „In den Autos“ – das ist kein Bild, das aus sich heraus spricht und neue Perspektiven freisetzen könnte. Es ist ein Bild, das eine vorhandene Gefühlslandschaft abruft, Assoziationen freisetzt, die in den Werbespots im Kino bereits gebündelt wurden: die Haltung auf dem Barhocker, mit Dreitagebart und einem schnoddrigen Gestus, der seine Unsicherheit zynisch verbirgt. So, wie die Reklame der Vorfilme zum Kaufen verführt, baut sich Wondratschek seine glatten Sätze, um nicht selber vorkommen zu müssen. Dieser direkte Weg in den Schlager und zum Discohit bereitet den Boden für ein weit verbreitetes Lyrikverständnis der 80er Jahre, in dem der Text nur „gut gemacht“ sein muß, um anerkannt zu werden. Was Gabriele Wohmann auf weiblich ist, ist Wondratschek auf männlich. Die Alltagsgedichte, die Gedichte vom einfachen Ich in den 70er Jahren, ermöglichten einen „Mainstream“ der Lyrik, eine krude Verständlichkeit, in der das Ich sich nicht herausgefordert, sondern bestätigt fühlt. Möglichkeiten, damit umzugehen, deuten sich bei den jüngsten Autoren des Bandes an. Bei Ursula Krechel reduziert sich das derart belastete und überstrapazierte Sprechen auf den Körper; die sich selbst fremden Körper erfahren nur durch die Sprachlosigkeit Authentizität. Die Beobachtungen, die Genauigkeit des Blicks, der zuerst noch Sicherheit verheißen hatte, werden immer irritierender und sprunghafter:

Seltsam.
Die Hände geben, heißt es, während sich eigentlich
die weichen Innenseiten der Finger am nächsten sind.

Ähnliches geschieht bei Ludwig Fels: hier schafft sich ein neues Pathos Ausdruck, das aus der Unsicherheit und der Leere gespeist ist, und in kleinen Abseitspositionen entstehen Momente, die das Aufgebauschte nicht mehr brauchen. „Ich möcht so gern mit dir zusammen atmen“ – das ist der kleinste gemeinsame Nenner, dadurch kann etwas freigesetzt werden.
Die Anthologie macht noch etwas anderes bewußt: Gedichte über frühere Generationen, Widmungsgedichte an große Lyriker rekonstruieren eine authentische Vergangenheit, und dadurch erhält die diffuse und die Perspektiven ungenau verzeichnende Gegenwart einen Fluchtpunkt, in dem die subjektive Wahrnehmung Substanz gewinnt. Bei Ursula Krechel wie bei Ludwig Fels fallen die Gedichte über die Mütter auf, und auch Peter Maiwald, der zur Zeit mit seinem an Brecht orientierten Einfachheitston en vogue ist, wird das Porträt des „Arbeiterschriftstellers“ zum überzeugenden Exempel. Peter Paul Zahl, dessen Texte vom Slang und vom Rhythmisieren leben, erreicht in seinem Gedicht an Ingeborg Bachmann plötzlich eine ungeahnte Tiefendimension, und Theobaldys Nachruf auf Rolf Dieter Brinkmann, welcher der Anthologie auch den Titel gegeben hat, faßt in Worte, was seine auf die Gegenwart gerichteten Texte eher schütter umkreisen:

Wortidyllen, denen er
die Haut abzog, ohne Spaß, ohne Nachsicht.

Politik und Ästhetik. Die 60er Jahre
Jahreszahlen können täuschen. Gabriele Wohmanns Gedichtband erschien 1974, Rolf Dieter Brinkmanns Westwärts 1&2 1975. Doch während sie bereits die Entpolitisierung der 70er Jahre verkörpert, ist Brinkmanns Buch noch ganz der Haltung der 68er-Bewegung verpflichtet; seine Gedichte sprechen vom sich radikalisierenden Bewußtsein dieser Generation, das neue politische und, in der Lyrik, neue ästhetische Formen sucht. Der „Alltag“ bei Brinkmann sieht anders aus. Seine Gedichte verteidigen noch die Errungenschaften der 60er Jahre, das sezierende und die Realität unverhüllt bannende Bewußtsein, während um ihn herum bereits begonnen wurde, die Tonlage dem anzupassen, was sich geziemte. „Die Filme werden immer bunter, die Straßen immer farbloser“: Brinkmann hält fest, er erkennt, wie die Pflastersteine und die Barrikaden sich umpolen und genußfähig auf die Kinoleinwand wandern. Dieser Bruch in der Realität ist sein Thema, und er zersetzt seine Gedichtzeilen, fragmentiert seine Wahrnehmung, die sich auf der Ebene des Textes aber zu einem neuen ästhetischen Gebilde zusammenfügt. Durch Zitate, „Bruchstücke“ und „Variationen ohne Thema“ widerspiegeln sich auf dem Papier die Risse zwischen der Utopie und dem sich entziehenden Alltag. Witt legte in seiner Auswahl großen Wert auf die Breite und Vielfalt der Autoren, es sprechen sicher gewichtige Gründe dafür. Gerade bei Brinkmann macht sich aber ein Nachteil des Prinzips bemerkbar, wichtige und weniger wichtige Autoren nicht stärker zu akzentuieren. Horst Bingel oder Rolf Haufs entsprechen in ihrer Bedeutung keineswegs Brinkmann oder Rühmkorf. Gehen wir also mit Brinkmann „EINEN JENER KLASSISCHEN / Tangos in Köln, Ende des / Monats August, da der Sommer schon // ganz verstaubt ist, kurz nach Laden / Schluß aus der offenen Tür einer // dunklen Wirtschaft, die einem / Griechen gehört, hören (…)“ – die Absurdität der grauen Vorstadt, in der keine Zeichen der Umwälzung mehr aufzufinden sind, spricht aus sich selbst und schafft für einen kurzen Moment, dem des Gedichts auf dem Papier, einen Reflex, in dem das Ich sich selbst bestimmt.

Ich

schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten

dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

In einem Atemzug mit Brinkmann ist Nicolas Born zu nennen. Born ist distanzierter, gedanklicher; er sammelt die Eindrücke, die sich bei Brinkmann eruptiv entladen, um Kraftzentren, zieht einzelne Linien.

Hier angekommen
können wir nur noch zurück.

Born durchschaut das Mißverständnis der 60er Jahre, Literatur und Politik gleichzustellen. Er erkennt, daß das Ich sich auf der Ebene des Textes erst einmal vergewissern muß, damit das Feld austariert werden kann, welches angemessenes gesellschaftliches Handeln ermöglicht. Die Sensibilität setzt sich bei Born nicht absolut; es ist ein Sich-Querstellen, in dem der Anspruch bewahrt bleibt, Ich und Gesellschaft aufeinander zu beziehen, es nistet sich ein zwischen die Ritzen des Alltags und leitet zur Reflexion über. „Jeder weiß genau daß er in Bewegung bleiben muß“: ein programmatisches, wie beiläufig klingendes Gedicht. Born spürt das Orwellsche 1984 in den beruhigten 70er Jahren auf. Aus dem Bewegungslosen schält er die vorwärtsgerichtete Bewegung heraus – ein politischer Blick nach vorn, der nicht einfach nur in das Ich zurückfällt.

Auf der anderen Seite von 1984 ist die Ruhe
sie ist voll von schöner Unruhe
die wir wegen der Krümmung dieser Jahre
noch nicht sehen.

„Die Krümmung dieser Jahre“: selten geriet sie in die Gedichte dieser Zeit. In Witts Anthologie tauchen dennoch verschiedene Spielarten des Versuchs auf, das lyrische Ich nicht bedingungslos den neuen Inneneinrichtungen anzupassen. Da ist das Kindliche, Elegische bei Christoph Meckel, der widerborstig die Laute schlägt. Auch Volker von Törne versteckt sich im Reim und einer Pointeneleganz wie bei Ringelnatz, einem Bänkelsang „auf dem Boden des Grundgesetzes“, der die modische „Nostalgie“ nicht nötig hat. „Der Zigeuner singt“ bei Günter Bruno Fuchs; Landstreicher und Irre führen hier in eine Sphäre des Wunderbaren, die Haken und Ösen in die geglättete Oberfläche zaubert.
Ist hier noch ein abseitiger Widerstand zu spüren, etwas Katzbuckliges und Sphinxhaftes, so bilden sich doch bereits Stimmen aus, die in der Belanglosigkeit des Privaten versinken. Der Weg führt zu den prosaischen Impressionen bei Karin Kiwus oder zu Michael Krügers Versuch, das Kleine zu mythisieren. Und bald ist man auf der „Wellenlinie der Schönheit“ angelangt, welche die Designer der 50er Jahre für Guntram Vesper entworfen haben.
Man darf aber angesichts einzelner Ausläufer in den 70er Jahren nicht vergessen, welches lyrische Potential in der Zeit der Politisierung freigesetzt wurde. Inmitten des nichtssagenden Konversationstons oder eines uneigentlichen „Tamtam“, das sich Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre ausbreitete, wirkt die Leistung einiger genuiner Lyriker wie Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf um so stärker. Sie haben die Möglichkeit geschaffen, die Lyrik von ihrem „hohen Ton“ herunterzuholen, von einer schnörkeligen Unverbindlichkeit, die durch die Kontraste von Witts Auswahl unwillkürlich hervortritt. Das Neue, das sich in den Texten im Vorfeld der 68er-Bewegung Geltung verschaffte, barg auch eine avancierte Ästhetik wie die Rolf Dieter Brinkmanns, die die Subjektivität ganz anders umreißt als die vorherrschende neue Weinerlichkeit. Enzensberger ging mit seinem prometheischen Aufbegehren am Ende der 50er Jahre daran, den grauen Nebel zu durchstoßen, der das Wirtschaftswunder biedermeierlich umhüllte. Der revolutionäre Impetus seiner „Landessprache“ hat der Lyrik neue Felder erschlossen:

Was habe ich hier? und was habe ich hier zu suchen,
in dieser Schlachtschüssel, diesem Schlaraffenland,
wo es aufwärtsgeht, aber nicht vorwärts

Es ist ein neuer Ton, der zersetzt, jedoch befreiend wirkt. Vergänglichkeit wird nicht mehr lyrisierend beschworen und auf Moll-Töne gestimmt, sondern kalt und zynisch konstatiert; das Gedicht „Früher“ umreißt diesen neuen Standpunkt, für den das Überkommene nur noch hemmend wirkt und der unbedingt auf das Zukünftige aus ist.
Die Originalität Rühmkorfs zeigt sich in seiner assoziativ verzerrenden Aufnahme des aufklärerischen Hymnentons; da bahnt sich Klopstock plötzlich einen neuen Weg, und Hölderlins subjektives Pathos richtet ein flackerndes Licht auf jene Entwicklungen, die sich jetzt herauskristallisieren. Das geht bis hin zur manieristischen „Thierheit“ – ein aufs Ästhetische gerichteter Witz, der die Formen von innen her sprengt, die Buchstaben zur Sperrigkeit veranlaßt und an der untergründigen Veränderung des Bestehenden weiterarbeitet. Als es dann damit tatsächlich ernst wurde, etwa zwischen 1965 und 1975, sind Rühmkorfs Aktivitäten nicht mehr primär auf die Lyrik gerichtet. Er unterstützt die politische Bewegung unter anderem durch Exkurse „Über das Volksvermögen“, in denen er Klosprüche, Abzählreime und Parolen des Tageskampfes sammelt. Seine Wiederaufnahme der Lyrik ab 1976, als es aus den bekannten Gründen wieder wohl anstand, Gedichte zu machen, führt den einmal eroberten Ton fort. Beeindruckend, wie seine Strophen 1979, inmitten der vielen anderen, sich selbst facettierenden Ich-Entwürfe, die „aus einer Meise einen Mythos machen“, immer noch, obgleich gebrochen, an der Utopie festhalten:

Najanu, hier wird zwar keine Epoche gemacht,
aber doch ganz schöne Musik.

Das Wort hat sein spezifisches Gewicht verloren. Die Errungenschaften der modernen Poesie, die die Metapher zum Absoluten hin drängende Konsequenz, sind in der Verflachung des lyrischen Sprechens verlorengegangen. Die 68er Bewegung setzte einen eigentümlichen dialektischen Prozeß in Gang: in der kämpferischen Entweihung der Lyrik, der zum Handeln auffordernden Dynamisierung der Ausdrucksweisen, welche die uneigentliche Metapher vom Kopf auf die Füße stellte, wurde auch der Boden bereitet für den unprätentiösen Alltagston, für das anspruchslose private Sprechen, das sich als Geborgenheit abseits des Öffentlichen empfiehlt. Was in den 60er Jahren ein Instrument zur Umgestaltung des Alltags war, kehrt sich in den 70er Jahren um; der Alltag verselbständigt sich und vereinnahmt die Worte, die einmal eine Waffe waren. Die hermetische Lyrik, die einen Bannkreis um die Worte gezogen hatte, um sich unkenntlich zu machen und sich der Vereinnahmung zu entziehen, wird in einem neuen Bezugsfeld geplündert. Beim Durchblättern von Witts Anthologie fällt auf, daß die großen Namen der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 weitgehend fehlen. Es sind Namen, die die Lyrikdiskussion in der BRD geprägt haben: Celan, Bachmann, Huchel, Bobrowski. Wie Heiner Müller kürzlich einmal festgestellt hat, lebt der Literaturbetrieb der BRD großenteils von dem, was von außen kommt: aus der Schweiz, aus Österreich, aus der DDR. Dies bewahrheitet sich auf verblüffende Weise in der vorliegenden Lyriksammlung. Vieles wirkt epigonal, wie aus zweiter Hand, und es mag daran liegen, daß man sich der Verwertungsmaschinerie in einem hektischen Zentrum weniger entziehen kann als an den Rändern. Zudem sind Martin Walser, Härtling und auch Grass als Lyriker eher unbedeutend. Ihre Arbeiten wirken wie Fingerübungen, kleine Etüden abseits des großen Sprechens, pointierte Gelegenheitsgedichte im besten Fall. Der Ort, an dem die Lyrik authentisch wird, sich am Wort bewahrheitet und ein Gegenlicht auf die „Bewußtseinsindustrie“ (Enzensberger) wirft – dieser Ort befand sich da, wo nicht deutsch gesprochen wurde oder zumindest nicht bundesdeutsch; da, wo das Wort noch unangetastet sein eigenes Spannungsfeld entwerfen konnte. Celan in Paris, Celan als in der Bukowina Geborener: Das Gedicht zeige, so sagte er in seiner Büchnerpreisrede 1960, „eine starke Neigung zum Verstummen“. Das Gedicht behaupte sich „am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.“
Hier, wo die Gefahr des Verstummens bewußt wird, ist ein Damm errichtet gegen die andere Seite des Verstummens, gegen die nivellierenden Wortfluten, das Alltagsparlando, das die Subversion des Wortes an den Zeitgeist verkauft. Das Gedicht bewahrt seine Eigentümlichkeit, indem es sich mit scharfen Kanten nach außen hin absichert, aus sich heraus Bezugsfelder und Wirklichkeitszonen schafft, die sich dem entfremdenden Zugriff von außen entziehen. Das Dunkle, mit einem einlinigen Verständnis nicht Vereinbare dieser Lyrik, die Reduktion der Worte, bis ihre Substanz zu schillern beginnt und Bedeutungsflächen, Mehrdimensionalität, Farbwerte schafft, die der Kurzatmigkeit einer auf raschen Verbrauch hin orientierten Gesellschaft im Weg stehen – es zeugt vom Engagement absoluter Poesie. Die Entwürfe der großen Lyriker nach 1945 gehen in diese Richtung: Paul Celan spricht von den Bemühungen des Lyrikers, „der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der zeitlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend“; Peter Huchel vergleicht den Ursprung eines Gedichtes mit „ein paar Eisenspäne(n) (…), noch außerhalb des magnetischen Feldes“; und Günter Eich spricht von „trigonometrischen Punkten oder Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren“. Es ist der Weg, der zurückgelegt wird von der Maxime in Goethes Faust, dem zukunftsweisenden „Ins Freie!“, hin zu der Lage des vereinzelten bürgerlichen Ich im 20. Jahrhundert, das „auf das Unheimlichste im Freien“ ist. Um die Sprache, die das auszudrücken vermag, geht es. Es herrscht eine Vielstimmigkeit des Wortes, die nicht auf zuzuordnende Gefühlswerte abhebt, sondern für sich steht. Insofern muß das Ich sich selbst vergessen, wenn es sich mittels der Sprache bewahren will. Günter Eichs Gedicht „Nachhut“, von Hubert Witt ausgewählt, steht als fremdes, kalt das Gelände fixierendes Zeugnis inmitten der Lyrik der 50er Jahre:

Unsere Worte werden von der Stille aufgezeichnet.
Die Kanaldeckel heben sich um einen Spalt.
Die Wegweiser haben sich gedreht.

Günter Eich ist als einziger jener großen Lyriker in Witts Band vertreten, die aus dem Wort heraus ein Gegengewicht zur Restauration, der Adenauerzeit, zum Muff der 50er Jahre schaffen. „Betrachtet die Fingerspitzen“: hier wird die Frage nach der Schuld gestellt, und zwar nach der Schuld des untergetauchten einzelnen, nach 1945 geflissentlich umgangen. Wie sehr der scheinbar abseits alles Politischen verlaufende Weg der „absoluten“, sich entziehenden Metapher eine notwendige ästhetische Konsequenz dieser Zeit war, wird deutlich, wenn man die Haupttendenzen westdeutscher Lyrik nach 1945 auf die Frage hin untersucht, wie sie den Faschismus verarbeitet. Tonangebend war ein dunkles Pathos des Geworfenseins, ein jeglicher Geschichtlichkeit enthobenes mystisches Geraune, das sich der konkreten Vergangenheit nicht stellte und lieber in Mechanismen flüchtete, die von der bürgerlichen Geistesgeschichte bereitgestellt wurden und den Abgrund des Seins beschwören halfen. „Des Dämons wilde Hochzeit“, heißt es bei Reinhold Schneider – „Auf dunklen Straßen blühen Gift und Tod.“ Oda Schaefers Mahnung „Die Totenkolonnen / wachsen seit Anfang der Welt“ stellt sich, hochmoralisch, in den Dienst der Verdrängung; bei Werner Bergengruen wird das Grauen entzeitlicht und in den alttestamentarischen Mythos überführt: „das rote Schreiten / des Engels mit den Feuerschuhn“, Naturbilder, wie sie Wilhelm Lehmann zur Ausstaffierung des Schreckens benutzt, sind angesichts des realen Schreckens harmlos geworden. Sein Versuch, einen „unberühmten Ort“ herzustellen, muß zwangsläufig ideologisch werden, da er den Geist des Wiederaufbaus alter Strukturen unterstützt. Und wo die „Konzentrationslager“ wie bei Georg von der Vring thematisiert werden, entschärft ein leichtes, schlichtes Reimen das Inhaltliche und untermauert eine melancholische Betulichkeit. Die Sprache transportiert den herrschenden Geist. Sie ist kein Ort der Wahrhaftigkeit, kein Ort, an dem sie sich bewahrt hat: sie ist kein Widerpart.
In diesem Zusammenhang, und Witts Anthologie stellt ihn her, ist auch nach der ästhetischen Leistung Gottfried Benns zu fragen. Witt hat vollkommen recht, wenn er die Texte, welche eine abstrakte Reinheit geistiger Gefilde postulieren, gegenüber dem in Benns Spätphase vorherrschenden lakonischen Ton vernachlässigt. Die hier hart zugeschliffenen Konturen, die sich als Distanz, aus schneidender Kälte definieren, entwerfen eine ästhetische Wirklichkeit, die den bigotten Grauschleier der Adenauerzeit zerreißt und die mystischen Daseinsentwürfe in ihrer Heuchelei bloßstellt. Es gibt auch dann eine Wahrheit des unbestechlichen Blicks, wenn sie sich subjektiv als antipolitisch, ja als elitär mißversteht:

vom Nebentisch
Hotelqualitäten in Frankfurt
Vergleiche,
die Damen unbefriedigt
wenn ihre Sehnsucht Gewicht hätte
wöge jede drei Zentner.

Witt bemerkt in seinem Nachwort treffend, daß viele von Benns späten Gedichten als „Vorläufer moderner Alltags- und Porträtgedichte“ gelten können – eine demaskierende, Innovation in den 50er Jahren. Nur: die Wiederaufnahme der bloßen Form kann heute nicht mehr genügen. Der ästhetische Widerpart, den Benn schuf, muß heute zwangsläufig, andere Formen finden, wenn er nicht in das bereits Bekannte zurückfallen soll. So sind einige bundesdeutsche Gedichte der 70er Jahre im historischen Kontext durchaus relevant, durchbrechen aber nicht ihre spezifische Zeitgebundenheit.

Schlagen wir noch einmal den Bogen zu den 80er Jahren, zur Situation des Augenblicks. Hans-UIrich Treichel und Sabine Techel, zwei der drei Preisträger des Leonce-und-Lena-Preises 1985, des wichtigsten Lyrikpreises der BRD und Gradmesser der jeweiligen offiziell geförderten Stimmung, sind im letzten Jahr unter dem Motto „Lyrik im Mai“ bei Suhrkamp mit eigenen Bänden veröffentlicht worden. Durch die immer größer werdende Vernetzung des Literaturbetriebs, durch die zunehmende institutionelle Förderung ist der öffentlich gehörte Ton weit mehr von den Medien und Kulturinstanzen bestimmt, als das vor den 70er Jahren der Fall war. Das Ergebnis ist zwangsläufig: daß Abseitiges, Verqueres oder einfach, das, was nicht von vornherein in die gerade bestimmende Tonlage paßt, unter den Tisch fällt. Avancierte, neue und das Risiko bewußt in Kauf nehmende Schreibweisen, wie sie vereinzelt in den engagierten Literaturzeitschriften wie Manuskripte oder Schreibheft auftauchen, haben bislang beim Leonce-und-Lena-Preis keine Chance gehabt. Für diesen kommt folgendes in Betracht:

Mit der ich Mozarella aß
Ihr Federbett war grün wie Gras
Die in der großen Stadt verschwand
Die Schuhe trug sie in der Hand
Der Mond fiel in den grauen Fluß
An die ich immer denken muß

Dies stammt – vom letzten Preisträger, Hans-Ulrich Treichel. Einen der beiden Förderpreise bekam Sabine Techel:

NACHTVERS

Ach ich, gierig
nach einem gierigen Mann
den ich vom Sessel kalt lächelnd
bestaunen kann.

In der Perspektive, wie sie Hubert Witt in seiner Anthologie zur Diskussion stellt, kann der historische Ort dieser Lyrik recht genau bestimmt werden. Er hat viel mit den 50er Jahren zu tun. Es ist ein Abwiegeln, ein sich nach Eleganz sehnendes Arrangement, das die Gefährdungen der Lyrik, das Provokative des literarischen Sprechens zurücknimmt auf ein atmosphärisches Einverständnis mit dem Gegebenen. Das Risiko, abseits zu stehen, wird belächelt. Es geht nur darum, „drin“ zu sein in der Belanglosigkeit des gerade Dahindriftenden. Das Gedicht als kleiner Hort eines geliehenen Selbstgefühls, als kokette Spielerei, die den Konversationston von Stehpartys und geschlossenen Gesellschaften für die Literatur erkämpft hat. Die Lyrik war immer, wo sie durch die Zeit hindurchgegangen ist und eine prismenhafte Vergegenwärtigung war, das genaue Gegenteil vom bloß gut Gesagten. Wo sich die Sprache allzu willfährig ergibt, ist sie bereits durch die Hochglanzprospekte und Mittelschichtsillustrierten an die Kette gelegt worden. Es gilt mehr denn je, was Günter Eich Anfang der 50er Jahre forderte:

Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!

Helmut Böttiger, Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1987

 

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Kalliope

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