Jannis Ritsos: Deformationen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jannis Ritsos: Deformationen

Ritsos/Ritsos-Deformationen

DAS SCHWARZE BOOT

Der alte Mann sitzt auf der Türschwelle. Nachts.
aaaaaAllein.
Er wiegt einen Apfel in der Hand. Die anderen
gaben ihr Leben in die Obhut der Sterne.
Was sollst du ihnen sagen?  Die Nacht ist Nacht.
Und wir wissen nichtmal, was ihr folgt. Der Mond
gibt vor, sich zu vergnügen,
während er ununterbrochen aufblitzt im Meer. Aber
in dieser Herrlichkeit ist deutlicher zu erkennen
das schwarze zweirudrige Boot, dazu der dunkle Bootsmann,
aaaaader immer höher wächst.

Athen, 4.5.1988

 

 

 

Editorisches Nachwort

In Vorbereitung auf dieses Buch habe ich das gesamte edierte Werk – fast 100 Bände unterschiedlichen Umfangs – sowie viele der unveröffentlichten Gedichtzyklen von Jannis Ritos (1909–1990) durchgesehen. Von den über 7.000 Gedichten, die er zwischen 1930 und 1989 geschrieben hat, wählte ich etwa 320 aus. Die vorliegende Anthologie versucht, die innere Zwiesprache, die Jannis Ritsos über sechzig Jahre mittels seiner Dichtung geführt hat, nachzuvollziehen. Diese Rekonstruktion offenbart, ich würde sagen zwangsläufig, die unsichtbare Biographie des Dichters: die sehnsuchtsvolle Melancholie der dreißiger Jahre; die ironisch-verzweifelte Sicht auf Krieg und Bürgerkrieg, die „Reinheit“ als Überlebensstrategie in den Vierzigern; die existentialistische Nachdenklichkeit der fünfziger Jahre; die Flucht in den Mythos, in die als notwendig empfundene Maskierung der sechziger Jahre; Fragmentarismus, Desillusionierung und die Auseinandersetzung mit dem Tod als soziales Phänomen Anfang der siebziger Jahre; die Entdeckung der neuen Einfachheit und der Dialog mit dem Tod als individuelles Phänomen in den Achtzigern. Diese – hier grob und schematisch skizzierte – innere Zerrissenheit und außerordentliche Flexibilität blieben bei Ritsos zeitlebens hinter einem in der Öffentlichkeit konsequent vertretenen marxistischen Standpunkt verborgen. Für den Dichter keineswegs ein Widerspruch.
Ritsos, der seit 1931 Mitglied der kommunistischen Bewegung Griechenlands und eines ihrer Aushängeschilder war, zeichnete sich durch die Orthodoxie – im wahrsten griechischen Sinne des Wortes – seiner weltanschaulichen Haltung aus, mit allen Konsequenzen für sein Leben: Verbot seines Buches Epitaph durch die Metaxas-Diktatur 1936, Engagement im antifaschistischen Widerstand (1940-1944) und im Bürgerkrieg (1945–1948), Verbannung (1948–1952), Publikationsverbot zwischen 1945 und 1952, Kandidatur für die linke EDA bei den Wahlen von 1964, Inhaftierung und Verbannung durch die Junta (1967–1969) und Hausarrest (1969–1971). Möglicherweise war diese Fixierung, „ein Dichter des Volkes“ zu sein, wie er populistisch (aber auch voller Sympathie) genannt wurde, für ihn die Voraussetzung, seine geistigen Experimente und poetischen Phantasien – gleichsam vor aller Augen im verborgenen – auszuleben. So folgte ich Ritsos’ Hinweis, seine eigentliche Biographie finde sich in seinen Gedichten, die allerdings in ihrer Mehrzahl ihre eigene Sprache sprechen, skeptizistisch, abgründig, zerrissen, unentschieden, dem Tod nahe und zugleich von ihm abgewandt.
Die Arbeit an diesem Buch begann 1983 und wurde im Spätsommer 1993 beendet. Im Vordergrund stand für mich zunächst das neuere Schaffen des Dichters, der mich 1985 und 1986 einlud, in seinem Archiv zu arbeiten, die unveröffentlichten Gedichtzyklen zu lesen und alles, was ich brauchte, abzuschreiben. Trotz der Konzentration auf die literarische Produktion der siebziger und achtziger Jahre habe ich wichtige Texte aus all seinen Schaffensperioden berücksichtigt, allerdings mit drei Einschränkungen:

1. Ich verzichtete auf die „patriotischen Gedichte“, einmal weil Zyklen wie „Epitaph“, „Romiossini“ (Griechentum) oder die „Nachbarschaften der Welt“ usw. in anderen deutschsprachigen Anthologien bzw. Ausgaben zu finden sind, zum anderen weil sie ihrer Länge wegen hätten gekürzt werden müssen und schließlich, weil sie mich persönlich nicht in dem Maße wie die hier versammelten Texte interessierten. Mein Des-Interesse deckt sich offensichtlich mit den „ästhetischen Vorbehalten“ Ritsos’ gegenüber dieser Gedichtgruppe, dem – wie er es nannte – „Widerspruch zwischen dem Jetzt und dem Immer, zwischen den beiden Notwendigkeiten: der konkreten historischen Wirklichkeit (die widergespiegelt wird in Epitaph, Griechentum, Nachbarschaften der Welt, Der rußgeschwärzte Topf … usw.) und der ‚mythischen‘Wirklichkeit der Menschheitsgeschichte … Wenn ich die erstgenannten Gedichte lese, finde ich sie flach im Vergleich zu meinen mythologischen“ So steht’s in einem Brief vom 15.5.1972 an Chrissa Prokopaki.

2. Gänzlich außer acht gelassen habe ich die sogenannten politischen Gedichte, die ohnehin nur einen Band (Kameradschaftliche Lieder) seiner etwa 140 Bücher ausmachen und die er selbst als „Gelegenheitsverse“ bezeichnete, die „mehr mit Rhetorik als mit Dichtung zu tun haben“, auch wenn sie – vor allem in Griechenland – zum großen Teil sein Bild in der Öffentlichkeit geprägt haben.

3. Nicht berücksichtigen konnte ich die mythologischen Monologe aus dem äußerst bedeutenden Sammelband Vierte Dimension (z.B. die bereits auf deutsch veröffentlichten „Chrysothemis“, „Agamemnon“, „Die Rückkehr der Iphigenie“), da dies vom Umfang her den Rahmen dieser Edition gesprengt hätte. Zum andern findet sich die Auseinandersetzung mit mythologischen und historischen Themen der griechischen Antike zur Genüge in vielen anderen Gedichten auch dieses Bandes („Delphi“, „Antike Festung“, im Zyklus „Wiederholungen“ usw.) Aus denselben – platzökonomischen – Gründen habe ich im übrigen auch auf Anmerkungen verzichtet, mit Ausnahme jener zum Ungeheuren Meisterwerk, dessen erzählerische Linie Nichtgriechen wohl nur schwer ohne eine gewisse Hilfestellung folgen können. Diese Einschränkungen offenbaren, daß der Leser hier keine literatur-wissenschaftliche Edition, sondern ein subjektiv geprägtes „Ritsos-Lesebuch“ in der Hand hält, in dem allerdings der Versuch unternommen wird, wichtige Momente eines gewaltigen Lebenswerks zu dokumentieren, das viele Experimente und Brüche aufzuweisen hat.

Im folgenden die wichtigsten Prinzipien, die für Auswahl und Struktur des vorliegenden Buches ausschlaggebend waren:

1. Die Reihenfolge richtet sich streng nach der Chronologie. Das Datum unter den einzelnen Gedichten bezeichnet stets den Tag der ersten Niederschrift. In der Regel folgten zwei oder mehrere Überarbeitungen, wobei das Datum der ursprünglichen Idee von Ritos beibehalten wurde. Vor allem bei früheren Gedichtzyklen notierte Ritsos nur den Entstehungszeitraum der ganzen Sammlung oder von Gedichtgruppen innerhalb der Sammlung [bei mir Jahreszahlen in eckigen Klammern]. In diesem Fall ist für die entsprechende Reihenfolge die erste Jahreszahl ausschlaggebend. In einigen Fällen mußte ich, um der Chronologie gerecht zu werden, einzelne Gedichte bzw. Gedichtgruppen, die zu einer Sammlung gehörten, splitten, wenn zwischendurch andere Zyklen entstanden waren (vgl. „Übungen“, „Monovassia“). Demgegenüber habe ich die römischen Ziffern in einigen Überschriften von Ritsos übernommen. Sie bezeichnen mehrere nacheinander geschriebene Zyklen mit ein und derselben Überschrift (z.B. Widerholungen I: Erste Reihe; Wiederholungen II: Zweite Reihe; usw.).

2. Ich habe nur in sich abgeschlossene Gedichte berücksichtigt. Mit zwei Ausnahmen: aus der „Frühlingssinfonie“ und dem „Marsch des Ozeans“ wurden zwei wiederum in sich abgeschlossene Teile ausgewählt, weil es mir wichtig war, die Atmosphäre, die Ende der dreißiger Jahre herrschte, festzuhalten.

3. Ich war bestrebt, zum größten Teil deutsche Erstübersetzungen vorzulegen, vor allem im Hinblick auf andere deutschsprachige Ritsos-Anthologien. So dürfte meines Wissens nach von den hier aufgenommenen 320 Texten bislang nur etwa 35 ins Deutsche übersetzt worden sein. Ich denke dabei an folgende Anthologien, die auch die Rezeptionsgeschichte dieses Dichters in Deutschland schlagartig beleuchten:
1968 Klaus Wagenbach Verlag Berlin
1970 Verlag Volk und Welt Berlin (DDR)
1971 Damokles Verlag Ahrensburg-Paris
1979 Reclam Verlag (DDR) & Carl Hanser Verlag München
1983 Verlag Neues Leben Berlin (DDR)
1989 Carl Hanser Verlag München
1991 Suhrkamp Verlag Frankfurt/M.

Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der ehemaligen DDR wurde Ritsos zur Zeit der griechischen Obristendiktatur (1967–1974) entdeckt, was eine – mit wenigen Ausnahmen – eingeschränkte Rezeption der „aktuellen Gedichte“, wie Ritsos selbst einen Teil seines Werks nannte, bedeutete. Erst im Suhrkamp-Band von 1991 – ich spreche hier selbstverständlich nur über Anthologien – wird dieser Autor als bedeutender nationaler Dichter wahrgenommen und präsentiert.
Und obwohl auch in Frankreich die anfängliche Rezeption 1951 über den „kämpferischen“ Ritsos begann – mit der Übersetzung des Gedichts „Brief an Joliot Curie“ −, entdeckten die großen französischen Verlage doch sehr schnell die eigentliche poetische Substanz dieses Dichters in seiner „Vierten Dimension“, wie der Band mit den mythologischen Monologen heißt.

4. Die Auswahl will die formal-ästhetische Vielfalt von Ritsos’ Poesie dokumentieren. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich seine Gedichte in folgende Gruppen einteilen:
a) Bei den meisten Gedichten dieser Auswahl („Aufzeichnungen am Rande der Zeit“, „Parenthesen“, „Übungen“, „Zeugenaussagen“) folgt Ritsos einer konsequent assoziativen Schreibweise. Die Poetik dieses Gedichttyps, den Ritsos sein Leben lang für seine Artikulation als notwendig empfand, erläuterte er im Essay „Einleitung zu den Zeugenaussagen“ von 1962.
b) Bei den „Wiederholungen“, aber auch bei einigen Texten aus den „Zeugenaussagen“ und anderen Gedichtzyklen, steht die philosophische bzw. ideologiekritische Auseinandersetzung mit historischen und weltanschaulichen Problemen im Mittelpunkt, die sich thematisch vor einem mythologischen Hintergrund abspielen. Diese Maskierung, das Hineinschlüpfen in dritte Personen aus der Mythologie oder Antike, war für Ritsos von Anfang der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre von außerordentlicher Bedeutung, zu einer Zeit also, da in Ritsos’ Selbstverständnis das „unabwendbar Tragische zur Karrikatur“ verkommen war, wie er das in seinem hier abgedruckten Essay „Beim Wiederlesen der Gedichtbände…“ formuliert.
c) Den fragmentarischen, überschriftslosen Gedichttyp der „Anspielungen“, „Papiernes“, „Also?“, „Sekunden“ usw. verwendet Ritsos erstmals während der Juntazeit um 1970 und dann wiederholt bis zu seinem Lebensende. Es ist ein Auf-die-Spitze-Treiben der Anfang der sechziger Jahre postulierten „Zerteilung des Augenblicks“, um wenigstens dadurch zu einem Erfassen, zu einer möglichen Synthese der Wirklichkeit zu gelangen.
d) Bei den „Monochorden“ und „Tristichen“, die Anfang der achtziger Jahre entstanden, ist die formale Vorgabe, die Konzentration auf einen, bzw. drei Verse, ausschlaggebend. Es sind aphorismusartige Sentenzen – an einem der Monochorde nennt Ritsos diese „meine Schlüssel“ – aus einem schier unerschöpflichen poetischen Zettelkasten.
e) Einen eigenen Stellenwert in Ritsos’ Werk besitzen die drei Sammlungen „Italienisches Tryptichon“, „Monovassia“ und „Erotica“. Es sind wohl die einzigen drei seiner etwa zweihundert Gedichtzyklen (abgesehen von den längeren Gedichtkompositionen „Ostrava“ und „Delphi“), deren Inhalt bereits durch den Titel programmatisch festgelegt ist, zum einen auf eine bestimmte Landschaft, zum andern auf das Thema Liebe.
f) „Das Ungeheure Meisterwerk“ schließlich steht für die vielen längeren Gedichtkompositionen, die für Ritsos so typisch gewesen sind und die er bis Anfang der achtziger Jahre als Dicht-Form bevorzugte. Zudem ist dieser – autobiographische – Text eine Spiegelung meiner gesamten Auswahl, de facto eine „autorisierte“ innere Biographie des Dichter.
g) Die zwei in den Band aufgenommenen Essays und die Prosatext sollen eine andere – ergänzende – Sicht auf den Lyriker Ritsos und einen Blick auf den Theoretiker ermöglichen, zugleich die Nähe seines prosaischen und lyrischen Ausdrucks offenbaren.

Eine ganz andere Sicht auf den Menschen Ritsos wollte ich dem Leser mit meinen Tagebuchaufzeichnungen ermöglichen. Es sind allerdings sehr persönliche Protokolle über unsere Begegnungen, die mir insofern von Interesse scheinen, als daß sie den Humor und die Vitalität dieses schmächtigen, stets auf sein Äußeres bedachten Ästheten erahnen lassen. Ritsos strahlte eine unglaubliche Energie aus, hatte eine gewisse Aura, was ich damals – sicherlich mehr unbewußt – spürte und darum festzuhalten bedacht war. Diese Aufzeichnungen dokumentieren aber auch meine langjährige geistige Beschäftigung mit Ritsos’ Werk. Einige dieser Gedanken wurden später in ganz anderer – abgeschlossener – Form veröffentlicht. Insofern erübrigte sich für mich auch ein „ordentliches Nachwort“ zu diesem Buch, dessen Inhalt zudem geprägt ist von den gesellschaftlichen, moralischen, politischen und zwischenmenschlichen „Deformationen“, mit denen Ritsos ein Leben lang konfrontiert wurde und die er – ein Leben lang – poetisch zu fassen suchte. Obwohl ich bislang viele Übersetzungen vorgelegt haben, ist dieses Buch zweifellos mein „Ungeheures Meisterwerk“. Und gerade darum möchte ich betonen, daß es nicht voraussetzungslos entstanden ist. Ganz im Gegenteil. Immerhin brauchte es über zehn Jahre; und in diesen wurde mir viel geholfen…

Asteris Kutulas, Herbst 1993 / Sommer 1996

 

Die Schönheit, niemals verriet ich sie

– Jannis Ritsos – ein Dichter wird neu entdeckt. –

Musikeinspielung: CD 1, Stück 3, 00:26 – 01:12 spielen und wieder ab 01:42 auf die Instrumentalmusik einsprechen und allmählich ausklingen lassen.

Zitator:

An einem Maitag gingst Du fort, an einem Maitag habe
ich Dich verloren,
im Frühling, Sohn, wo Du so gern hinaufstiegst
auf die Terrasse, um zu schauen, und unersättlich
mit deinen Augen das Licht der ganzen Welt aufsogst.

Ach Söhnchen, wenn du mir auch die Sterne und den
weiten Himmel zeigtest,
ich sah sie noch leuchtender in deinen meeresblauen
Augen.

Und sagtest mir, mein Sohn, dass all dies Schöne uns gehören werde,
doch jetzt bist du erloschen und mit dir erloschen
Licht und Feuer.
(1)

(zitiert aus:  Jannis Ritsos,  Unter den Augen der Wächter (Buchtitel), „Epitaphios“ (Gedichttiel) S. 11–12, Hanser 1989, Übersetzer: Armin Kerker)

Sprecherin:

Am 9. Mai 1936 wird in der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki bei einer Demonstration streikender Tabakarbeiter ein junger Mann erschossen. Das Zeitungsfoto seiner weinenden Mutter, die verzweifelt am Boden kniet, erschüttert einen Dichter, der damals selbst erst 27 Jahre alt ist. In einer einzigen Nacht schreibt er die zwanzig Gesänge des „Epitáphios“, der Trauer einer Mutter um ihren Sohn nieder und wird damit berühmt.

Sprecher:

Kurze Zeit später wird der „Epitáphios“ unter der Diktatur von Ioannis Metaxás zusammen mit anderen ‚gefährlichen‘ Werken verbrannt. Dies ist der Beginn eines fast vierzig Jahre dauernden politischen Systems der Verfolgung und Unterdrückung der Linken in Griechenland. Die heute gültige Fassung des Gedichtzyklus sollte erst 1956, zwanzig Jahre später, erscheinen. Vertont hat sie Mikis Theodorakis, der damals als Stipendiat der französischen Botschaft in Athen am Pariser Konservatorium studierte.

Musikeinspielung: CD 1, Stück 1, 00:00 – 00:16, falls mehr Zeit, noch weiter

Sprecherin:

„Epitáphios“, so lautet die orthodoxe Totenklage am Karfreitag. Sie erzählt die Geschichte der Kreuzigung aus der Sicht der verzweifelten Mutter Maria. Der junge Dichter Jannis Ritsos hat die moderne, säkulare Trauer einer Mutter im Frühling in diese alte byzantinische Form gefasst; zugleich verband er sie mit den griechischen Totenliedern, den Mirológia, die bei Beerdigungen von den Dorfbewohnern gesungen werden. Ihm war etwas völlig Neues gelungen, nämlich das traditionelle griechische Volkslied mit einer schlanken, poetischen Sprache zu verbinden.

Sprecher:

Wie sein Freund Jannis Ritsos in der Dichtung, knüpft auch Mikis Theodorákis bei der Vertonung des Werkes an die Wurzeln der Volksmusik sowie der byzantinischen Musik an und verbindet sie mit den Rembétika, den Liedern der Flüchtlinge aus Kleinasien. Er unterlegt seine Komposition mit dem Instrument der Huren und Zuhälter, der Bouzouki, die damals verpönt war. Diese herbe, bittere Musik verstärkt den Klang der Poesie von Jannis Ritsos:

Musikeinspielung, CD 1, Stück 3, 02:51 – 03:18 bis Ende

Sprecherin:

Im „Epitáphios“ hat Ritsos einen Ton gefunden, der zur Volkssprache, der Dimotikí, in einem lebendigen Kontakt steht.  Er erinnert an den griechischen Dichter Dionysios Solomós, der im 19. Jahrhundert die Dörfer aufsuchte und sich Sprache, Gesten und Idiome der Menschen notierte. Dies war ein poetischer Fundus, auf den auch Ritsos zurückgriff. Die frühe Begegnung mit der Landbevölkerung und ihrer Sprache gehört zu den wenigen glücklichen Erinnerungen an seine Kindheit.

Sprecher:

Jannis Ritsos wird am 1. Mai 1909 in Griechenlands tiefstem Süden, an der Ostküste der Peloponnes, in Monemvassiá, geboren. Ein abgeschiedenes Felsennest, an dessen Steilküste das Meer seinen Rhythmus der Jahrtausende schlägt. Ritsos ist der jüngste Sohn einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie. Er wächst in einem Haus auf, das von Krankheit und Tod, Wahnsinn und Einsamkeit geprägt ist. Die Regierung von Ministerpräsident Wenizélos hatte die Familien der Großgrundbesitzer in den zwanziger Jahren im Zuge einer Bodenreform entschädigt. Das Geld, das die Familie Ritsos erhielt, hatte der Vater in kurzer Zeit für seinen Lebenswandel durchgebracht. Die Mutter teilte ihr Leben mit einem Mann, der seine Tage in  Kneipen und die Nächte beim Kartenspiel verbrachte.

Ritsos notierte:

Zitator:

Die Erinnerung an den großen, schönen, arroganten und eigensinnigen Vater ist eine Erinnerung an die Pest, da alles, was er berührte, zerstört wurde. (2)

(zitiert aus: Evi Petropoulou, Geschichte der neugriechischen Literatur, (Titel) Übersetzerin: Evi Petropoulou, S. 317, Suhrkamp 2001)

Sprecherin:

Mit der geliebten Schwester Loula, mit der Ritsos ab 1921 das Gymnasium in der nächstgelegenen Provinzstadt besucht, verbindet ihn eine enge Beziehung. Der Lyriker Nikiphóros Vrettákos ging damals auf dieselbe Schule und erinnert sich an sie:

Zitator:

Die eng miteinander verbundenen Geschwister sonderten sich von den anderen Kindern ab. Der junge, sensible, die Einsamkeit suchende Ritsos flößte seinen Mitschülern eine Art Respekt ein. Man konnte sich die beiden Geschwister nicht getrennt voneinander vorstellen. (3)

(zitiert aus: Jannis Ritsos, Unter den Augen der Wächter, (Titel), Hanser 1989, S. 126, Übersetzer: Armin Kerker)

Sprecher:

Zu dieser Zeit stirbt Ritsos’ älterer Bruder an Tuberkulose und auch die Mutter, die zeitweise in der Psychiatrie war, erliegt dieser Krankheit einige Monate später.
1923 gehen Loula und Jannis nach Athen, um dem traumatischen Familienschicksal zu entfliehen. Ritsos, der für seine schöne Schrift bekannt war, arbeitet in verschiedenen Ämtern als Schreibkraft, bis auch er 1926 an dem heimtückischen Lungenleiden erkrankt. Die Tuberkulose, die Krankheit der Habenichte und Hungerleider, haftet ihm von nun an wie ein Stigma an. Die folgenden Jahre verbringt er in Lungenheilanstalten in Athen und auf Kreta.  Diese Zeit der langsamen und ruhigen Rhythmen in Sanatorien zwingt ihn, über sich selbst nachzudenken; sie ist zugleich eine Zeit der Entbehrung: er verbringt sie in Vergessenheit, als Kranker ‚zweiter Klasse‘ in der ‚Abteilung für Arme‘.

Kurze Musikeinspielung CD 2, Stück 4, 00:20 – 00:25

Sprecherin:

Die Zensur des Regimes von Diktator Metaxás zwingt Ritsos zur sprachlichen Selbstbeschränkung. Er entwickelt Formen des verknappten Ausdrucks, der Andeutung und der Ambivalenz.
1941 taumelt Griechenland in den zweiten Weltkrieg. Der kranke Dichter arbeitete während dieser Jahre in der Erziehungsabteilung der EAM, der Linken Nationalen Befreiungsfront. Nach dem Ende des Krieges wartet auf die gequälte Bevölkerung weiteres Leid: dem Dezemberaufstand von 1944 folgt der blutige Bürgerkrieg von 1945 bis 1949, in dem sich rechte Royalisten und die linke Volksfront in erbitterter Feindschaft gegenüberstehen. Dieser grausame Bürgerkrieg sollte das Klima Griechenlands noch für die nächsten Jahrzehnte vergiften.

Sprecher:

Ritsos fasst seine Vision von einer griechischen Einheit in zwei größere Gedichtzyklen, in denen er an den „Epitáphios“ anknüpft. „Romiosíni“  und „Die Herrin der Weinberge“ die zwischen 1945 und 1947 entstehen. Während der Osmanischen Herrschaft wurde mit ‚Romiosíni‘ das Griechentum bezeichnet. Es geht aus dem türkischen Wort ‚Rum‘ hervor. Auch im modernen Griechisch ist ein ‚Romiós‘ ein Synonym für einen stolzen Griechen. „Romiosíni“ – „Griechentum“ ist eine Hymne an die karge griechische Landschaft und die Menschen, die mit ihr verschmolzen sind:

Zitator:

Diese Bäume dulden einen geringeren Himmel nicht,
diese Steine verweigern sich dem fremden Schritt,
diese Gesichter können nur unter der Sonne sein.
Diese Landschaft ist hart wie das Schweigen,
sie presst in ihrem Schoß das heiße Gestein,
in ihrem Licht die verwaisten Ölbäume und die Weinstöcke,
sie presst die Zähne zusammen. Es gibt kein Wasser.
Nur Licht.
Alle dürsten. Jahre nun. Alle kauen sie einen Bissen Himmel
über ihrer Bitterkeit.
Ihre Augen rötet die schlaflose Nacht,
eine Furche tief, eingekeilt zwischen den Brauen,
wie eine Zypresse zwischen zwei Bergen im Abendglanz
. (4)

(zitiert aus: Milos geschleift, (Buchtitel) Reclam Leipzig 1979, S. 14, „Griechentum“ (Gedicht)  Übersetzer: Thomas Nicolaou)

Musikeinspielung CD 3, Stück 1, 01:04 – 02:04

Sprecherin:

Auch nach dem Krieg führt Ritsos in Athen ein unbeachtetes Leben. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, arbeitet als Schauspieler und Regisseur, manchmal auch als Tänzer bei drittklassigen Revuen. Eine sogenannte ‚bessere‘ Arbeit konnte ein armer Provinzler nur finden, wenn er ein Gesundheitszertifikat und ein Entlassungszeugnis vom Militär vorlegen konnte. Einmal gelang es Ritsos jedoch, Gedichte in der avantgardistischen Literaturzeitschrift Nea Grámmata zu veröffentlichen. Ihr Herausgeber war der konservative Lyriker und spätere Nobelpreisträger Giorgios Seféris. Ritsos berichtet:

Zitator:

Als die Zeitschrift Nea Grámmata 1936 einige Gedichte von mir veröffentlichte, wussten die Redakteure nicht, dass sie von mir sind. Da mich dieser Kreis, zu dem auch Seféris gehörte, ständig bekämpfte und boykottierte, wollte ich wissen, ob die Gründe hierfür mehr künstlerischer oder weltanschaulicher Natur waren. Ich schickte also der Zeitschrift unter dem Pseudonym Kostas Eleftheríou einige Gedichte. Die Redaktion war begeistert und druckte sie sofort. Als bekannt wurde, dass sie von Ritsos stammten, waren sie dort außer sich. (5)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Deformationen, (Buchtitel) Romiosini Köln 1996, S. 267, Übersetzer: Asteris Kutulas)

Sprecher:

Im Prozeß des Verfalls seiner Familie, der Krankheit und der ständigen Demütigungen sucht der Dichter Zuflucht bei den Dingen, die ihn umgeben. Die Welt des Jannis Ritsos besteht aus kleinsten und einfachen Dingen, sie werden in seiner Dichtung ständige Begleiter sein:

Zitator:

Unbedeutende Dinge, die dir gehören, uns. Ja, sie sind unbedeutend, aber sie bestätigen dir zart, dass du existiert hast, dass du existierst, existieren wirst. (6)

(zitiert aus: Jannis Ritsos, Ikonenwand anonymer Heiliger, (Buchtitel), Volk und Welt  Berlin 1986,  Band 2, S. 119, Übersetzer: Thomas Nicolaou)

Sprecherin:

Bei Ritsos werden die Dinge, das Haus, die Möbel, die Kleider und andere Gegenstände mit einer neuen Bedeutung aufgeladen, sie können sprechen und erwecken magische Assoziationen.
Mit dem Blick auf Kleinigkeiten arbeitet der Dichter zielbewusst gegen eine quälende Selbstgefährdung an. Durch eine intensive sinnliche Beziehung zu scheinbar unbedeutenden Dingen vergewissert er sich immer wieder, dass Leben möglich ist. Eines seiner schönsten Gedichte erschien 1946 in der Sammlung Parenthesen, zu Deutsch Beiläufigkeiten. Der Titel gibt Auskunft über das Interesse, das seinen poetischen Blick leitet:

Zitator:

Der Sinn der Einfachheit

Hinter einfachen Dingen verstecke ich mich, damit ihr mich findet.
Findet ihr mich nicht, findet ihr die Dinge,
ihr berührt, was meine Hand berührt hat,
die Spuren unserer Hände treffen sich.

Der Augustmond glänzt in der Küche
wie ein verzinnter Topf (das ist zu dem Zweck, von dem ich spreche),
er erhellt das leere Haus und das auf Knien liegende Schweigen des Hauses.
Schweigen bleibt immer auf Knien liegen.

Ein jedes Wort ist ein Aufbruch
zu einer Begegnung, viele Male gescheitert,
und ein wahres Wort ist es dann, wenn es auf der Begegnung besteht. (
7)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Gedichte (Buchtitel)  „Der Sinn der Einfachheit“ (Gedichttitel), Suhrkamp 1991, Übersetzer: Klaus-Peter Wedekind, S. 11)

Kurze Musikeinspielung: CD 2, Stück 4, 01:04 – 01:12

Sprecher:

Auch die Szenerie und die Ereignisse in Ritsos’ lyrischer Welt kommen ohne Sensationen aus. Da ist ein Kranker, der der Musik einer Taverne in der Nachbarschaft lauscht. Ein Lastwagenfahrer bewacht seine Fracht von Honigmelonen und kämmt sich dabei die Haare. Aus der Ferne himmeln ihn ein paar Mädchen an. Die Früchte auf der Ladefläche faulen? Eine Schneiderin, die in der Dämmerung die Fensterläden schließt, hat den Mund voller Stecknadeln.
Ritsos, der auch ein begabter Maler und Zeichner war, hat in vielen seiner Gedichte Szenen aus dem griechischen Alltag skizziert. In seiner Leidenschaft für das Leben und der Fähigkeit, die geringste Kleinigkeit, die unbeachtetste Person in Schönheit zu verwandeln, wird er zu einem Chronisten der Provinz von tschechowschem Format.
Trotz ihres augenscheinlichen Interesses für einfache Dinge sind Ritsos’ schönste Gedichte weit davon entfernt, ‚einfach‘ zu sein:

Zitator:

Miniatur

Die Frau erhebt sich vom Tisch. Ihre traurigen Hände
schneiden dünne Zitronenscheiben für den Tee
wie gelbe Räder für ein sehr kleines Wägelchen
aus einem Kindermärchen. Der junge Offizier ihr
gegenüber versunken im alten Sessel. Er achtet nicht auf sie.
Zündet sich eine Zigarette an. Seine Hand mit dem Streichholz zittert,
als das Licht sein rundes Kinn und den Henkel der Tasse erhellt. Die Uhr
unterbricht ihren Herzschlag für einen Augenblick.
Etwas wurde aufgeschoben.
Vorbei der Augenblick. Es ist spät. Lass uns den Tee trinken.
Könnte vielleicht der Tod mit solch einem Wägelchen kommen?
Vorbeikommen und fortgehn? Dass schließlich nur bleibt
dieses Wägelchen mit den gelben Rändern der Zitrone
jahrelang abgestellt in einer Nebenstrasse mit ausgelöschten Laternen
und dann ein kurzes Lied, ein Hauch, und weiter nichts.
(8)

(zitiert aus: Jannis Ritsos, Deformationen, (Titel), Romiosini Köln 1996, „Miniatur“ (Gedichttitel), S. 29, Übersetzer: Asteris Kutulas)

Sprecherin:

In dieser Szene hat Ritsos ein komplexes Miniaturdrama geschaffen, in dem die ‚einfachen‘ Zitronenscheiben zu einer wunderbar komplizierten Metapher werden, die das Herzstück des Gedichtes ist.
Es stellt Fragen über einen möglichen Tod. Wessen Tod? Des Augenblicks zwischen zwei scheinbar isolierten Menschen? Oder wörtlich, den möglichen Tod des jungen Offiziers während des Bürgerkrieges, der vom Schicksal beschlossen wird, als die Uhr für einen Herzschlag aussetzt? Das Gedicht stellt mehrere plausible Fragen, ohne eine Antwort anzubieten.

Kurzer Musiktakt CD 2, Stück 5, 00:05 – 00:15

Zitator:

Ich kann nicht genau sagen, wie und warum ich mich besonderer Ausdauer und Hingabe so viele Jahre hindurch, immerzu mit den ‚Zeugenaussagen‘ beschäftigt und ihnen eine so herausragende Bedeutung beigemessen habe. Obwohl ich doch die langen, synthetischen Gedichte bevorzuge und zu diesen hinneige – trotzdem schreibe ich weiterhin diese lakonischen und oft epigrammatischen Gedichte. vielleicht auch aus dem Wunsch, einen Augenblick zu isolieren, festzuhalten, was seine „mikroskopische“ Tiefenuntersuchung ermöglichen würde. (9)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Deformationen (Buchtitel), Romiosini Köln 1996, Übersetzer: Asteris Kutulas, S. 65-66)

Sprecher:

Jannis Ritsos wurde zum Zeugen von Krieg, Besatzung und Bürgerkrieg, weshalb er eine Gedichtsammlung, die ihm besonders am Herzen lag, Martiríes, Zeugenaussagen nannte. An dieser dreibändigen Edition  arbeitete er seit 1938, parallel zu anderen Arbeiten, viele Jahre lang, bis sie ihren endgültigen Titel Zeugenaussagen bekam. Wie bei den Parenthesen geben auch hier die Dinge ein Geheimnis preis; diese „greifbaren, unfasslichen und beruhigenden Gegenstände, diese kleinen, alltäglichen Mythen, die ohne es zu wollen, an einem Drama, das sie nicht betrifft, teilhaben und in ihm sogar die Hauptdarsteller sind.“ (10)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Deformationen, (Buchtitel) Romiosini Köln 1996, S. 68, Übersetzer: Asteris Kutulas)

In einer historischen Aufnahme aus dem Jahr 1966 rezitiert Ritsos eines seiner Lieblingsgedichte aus Martiríes:

Einspielung der CD Nr. 4, Ritsos liest Ritsos, 2, 04:42 – 05:12

Zitator:

Erinnerung

Ein warmer Duft war in den Achseln ihres Morgenrocks haftengeblieben.
Der Morgenrock am Haken des Korridors wie ein geschlossener Vorhang.
Was jetzt noch geschah, war in einer anderen Zeit. Das Licht wechselte die Gesichter,
alle unbekannt. Und wenn jemand ins Haus wollte,
hob jener leere Morgenrock langsam, verbittert die Arme
und schloss stumm wieder die Tür.
(11)

(zitiert aus: Jannis Ritsos, Milos geschleift (Buchtitel), Reclam Leipzig 1979,  „Erinnerung“ (Gedichttitel), S. 57, Übersetzer: Thomas Nicolaou)

Sprecherin:

Ritsos verstand seine Dichtung als Zeugnis ablegende Kunst. Sein politisches Engagement war Ziel häufiger Angriffe. Viele Widerstandskämpfer waren nach dem Bürgerkrieg in sozialistische Nachbarländer geflohen; die, die blieben, wurden von der rechten griechischen Regierung auf öde, wasserlose Inseln verbannt: Um die fünfzigtausend linke Demokraten wurden, da sie im Verdacht ‚antinationaler Umtriebe‘ standen, in sogenannten ‚Umerziehungslagern’ interniert.

Sprecher:

Jannis Ritsos, der nie eine Waffe in die Hand genommen hatte, wird 1948 deportiert und nach Limnos gebracht. Von 1948 bis 1952 verbringt er vier Jahre in den Straflagern auf Límnos, Makrónissos und Aji-Stráti.
Er überlebt schreibend. Bis zu seinem Tod 1990 hielt Ritsos seine Gedanken auf einem Holzbrettchen fest, das er auf den Knien liegen hatte. Seit der Zeit, als er unter den Bedingungen der Verbannung seine Gedichte in winzigkleiner Schrift auf Zigarettenpapier immer wieder abschreiben musste und dazu eine harmlos wirkende, aber praktische Unterlage brauchte, die er jederzeit mühelos verstecken konnte, wurde es für ihn ein transportabler Mini-Schreibtisch.

Sprecherin:

Ritsos wählt die Untertöne, eine leise, aber direkte Sprechweise, um vom Tod, der immer da ist, zu berichten.
In einem Gedicht stellt er unter dem Titel „Elementares“ scheinbar alltägliche Fragen:

Zitator:

Hast Du dein Brot gegessen? Konntest du ruhig schlafen?
Konntest du sprechen? Deine Hand ausstrecken?
Hast du daran gedacht, aus dem Fenster zu sehen?
(12)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Unter den Augen der Wächter, (Buchtitel) Hanser 1989, „Elementares“ (Gedichttitel) S. 98, Übersetzer: Armin Kerker)

Kurze Musikeinspielung: CD 2, Stück 5, 00:29 – 00:37

Sprecher:

Auch nach dem Krieg sollte Griechenland eine schwierige Heimat bleiben. 1952 wird Ritsos aus Aji-Stráti entlassen, weil sich Künstler wie Louis Aragon, Pablo Neruda und Pablo Picasso für ihn einsetzten. 1954 heiratet er die Ärztin Garifaliá Giorgiádou aus Samos. Ein Jahr später wird seine einzige Tochter, Elefthería, was Freiheit bedeutet, geboren. Doch sein spätes Lebensglück blieb fragil. Er und seine Generation sollten noch Jahrzehnte später in der Öffentlichkeit als ‚Unperson‘ gelten. 1967 putschten die Obristen und errichteten eine Militärdiktatur.

Sprecherin:

Wegen seiner labilen Gesundheit wird Ritsos in das Haus seiner Frau auf Samos gebracht, wo er sieben Jahre unter Hausarrest und strengster Bewachung lebt. Einige seiner Gedichte aus diesen Jahren sind luzide Beobachtungen über die Paranoia des Gefangenen, der den Zustand der allgegenwärtigen Bespitzelung erlebt und die Auflösung der Grenze zwischen Alptraum und Wirklichkeit. Gleichwohl mündet die verstörte Empfindung des Verlorenseins in ein Gefühl der unangefochtenen Sicherheit, bei sich selbst zu sein, denn der Blick des Dichters fällt immer wieder auf etwas Schönes:

Zitator:

Schönheit? ist etwas, was dich zwingt, (oder besser gesagt, sie suggeriert es dir), sie zu bewahren und mit ihr zusammen auch dich zu erhalten? (13)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Ikonenwand anonymer Heiliger, (Buchtitel) Band 1, Volk und Welt Berlin 1986, S. 216, Übersetzer: Thomas Nicolaou)

Sprecher:

In dem Gedicht „Makrónissos“ hatte Ritsos von dem Halbkreis gesprochen, den die Gefangenen im Lager schlugen, „damit wir die kleine Blume nicht zertraten.“ (14)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Gedichte (Buchtitel), Suhrkamp 1991, S. 13, Übersetzer: Klaus-Peter Wedekind)

Diesen Gedanken nahm er in „18 kleine Lieder der bitteren Heimat“ auf, die er 1969 aus Samos schickte. Theodorákis vertonte sie und führte sie nach der Diktatur weltweit auf:

Musikeinspielung: Lianotrágouda CD Nr. 5, Stück 2, 00:00 – 00:42

Zitator:

Gespräch mit einer Blume

Zyklame der Kykladen, Veilchen im Felsenspalt,
wo fandest du die Farben um zu blühen, und wo den
Stiel, dass du dich wiegst?

Mitten im Felsen las ich das Blut auf, Tropfen für Tropfen,
flocht mir ein rotes Tuch daraus und sammle jetzt die Sonne.
(15)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Unter den Augen der Wächter, (Buchtitel) Hanser 1989,  „Gespräch mit einer Blume“ (Gedichttitel) S. 75, Übersetzer: Armin Kerker)

Musikeinspielung: CD Nr. 5 unterlegen, Stück 2, ab 00:42 noch ein wenig ausklingen lassen

Sprecherin:

In den fünfziger und sechziger Jahren schreibt Ritsos eine Reihe großer, dramatischer Gedichte, die 1972 unter dem Titel Die vierte Dimension veröffentlicht wurden. Er war zu dieser Zeit spürbar stark vom Surrealismus beeinflusst und arbeitete mit Elementen der écriture automatique, die damals in Griechenland aufkam. Für Louis Aragon war dies nicht mehr das Griechenland eines Byron oder Delacroix, sondern „ein Griechenland, das die Schwester eines Sizilien von Pirandello sein könnte, ein Griechenland, das die Atmosphäre der Gemälde de Chiricos atmet.“ (16)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Meletes gia to ergo tou, (Buchtitel)  Diogenis Athen 1976, S. 13–14,  Übersetzerin: B. Spengler-Axiopoulos)

Sprecher:

Jannis Ritsos, der nie einen Beruf erlernte, hatte in seinen Personalausweis die Berufsbezeichnung „Piitís“, zu deutsch „Dichter“ eintragen lassen. Das Schreiben war ihm zeitlebens größtes Bedürfnis und tiefste Leidenschaft. Ritsos hat der Nachwelt um die siebentausend Gedichte hinterlassen. Seine immense Produktivität wurde von griechischen Intellektuellen oft belächelt. Dem deutschen Leser blieb verborgen, dass er sich schon früh von der Kommunistischen Partei distanziert hatte. In späteren Gedichten bilanzierte er sorgenvoll die Zivilisationsbrüche des vergangenen Jahrhunderts und setzte sich vor allem mit dem Stalinismus auseinander.

Zitator:

… und ich antwortete mit weit metaphysischeren Gedichten eines weit tieferen Realismus
… aber zusammen auch mit den verurteilten Katzen der Achmátowa
ich glaube es waren schwarze sie saßen hungrig hinter dem Fenster
und sahen auf die eisigen Fluten der Newa oder der Moskwa ich erinnere mich nicht genau
mit zwei weiten Augen wie zwei erfrorene Jahrhunderte
(17)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Deformationen (Buchtitel), Romiosini Köln 1996, „Das ungeheure Meisterwerk. Erinnerungen eines ruhigen Menschen, der nichts wußte“ (Gedichttitel), S. 213, Übersetzer: Asteris Kutulas)

Sprecherin:

Ritsos’ ästhetische Sensibilität rettete ihn davor, zum Produzenten von Parteiliteratur zu werden.
Es erschien wie eine Gnade, dass er trotz seiner lebenslangen Krankheit ein hohes Alter erreichen durfte. 1990 starb er in Athen im Alter von 81 Jahren. In Monemvassiá, wo er nicht leben wollte, wurde er begraben.

Ganz kurzer Musiktakt: CD 2, Stück 6, 00:00 – 00:10

Sprecher:

Seine letzten Gedichte stammen aus dem Sommer 1987 und tragen den unglücklichen deutschen Titel Die Umkehrbilder des Schweigens. Zu dieser Zeit weiß Ritsos, dass er krebskrank ist. Die Sammlung ist ein großer Abschied in achtundsechzig Gedichten. In jenem Sommer schrieb er jeden Tag ein Gedicht in Karlóvassi auf Samos. Es ist eine seltsame Rückkehr an diesen unscheinbaren Provinzort. In seiner Unauffälligkeit musste Karlóvassi geradezu Ritsos’ Vorstellungen von der ästhetischen Wertigkeit des Alltäglichen entsprechen. Die „Schönheit“, das ist ein Strohhut, der hinunterrollt „durch die Sitzreihen des leeren Stadions“, ein „tieftrauriges Pferd auf einer Holzbrücke“ und eine „stille Verrückte mit einem Zigarettenstummel und einem Zwieback.“

Sprecherin:

Diese Gedichte sind so etwas wie ein Vermächtnis. Klaus-Peter Wedekind hat sie in einer wunderbaren Übersetzung vorgelegt und darauf hingewiesen, dass der ganze Zyklus auf das letzte Gedicht „Epilog“ hinführt.
Todkrank ergibt sich der Dichter nicht dem Sterben, sondern dem Leben, der Ungewissheit, und tauscht, sehend und lauschend, alle Erklärung gegen das Unerklärliche ein. Sicher ist nur, dass ‚ich‘ Ritsos ist, der sich den Nachlebenden gegenüber als der Überbringer der Schönheit versteht und ihnen deshalb einen sorgfältigen Umgang mit seinem literarischen Erbe empfiehlt. Denn die Bedeutung seines Lebenswerks wird mit dessen ausnahmsloser Verpflichtung auf die Schönheit begründet: „Die Schönheit /− niemals verriet ich sie.“ (18)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Die Umkehrbilder des Schweigens, (Buchtitel), Suhrkamp 2001, Übersetzer Zitat: Klaus-Peter Wedekind, S. 143)

Zitator:

Als Epilog

Denkt an mich zurück, sagte er. Tausende Kilometer ging ich
ohne Brot, ohne Wasser, über Steine und Dornen,
um euch Brot und Wasser und Rosen zu bringen. Die Schönheit
− niemals verriet ich sie. Alles, was ich besaß, verteilte ich gerecht.
Für mich selber behielt ich nichts. Bettelarm. Mit einer Lilie vom Feld
erhellte ich unsere schlimmsten Nächte. Denkt an mich zurück.
Und seht mir diese letzte Traurigkeit nach. Ich würde gern
noch einmal mit dem dünnen Mondsichelchen
eine reife Ähre schneiden. Auf der Türschwelle stehen, schauen
und ein Getreidekorn ums andere mit den vorderen Zähnen zerkauen

in Bewunderung und Lobpreis für diese Welt, die ich verlasse,
in Bewunderung auch für Ihn, der den Hügel hinaufsteigt
im Sonnenuntergang ganz von Gold. Seht:
Am linken Ärmel hat er einen tiefroten viereckigen  Flicken. Der
ist nicht sehr deutlich zu erkennen. Und das vor allem wollte ich euch zeigen.
Vielleicht vor allem deshalb lohnte es sich, dass ihr an mich zurückdenkt. (
19)

(zitiert nach: Jannis Ritsos, Die Umkehrbilder des Schweigens, (Buchtitel) Suhrkamp 2001, „Als Epilog“,  (Gedichttitel) S. 141, Übersetzer: Klaus-Peter-Wedekind)

Musikausklang CD 2, Stück 10, 00:00 – 00:20 oder später ausklingen lassen

Barbara Spengler-Axiopoulos, Deutschlandradio Kultur, 5.5.2009

 

Asteris Kutulas: Begegnungen mit Ritsos

Asteris Kutulas: Interviews mit Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis

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Asteris Kutulas: Jannis Ritsos – Die Maske und der Kommunismus

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Ein Dialog zwischen Asteris Kutulas und Peter Wawerzinek über die fabelhafte Welt des Jannis Ritsos

 

 Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope + Facebook +
Interview

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Jürgen Werner: Gedichte als Waffen und Lobpreisung der Liebe
Neues Deutschland, 2.5.1984

Erasmus Schöfer: In allen Adern der Erde
die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984

Asteris Kutulas / Uwe Goessler: Weg eines Dichters
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, April 1984

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Gerd Prokot: Jannis Ritsos – Künstler, Kommunist und Freund der DDR
Neues Deutschland, 27.5.1989

Gisela Steineckert: Gruß an Genossen Ritsos
Neues Deutschland, 27.5.1989

Armin Kerker: „Hast du dein Brot gegessen, konntest du sprechen?…“
die horen, Heft 153, 1. Quartal 1989

Erasmus Schöfer: In allen Adern der Erde
die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfGIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Jannis Ritsos: Neue Zeit

 

Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 1/2.

 

Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 2/2.

 

Jannis Ritsos: Epitaphios in der Version von Grigoris Bithikotsis  und Keti Thimi.

 

Jannis Ritsos liest, Mikis Theodorakis dirigiert und Maria Farantourie singt aus dem Epitaphios.

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