Karl Mickel: Eisenzeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Mickel: Eisenzeit

Mickel-Eisenzeit

MOTTEK SAGT, AUSZUG

1
In Tokio, sagt Mottek, sie verkaufen
Sauerstoff in Läden gegen Geld
Wer zahlt darf atmen, drei oder zehn Züge
Aus einer Maske, und in England
Sind, sagt Mottek, an der Nordseeküste
In einem halben Jahr gestorben Seevögel
Zwölftausend Stück, und er weiß nicht warum
Fünftausend Jahre früher die Dravida-
Kultur verkam, vermutlich haben Abwässer
Vergiftet See und Plankton und der Fischtod
Tötete, sagt Mottek, auch die Vögel
Und die Dravida kannten keine Düngung
Die haben also die Natur beraubt
Vier Fünftel unsers Sauerstoffs, sagt Mottek
Erzeugt das Plankton, wer ein Auto kauft
Kauft den Autounfall, weiß er das?
Mottek sagt, er denkt, der Andre hat ihn

 

 

 

Fünf Fragen durch die Tür

Frager: Herr Mickel, Ihre Worte sind derb, Ihre Ausdrücke drastisch. Bald hören Sie den Leuten auf dem berliner Hofe zu, bald winken Sie Gestalten aus der Antike.

Mickel: Ich verwende kein Wort, das nicht jeder gelegentlich in den Mund nimmt oder doch denkt. Was in den Köpfen ist, muß ins Gedicht. Manchmal ist das treffende Wort nicht schicklich. Die Homerischen Helden gingen nicht artiger miteinander um als die Bewohner des Hinterhofs; ich hoffe, die eine Sphäre kommentiert die andre; in „Vita nova mea“ hatte mich mehr das Aufreißen des Widerspruchs interessiert, hier vordringlich die Einheit widersprüchlicher Prozesse.

Frager: Wie sehen Sie also Ihr Verhältnis zu Gegenwart und Geschichte, zu unmittelbarer Wirklichkeit und Kunst?

Mickel: Das Thema ist weitläufig. Marx sagt, jede Generation schleppt den Alb aller toten Geschlechter; Tradition, sagt Mottek, wenn sie zu stark ist, verhindert alles Neue, ist sie indessen zu schwach, wird überhaupt keine Erfahrung weitergegeben; beides tötet. Unsere Städte sind lebende Zeugen der Geschichte, und die Einschlaglöcher an der Außenwand des Museums verweisen darauf, daß die Mumien im Innern der Gegenwart angehören. Wirtschaftliche Probleme der 70er Jahre wurzeln in den 50ern, oder den 40ern des vorigen Jahrhunderts; unsere Wohnungen, die wir haben oder nicht haben, sind gleichzeitig Gegenwart und Geschichte; die Geschichte wirtschaftet in unserm täglichen Leben so selbstverständlich, daß wir sie schon nicht mehr bemerken. Kunst ist Kunst und nicht das Leben; ohne Kunst sähen wir nur 1/10 des Wirklichen.

Frager: Wie schwer soll man dem Leser – vorausgesetzt er geht auf Ihr Gedicht ein – den Zugang zu schwierigen Komplexen machen; kommt das Gedicht ohne Anmerkungen nicht mehr aus?

Mickel: Ich habe versucht, den Band so zu bauen, daß der Leser vom Einfachen zum Komplizierten schreitet. Alles wird sich nicht sofort erschließen, soll es auch nicht. Manch ein Geheimnis bergen wir Gedichte: sagt Becher. Ich wünschte, der Leser nähme die Anmerkungen oder Verweise im Vers als Anregungen, bei Dante oder Goethe oder Hölderlin nachzuschlagen und sich dort festzulesen.

Frager: In Ihren neuen Gedichten spielen Träume mit, oder Sie spielen mit dem Traum, oder Traum und Wirklichkeit sind Widergänger.

Mickel: Die Träume sind das Spiel der Möglichkeiten. Eine Möglichkeit in die Wirklichkeit heben, heißt andre Möglichkeiten ins Schattenreich weisen; in Traum und vordenkender Analyse gehen die Schatten um und verknoten sich mit dem Notwendigen und Zwangweisen. Dies produziert die Triebkräfte, nach denen wir handeln.

Frager: Herr Mickel, Ihre Verse sind herb, Ihre Reime, soweit Sie sich welche machen, sind einfach.

Mickel: Der Reim im Deutschen ist Stammreim, hat also mehr Gewicht als der Reim einer Sprache, die Flexionen zum Gleichklang bringt; er ist äußerst direkt, deshalb stören mich komplizierte Reimschemata. – Gedichte sollte man laut sprechen; das Maß jedes Verses muß zunächst für sich bestimmt werden, weil die Metren rasch wechseln. Ich habe versucht, der rhythmischen Gestalt ebensoviel Bedeutung für den Gehalt des Gedichts zu geben wie dem Wort- und Satzsinn; gelegentlich kämpfen die Faktoren miteinander.

Mitteldeutscher Verlag, Klappentext, 1975

 

Lyrik

Mickel, der Anregungen Brechts und Maurers ebenso aufgenommen hat wie er Einflüsse antiker und älterer deutscher Lyrik (17. Jahrhundert, Klopstock, Schiller) erkennen lässt, gehört zu den bemerkenswerten Lyrikern der DDR.

So steht es (im zweiten Band des 1974 in Leipzig erschienenen offiziösen Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller. Diese Beurteilung Karl Mickels ist selbst insofern bemerkenswert, als der Schriftsteller noch vor zehn Jahren gerügt worden war. Zusammen mit Adolf Endler hatte er 1966 im Mitteldeutschen Verlag (Halle) die Lyrikanthologie In diesem besseren Land ediert, nach deren Veröffentlichung es in der FDJ-Zeitschrift Forum zu einer lebhaften Debatte kam, die sich nicht zuletzt auch an Mickels inzwischen berühmt gewordenem Gedicht „Der See“ entzündete. So warf der einflussreiche Germanist Hans Koch Mickel damals Anarchismus, Dekadenz und Mangel an Volkstümlichkeit vor und schrieb, das Gedicht „Der See“ sei ein Affront gegen das sozialistische Menschenbild, sein Ich nehme all sein Pathos „nur aus der Verneinung von Bestehendem“; Mickels ganzes Werk erschien Koch als „jämmerlicher, zynischer und vulgärer Sexualpragmatismus… Mickels – nur Mickels? – Menschenbild sonnt sich zufrieden in seinem Anderssein.“
Karl Mickel wurde 1935 in Dresden als Sohn eines Arbeiters geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften in Ost-Berlin und wurde dann nacheinander Redaktor einer Exportzeitschrift, Mitglied im Redaktionskollegium des Journals Junge Kunst, freier Schriftsteller, Dramaturg am Berliner Ensemble und Assistent an der Hochschule für Oekonomie in Berlin. Mickel hat u.a. Gedichte, Theaterstücke, Opernlibretti, Erzählungen, Kabarett-Texte, Agitationsverse und Nachdichtungen aus dem Russischen veröffentlicht. 1963 war im Mitteldeutschen Verlag sein Lyrikband Lobverse und Beschimpfungen erschienen. 1966 folgte bei Aufbau (Ost-Berlin) die Gedichtsammlung Vita nova mea – Mein neues Leben, die 1967 bei Rowohlt leicht verändert nachgedruckt wurde und die auch den Text „Der See“ enthält. Zwei Arbeiten für die Bühne: Einstein und Nausikaa mit dem Untertitel „Die Schrecken des Humanismus in zwei Stücken“ wurden 1974 im Westberliner Rotbuch Verlag publiziert.
Dieser Verlag nun legt jetzt einen Nachdruck von Karl Mickels jüngstem Gedichtband Eisenzeit vor, der 1975 im Mitteldeutschen Verlag herausgekommen war. Mickels Kollege Rainer Kirsch hat zu der West-Ausgabe ein Nachwort geschrieben, in dem es u.a. heisst:

Die Entwürfe oder Ahnungen schöneren gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Poesie ausdrücklich oder im Verschweigen enthält, wären keine, wenn sie sich gleich einlösen liessen. Mickels Gedichte, so beschreibend sie sich geben, enthalten einen immensen Ueberschuss an Zukunft: man wird sie noch lange brauchen.

Schon mit seinem Buch Vita nova mea hatte sich Mickel vorgestellt als ein Lyriker, der keine rasch verstehbaren literarischen Konsumartikel liefert, sondern Texte, die eine intensive Lektüre voraussetzen und vom Leser die Kenntnis der dichterischen Formen- und Metaphernsprache verlangen. Neben lyrischen Attacken auf den Westen schrieb er Kritisches auch über die Zustände im eigenen Land, oder – und das wurde ihm besonders verübelt – er nahm überhaupt nicht eindeutig Stellung und pflegte in derb-fröhlichen, anarchistisch-utopischen Texten einen Subjektivismus, der sich den Ansprüchen des Kollektivs entzieht: in längeren Erzählgedichten wie aphoristisch kurzen Texten, Knittelversen in Hexametern und Pentametern wie in freirhythmischer Lyrik, gereimten wie ungereimten Gedichten; in gleichermassen poetischen wie saloppen, verspielten wie aggressiven Versen, volksliedhaften Gedichten und kunstvoller Poesie voller mythologischer Bezüge und Anspielungen, wild-bacchantischen Gedichten im Ton des frühen Brecht der Baal-Zeit ebenso wie in zarter, impressionistischer Naturlyrik.
Auch der jüngste Gedichtband Mickels ist bestimmt vom Kontrast zwischen einem deftig-vulgären, von kokett anmutender Kraftmeierei nicht ganz freien Ton auf der einen und hoher, gelegentlich altertümelnder Sprache in mythologiebefrachteten Versen auf der anderen Seite. Mickel selbst sagt dazu, das treffende Wort sei „manchmal nicht schicklich“, und die Homerischen Helden seien miteinander nicht artiger umgegangen als die heutigen Bewohner der Hinterhöfe:

Ich hoffe, die eine Sphäre kommentiert die andere; in Vita nova mea hatte mich mehr das Aufreissen des Widerspruchs interessiert, hier vordringlich die Einheit widersprüchlicher Prozesse.

Mickel, der immerhin 1966 in der Lyrik-Debatte geäussert hatte, er glaube nicht, dass die Entwicklung der Künste unmittelbar an die Entwicklung der Produktivkräfte geknüpft sei, versucht in seinen Gedichten, Tradition und Gegenwart zusammenzubringen aus der Erkenntnis heraus, dass die Geschichte die Gegenwart entscheidend mitbestimmt. Auch in seinen Diskussionsbeiträgen beim VII. DDR-Schriftstellerkongress von 1973 – Mickel gehörte der Arbeitsgruppe „Literatur und Geschichtsbewusstsein“ an – plädierte er für eine Stärkung des Geschichtsbewusstseins, das er als „entscheidendes Element des Klassenbewusstseins“ erkannt sehen wollte.
Wenn Karl Mickel in seiner Lyrik immer wieder Themen und Sujets aus der antiken Mythologie und Dichtung aufgreift, so setzt er damit eine Tradition der DDR-Literatur fort, die von Brecht über Huchel und Arendt bis etwa zu Kunert und Hacks reicht. Und so variiert, paraphrasiert und parodiert Mickel neben Texten etwa von Dante und Blake insbesondere lateinische und griechische Klassiker: Polybios etwa, Aristophanes, Horaz. Als bezeichnend für Mickels Umgang mit der literarischen Tradition darf man die „Ode nach Horaz II/13“ ansehen: Während der Lateiner denjenigen verfluchte, der einst einen Baum pflanzte, der ihn, Horaz, beinahe erschlagen hätte, beschimpft der Zeitgenosse den „Scheisskerl“, der den kleinsten Raum seiner Wohnung derart fahrlässig hergerichtet hatte, dass die „Scheisshausdecke“ beinahe auf ihn gestürzt wäre, „Wenn ich gesessen / Hätte! als sie abbrach“. Freilich sind nicht alle Gedichte so leicht zu verstehen wie diese respektlose Horaz-Paraphrase, und so hat Mickel etwa dem zwölfzeiligen Gedicht „Entfesselter Prometheus“ volle zwei Seiten mit Anmerkungen beigegeben; dieser Kommentar soll nach Mickels Willen als Weg zur Erschliessung auch anderer Gedichte dienen – eben der Gedichte, von denen Rainer Kirsch sagt, sie seien „von philosophischer Tiefe, d.h. stürzen sich mit denkerischem Mut in Abgründe, über die andere elegant weggleiten; ihre Mehrdeutigkeit ist erholsam“.
Mickels Gedichte stecken voller Anspielungen und Querverweise auch auf DDR-Literatur: nicht nur auf die „Klassiker“ Brecht und Maurer, sondern auch auf die Zeitgenossen Wulf Kirsten, Heinz Czechowski und den (im Westen viel zu wenig bekannten) Richard Leising, von dem Mickel sagt, er sei „der grosse proletarisch-revolutionäre Dichter der Gegenwart“. Uebrigens hatte Mickel 1975 das Heft Nr. 97 der Reihe Poesiealbum herausgegeben, in dem er erklärt, jedes der wenigen von Leising veröffentlichten Gedichte sei „ein Meisterstück“. Ein ganzer Zyklus von Gedichten („Mottek sagt“) porträtiert die Denkweise von Professor Hans Mottek, dem Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Oekonomie und Lehrer Mickels; diese Gedichte artikulieren Reflexionen, Fragen, Bedenken, Folgerungen, und der letzte dieser Texte schliesst:

… Wo wächst Wald? in Büchereien:
So eine Masse Bände zeugt Geheimhaltung
Drakonischer denn China. Mottek folgert
Dass Selberdenken schneller ist als Nachlesen.

Rainer Kirsch nennt Mickels neue Gedichte „prägnant und frech“ und sagt, sie gäben „ein Panorama der DDR aus Landschaften, interpretierter Geschichte, Wissenschaft, Baukunst, Politik bis zu Hinterhöfen, Kneipen, Krankheiten, Hausfrauenalltag und Interhotels“. Nicht immer ist unzweideutig zu entscheiden, ob Mickel in diesen Gedichten Loyalität mit der DDR bekundet, oder ob, was wie Zustimmung klingt, faustdicke Ironie ist. Zweifel an der unbedingten Linientreue des Poeten jedenfalls sind erlaubt, seit Mickel 1968 in der Zeitschrift Sinn und Form die Erzählung „Der Sohn der Scheuerfrau“ veröffentlichte, die nur naive Gemüter als ein Stück Bestätigungsliteratur lesen konnten und die in Wahrheit eine höhnische Satire auf die Normen des sozialistischen Realismus und auf das Ideal vom „neuen Menschen“ war. „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten“, heisst es bei Karl Kraus – die Satire „Der Sohn der Scheuerfrau“ hatten die Zensoren offenbar nicht verstanden.
Nicht ganz so eindeutig nun ist die Lage bei dem Gedicht „Kindermund“ in dem Band Eisenzeit, in dem ein Kind seine Eltern – die Mutter ist eine überanstrengte Werktätige, der Vater Fernstudent – naseweis belehrt, dass ihr Streiten sinnlos sei und dass sie Vernunft annehmen möchten. Mickel lässt das altkluge Kind gereimt dozieren:

Dass du, Papa, studierst sollst du, Mama, nur loben
Wenn du, Mama, bist müd sollst du, Papa, nicht toben.
Wer heut nicht weiter lernt ist morgen nicht zu brauchen
Die Wissenschaft geht fort: da müssen Köpfe rauchen.
Was soll die Frau im Haus? wo Menschen sind, ist Leben
im Leben wird sie klug und wird sie müde eben.
Der Staat, der seid ihr selbst, will Arbeitszeit verkürzen
Das Angebot erhöhn die freie Zeit euch würzen
Mit Liebe, Kunst und Sport: was ist zuvor zu leisten?
Mehr Produktivität! das wissen doch die Meisten…

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 10.12.1976

Unverschleierte Wirklichkeit

Diese Lyrik wird nicht jedermanns Sache sein, aber sie geht auf vielermanns Denken zurück. „Was in den Köpfen ist, muß ins Gedicht“, sagt Karl Mickel, damit rechtfertigend, was an Derbheit und Drastik des Vokabulars seine Verse zu nicht jedermanns Sache macht. Kunst als gestaltete Dokumentation der tatsächlichen, der unbeschönigten, unverschleierten Wirklichkeit, wahrhaftig bis zur grotesken Satire, zur deftigen „Respektlosigkeit“ – soviel steht fest: sie ist notwendig, wo so gern übersehen wird, daß noch nicht goldene, daß vorerst noch Eisenzeit ist.
Genaues, schonungsloses Beobachten, ein massiver, gedrängter Rationalismus, Sentiment nicht anders als in der dichtesten Umsetzung in Sinnlichkeit, in alledem führen diese Gedichte fort und radikalisieren, was schon in Mickels Gedichtband Vita nova mea (1966) Aufsehen und Ärgernis erregte.
Wenn diese Lyrik in den besten Stücken doch nicht in kruden Naturalismus verfällt, so aus zweierlei Ursache: Mickel schafft sich Distanz, indem er vorwiegend in Versmaßen des achtzehnten Jahrhunderts oder in ihren deutlichen Variationen schreibt. Das erzeugt unerwartete lyrische Reize und Spannungen; ehemals zu Tode gerittene Metren und Strophen feiern erstaunliche Urständ, als alt sind sie plötzlich auch neu. Der Reim kehrt wieder, in seiner höchst bewußten Wiederaufnahme bis zu satten Triumphen gelangend.
Damit korrespondiert die andere Art von produktiver Aneignung großer Tradition, die ebenso Distanz und gestalterische Überlegenheit gewährt: der auch inhaltliche Bezug auf die Dichtung Hölderlins, Goethes, vor allem Dantes und der Antike. „Eisenzeit“, wenn auch andere, ist auch ehedem gewesen; auch die „Klassiker“ waren nicht Tugendapostel und Schönfärber, sondern Kenner des Menschen und seiner realen Geschichte. In den Spiegeln ihrer Dichtung erhält alle Härte und alles Streben der Gegenwart jählings Größe, erweist sich in Dimensionen stehend, die der distanzlose Blick nicht wahrnimmt.
Und umgekehrt auch: Die Helden und Dichter von ehedem erhalten ihr menschliches Gesicht wieder, im Blick von heute her. Das steht mehr zwischen als in den Versen Mickels, aber es schafft inneren Raum, es signalisiert eine Grundhaltung zu Gegenwart und Vergangenheit, die man sich allerorts wünscht.

Eberhard Haufe, Thüringer Tageblatt, 27.4.1976

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Ursula Heukenkamp: „Eisenzeit“
Sonntag, 6.6.1976
auch in Kritik 76. Rezensionen zur DDR-Literatur, 1977

Peter Maiwald: Statt einer Rezension
Deutsche Volkszeitung, 30. 9. 1976

Peter von Becker: Erinnerungen an morgen
Süddeutsche Zeitung, 9. 12. 1976

Oskar Cöster: Geduldige Gedichte in eiserner Zeit
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 26. 12. 1976

Roland Rittig: Widersprüche im Gedicht
Ich schreibe, Heft 2, 1977

Jürgen P. Wallmann: Manchmal nicht schicklich
Deutschland Archiv, Heft 2, 1977

Karl Corino: Der Fortschritt beim Töten
Stuttgarter Zeitung, 6. 5. 1977

Peter Demetz: Meister und Mickel. Zweimal deutsche Lyrik
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 7. 1977

Rudolf Langer: Eisenzeit
Neue Deutsche Hefte, Heft 153, 1977

 

Notizen zum Erbe: Karl Mickel

I
R. Weimann stellt infrage (Weimarer Beiträge 6/78), daß das Erbe des klassischen bürgerlichen Humanismus „noch immmer als hauptsächlicher weltliterarischer Traditionsgrund gelten“ könne. Etwa der „,magische Realismus‘ Lateinamerikas“ oder das plebejische Volkstheater der Renaissance-Zeit habe hinzuzutreten.
Ein belangvoller Denkanstoß, er verhilft über Europa- (oder gar Mitteleuropa-) Zentrismus und überhaupt raumzeitliche Einschränkung hinaus. Was er nahebringt, ist Entprovinzialisierung. Maßstäbe setzt er, indem er sie weitet.
Freilich sind durchweg synphasische Strömungen, hervorgebracht in Perioden/Gegenden gesellschaftlichen Aufbruchs, in Rede gestellt. Und so wäre das Denkangebot sicherlich zu eng gedeutet, würde es gefaßt als Versuch wegweisenden Zurhandgehens gegenüber der Kunstpraxis. Denn was versagte sich Kunstwissenschaft, befragte sie Kunst nicht daraufhin, wen unter den Vorvorderen sie beleiht, in welcherart Epochen sie Gleichschwingendes ausmacht! Sie benähme uns nicht zuletzt triftiger Auskünfte über gegenwärtiges gesellschaftliches Bewußtsein und Unterbewußtsein. Gültige Auskünfte liefert freilich nur eine Kunst, die souverän ist in ihrer Erbewahl. Etwa die Lyrik unseres Landes müßte, heißt das, ihre Traditionsfäden in Sicht auf das ganze Geflecht der Weltdichtung aufnehmen. Im großen Ganzen ist dem so, und warum also mit Beispielen aufwarten:
Kunerts Gedicht „Der Rauch“ (auf das Zerstörerische, Entseelende des Feuers, oder zivilisatorischer Verve, zeigend) stellt sich ein Jahrzehnt nach Entstehen der Buckower Elegien wohl nicht nur gegen das prometheische Brecht-Gedicht gleichen Titels, sondern neben Rilkes zweite Duineser Elegie:

wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir
atmen uns aus und dahin; von Holzglut zu Holzglut
geben wir schwächern Geruch

Mickels Gedicht „Strandgut“ kann in diesem Kontext gelesen werden. Holz, „schön geschliffen“ von Natur und – wie um Nachsicht bittend – seine „Wunde“ „(an) schmieg(end)“, wird „unterm Beil“ zu „Prismen“ – „(aus)einander“ gebracht. Die Wandlung zu Rauch in epimetheischem Feuer steht bevor. – Das Gedicht „Merops-Vogel“ scheint nur die Tür zu sein zum Bedeutung-Raum, den das sagenhafte Land des urkommunistischen Goldenen Zeitalters, also befeuernden An- und Vordenkens, namens Meropis und „Eros“ (den von jenem Geflügelten ja nur zwei Mitlaute scheiden) aus Goethes „Urworten“ aufmachen. – Mickel beschränkt sich, soll man meinen, aufs An-Deuten („ich deute / An“ – Spring-Punkt seines Gedichts „Bier. Für Leising“), so in „Das Paar von Lemke“: der Text endet, bevor deutende Worte fa(e)llen, im Doppelpunkt und läßt den Überlebens-Praktiker Gracian aus dem Spanien der Verfallszeit assoziieren, dessen ernüchtert-ungöttliche Komödie Criticón Mickel in einem seiner Gedichte („Der Tisch“) als ihm nahe anzeigt. Im Buch des gnimmigen gelassenen Spaniers stößt der Entzifferer statt des gewisse „Betrügereien… und… Ränke“ entlarvenden Worts dichten Qualm aus, dem Tintenfisch ähnlich, der „eine große Menge Tinte zu verbreiten pflegt,… wodurch er die Fluten trübt… und der Gefahr entgeht“.

II
Welche der besagten Traditionsfäden werden aufgenommen?
An, insbesondere jüngerer, Lyrik und Prosa wird als dominant vermerkt unverstelltes, vornehmlich elegisches oder skeptisches Bekunden des Individualbefindens – leis, ja intim bei aller Rigorosität moralischer Wertsetzung. Etwa dem Catull steht solcherart Literatur (auch wenn sie nicht bewußt anknüpft, indem sie sich aus Bewußtem in Ungewußteres, aus raffender Überschau in die mikroskopisch-auflösende Momentan- und Innensicht gedrängt sieht) näher als dem Pindar, Williams und Jessenin näher als Whitman und dem Majakowski der Poeme. Heise gibt im Aufsatz, „Weltanschauliche Aspekte der Frühromantik“ hierüber Auskünfte von benehmender Deutlichkeit.
(Es scheint, als sei das nachhaltig Traumatische an der Französischen Revolution nicht die-ferne-Erfahrung des Blutvergießens gewesen, sondern jene ernüchternde Wahrnehmung, daß die vermeintlich große Revolution ein durchaus beschränktes, wo nicht versiegendes Fortschreiten beibrachte. Herbeigesehnt und wohl für möglich gehalten worden war mondialer Um- und Aufschwung, herbeigeführt jedoch nichts als regionaler Wandel, Historischer Drang sah sich zu Provinzheroik entsaftet, lebendigste Erwartung verfiel ins Verwarten des Lebens. Gattungsrepräsentanz, die weit hinaus gewollt hatte übers zufällige kurzlebige Fleisch des einzelnen, Ich, mochte sieh kaum mehr fähig finden, dieses Ich zu durchfragen.)
Kräftig ausgebildet, freilich ist diesenlands ebenso eine Literatur, die – in Gegensetzung zur obengenannten subjektiv-authentischen – auf paradigmatische Aufhellung aus ist (was ja Betroffensein-Betroffenmachen nicht ausschließt, Gemeingültigkeit hat nichts zu tun mit Gleichgültigkeit). Zum Beispiel werden auf Gemeineigentum fußende Strukturen hierarchischer Verteilungsweise etwa auf das wechselseitige Bedingtsein von Hierarchisierung und Produktionsvermögen („Erzeugungsunlust“, sagt Hacks in seinem Seneca-Essay) befragt, so außer in Stücken Müllers und an ihn Lernender in Großer Frieden (Braun) und Prexaspes (Hacks). Mehrere Gedichte Brauns handeln von einschlägigen Präzedenzvorgängen (Peru der Inka-Zeit, Rom) , so „Das Forum“ und vor allem „Machu Picchu“.
Mickels Nausikaa-Stück (-Entwurf) ist vielleicht das Erstbeigesteuerte zum Problem. Odysseus’ Durchzug durch die Enklave der Phaiaken gibt den Anstoß zum Zerfall der heilen heiteren (aber offenbar anfälligmachend unproduktiven) Gemeinschaft. Der despotische Privataneigner (Euryalos) setzt sich mörderisch in Macht und bringt so jene auf den Plan, die ihn entmachten werden. Die Plebejer, von Nausikaa geleitet, übernehmen die Herrschaft. Jedoch verfällt deren Herrschen alsbald zum Angeherrschtwerden durch Nausikaa. Wie das? Muß die Phaiakin, Euryalos zu stürzen, diesem ähnlich werden? Oder verleitet die Lenkbarkeit der Plebejer die somit widersacherlose Wortführerin zu selbstherrlichem Führersein? Wie sehr ist (muß sein) der Aufstieg Verfall? Ist der Preis des Fortschritts von einer Höhe, die Fortschnitt infrage stellt, und der Vierte Stand aller Zeiten hätte sich mit Arendt (im Gedicht „Amphitheater“) zu sagen:

Unter dem Fangnetz,
ewiger Gladiator,
diese Kälte!
?

„Fightin in aeternam Spartacus“, heißt es epochenraffend-esperantosch in Mickels Gedicht „Arena“, welches, so meine ich, von sisyphosscher Unaufhörlichkeit handelt: Was in Entwicklung scheint, zirkuliert nur, die berühmte Spirale ist Kreis. Einer betritt die Arena, steigt auf zur Prätor-Loge und verfällt, den Platz räumend für den nächsten Anti-Prätor, der die Arena betritt, aufsteigt und den Zirkel schließt.

III
Das Gedicht „Siebter, Erster, Zehnter Gang“, Text 39 in Mickels drittem Gedichtband Eisenzeit mit 42 Stücken (die Zahl läßt an Fieberthermometer und Marathonlauf denken):

7
Neulich sah ich vor mir einen Burschen
Aufm alten Rad, jedoch fünf Gänge
Ich fuhr heran, er sah mich kommen und
Trat ins Pedal, ich ruhig hinterher.
Der schuftete, der Oberkörper schwankte
Hätt ich ihn gesehn von vorn, ich hätte
Auf seiner Stirn den kalten Schweiß gesehn.
Dann trat ich an, nach einem Kilometer
Im siebten Gang, der war der günstigste
Zu groß nicht für den Antritt, nicht zu klein
Für hohes Tempo, vorsorglich geschaltet
Und zog vorbei Ein Seitenblick belehrte
Mich über seine Jahre: zehn Jahre jünger
Mindestens, und ich bin fünfunddreißig.
Ich rollte aus, von ihm war nichts zu blicken
Ich schaltete auf meinen zehnten Gang
Der seinem fünften gleichkam, wartete
Bis er heran war, gab ihm eine Chance
Trat wieder an, er hielt nicht mit: im Windschatten!
Da war ich aber richtig stolz auf mich
All die Zigarren hatten nicht geschadet.

1
Und wo es ganz platt war
Niedrige Schonung und Fichten-Plantagen
Waren zwei Eichen
Aufgerichtet von der Natur
In langer Zeit
Die linke ein mächtiger Stumpf
In halber Höhe gesplittert
Und Äste um die ab’e Krone knotend
Die rechte ein mächtiger Baum
Kahl
Und ein Gegriesel nicht weiß aber körnig
Als Schnee auf dem Boden
Und locker der Sand unterm Schnee

10

Ab und zu fällt ein Blatt
Von rechts oben vorn nach links unten hinten
Das ist der Ort und die Zeit

Der Text hebt in einer Weise an, die dessen Unerheblichkeit nachweisen zu wollen scheint. Ein harmloses Radlerduell spielt oder spult sich ab: Einer (Mickel) überspurtet einen einmal und, nun unter gleichen maschinellen Bedingungen, noch einmal. Seis drum, denke ich und: Nur gut, daß Selbstironie obwaltet: „Da war ich aber richtig stolz auf mich“, die humorige Hervorhebung von „Windschatten“ durch Folgebetonung. (Natürlicher und Versrhythmus sprechen gegeneinander an, sie erwischen einander sozusagen auf dem falschen Fuß. Rilke gibt durch eine solche rhythmische Anomalie, die noch besonders ausgestellt ist (nämlich zu Beginn des Schlußverses) , dem Wind im Gedicht „Herbsttag“ eine Kälte bei, die den angeredeten Herrn Gott infrage zieht: „únruhig“ wird, in den Jambus gezwängt („unrúhig“), zum leibhaftig beunruhigenden „únrúhig“. Möricke: Erklärt er sich schlichthin einem Baum (wie der Gedichttitel anzeigt; „An eine Lieblingsbuche meines Gartens“)? „Holdeste Dryas, halte mir still! es schmerzet nur wenig: / Mit wóllüstigem Reiz schließt sich die, Wunde geschwind.“)
Zurück zu Mickels dreiteiligem Gedicht, in dessen zweitem Teil („Erster Gang“) zwei langwierig gewordene, kampfgeprüfte Bäume – gänzliches Gegenstück den unindividuierten Plantagenfichten um sie her – vergehen. Doch nicht dieses Vergehen scheint dem Bericht verhaltene Trauer zu überlagern, sondern das Einsame des Vergehens, die Isolation. Denn jener Blattfall zwischen den Baumrecken in Teil 3 geschieht nicht wirklich, mathematisiert-unwirklich wie er dargestellt ist. Kommunikation, als deren hilfloser Versuch er sich wohl versteht, findet nicht statt.
Jeder der beiden Verfallenden, scheint mir, könnte Griehn heißen. Im frühen Gedicht Brechts „Morgendliche Anrede an den Baum Griehn“ spricht ein zu Größe Gelangter einen anderen zu Größe Gelangten an, über die – sozial bestimmtere – Plantage der Mietskasernen hinweg. Geworden, „hoch herauf(ge)kommen“ sind sie durch das Bestehen von Kämpfen, die daher, bei aller Bitternis, Ereignis gewesen sind, Handhabe fürs Erlangen von Eigenwertgefühl, ja Individuation.
Vielleicht also legt „Erster Gang“ nicht nahe, teilnehmend die Vereinzelung Vergehender mitzuempfinden. Sondern umgekehrt: Zu bedenken gibt der Textteil, ob eigentliche Ursache des Vergehens nicht die Isolation ist, das Fehlen von Sturm, der Brecht-Griehn zwar schwanken macht wie einen „besoffne(n) Affen“, doch wachsen. „Wut war Gnade“, heißt es im oben erwähnten Gedicht „Die Arena“, und hingedacht scheint dies nicht vornehmlich auf Zerstörung, die Erich Fromm faßt als „die Kreatevität des Hoffnungslosen…, sie ist die Rache, die das ungelebte Leben an sich selber nimmt“. Wut, indem sie Kontakt herstellt, wenngleich mittels der Fäuste, ist Mittel, „alle Dinge, sie / Entzerrend“, kenntlich zu machen als meine Vergegenständlichungen und so mithin zu klären: „wer bin ich?“ So heißt es in Mickels „Dickicht Brechts“, 1970 gearbeitet wie „Siebter, Erster, Zehnter Gang“. Einer geht da auf einen los, der – seltener Fall – „zum Feind geeignet“ ist, d.h. in der Wirrsal dickichthafter Verhältnisse zu einem „feste(n) Punkt“ gelangen machen kann. Er geht los, „abschüttelnd seine Waffen“, will chancengleichen Kampf, oder Gleichheit wenigstens im Kampf. In „Siebter, Erster, Zehnter Gang“ lautet die Entsprechung:

Ich schaltete auf meinen zehnten Gang
Der seinem fünften gleichkam.

Ich gebe nun meiner Neugier nach und schalte die Gänge hoch. Erster Gang: Zwei Individuen vergehen, weil sie nicht Subjekte sind, tätig oder doch tätlich. Siebter Gang: Shlink versucht, gegen Garga Kampf herheizuführen, was mißlingt. Wohin führt das, im Zehnten Gang? In kahlen Baum von der Geometrie eines Würfels (dessen Diagonale entlang das Blatt geradezu gezogen zu werden scheint), einen Raum ohne Orte („feste Punkt((e))“), und Zeit ist zereinzelt zu „Ab und zu“ – Ort und Zeit der Schlußzeile sind Leere und Unzeit. Da fällt nichts (vor), Vorgang ist Zustand. (Einer, von dem man Zustände kriegen kann.) Der Raum ist Bewußtseins-, nein Unterbewußtseinsraum. Was ist, ist geträumt als ein Alb vom Entgegenständlicht-, vom Marionettisiertsein: „rechts vorn oben“, „links unten hinten“.
Marionettensein ist Mickel in neueren Gedichten häufiger Gegenstand: „Neubauviertel“, „Deutsche Puppenbühne“, „Das Mannesalter“, „Der Traum“ oder auch „Bier. Für Leising“. Sofern das Ich, sich zu erhalten, eines dicken Fells bedarf, stellt es eben durch diese Dickfelligkeit den Erhalt infrage. In seinem zweiten Band, Vita nova mea, 1966, weist Mickel auf diese fatale Ambivalenz. „Risse sind im, leider, dicken Fell / Die wachsen zu. Ich fürchte…: nicht schnell“ (Gedicht „Das Zeichen“), ein Panzer schützt gegen das Außen, doch malmt das Innen. Fell, genötigt, zum Panzer zu verledern, löscht das Ich. Die Metamorphosen des weltverwandelnden Bewegers („Rot glühn die Martinöfen auf… Wie wir keuchen / Vor Wollust…: hart wird weich / Und wenn sichs wieder härtet, wird zugleich / Das Krumme grad“, 1962 in „Friedensfeier“), Metamorphosen also, die Individuum und Sozietät in eins bringen und auseinander hervor (und besagtes Fell verbietet sich!) – diese Metamorphosen geraten so ins scharnierne Bewegtwerden der Puppe, des entindividuierten Objekts. Mickels Gedichtbände scheinen auf die Zunahme abgeforderter Felldicke zu weisen.)

IV
Das Gedicht „Siebter, Erster, Zehnter Gang“ untersucht – sehe ich recht – den „Kampf um Individualität, (der) die Energien für jene Peristaltik (liefert), die den Kämpfenden malmt“ (Aufsatz „Brechts Dickicht“). Es untersucht (vielleicht selber Rat suchend), d.h. sucht Licht zu bringen ins Dickichthafte „jene(r) Peristaltik“, wirkt also entgegen. Das Licht, in das Mickel die Dinge stellt, ist schneidend, und bei aller conceptistisch-winterfesten Verflochtenheit der Texte sind diese aufklärerisch, aufs Transparentmachen „der Prozesse, die die Menschen einander machen“ (aus demselben Aufsatz) aus. So teilt er besagtem „Kampf um Individualität“, der ja ein Kampf um Gemeinschaftlichkeit ist, Hoffnung mit. Früher Überschwang, „Wir können ändern. Ändern und begreifen“ (im Gedicht „Winterreise 1959“), mag sich gekappt finden – das Begreifenkönnen bleibt. Und „Begreifen ist“, wie es im Gedicht „Reisen“ heißt, und bleibt „schön“, selbst wenn sich dies vom Begriffenen nicht sagen läßt. In dem den Sammelband-Odysseus in Ithakabeschließenden Text „Pillnitz“ scheint das, wiewohl zarte, Dickicht von „lebenden Gänge(n) und Grotten“ jenes Gewächshauses, „grün grün dunkel grün“, für grünes Glas zu stehen, auf welches im frühen „Bericht auf der Feier“ (im Band „Lobverse und Beschimpfungen“) Bezug genommen ist, und widerrufend könnte gesagt sein:

Ich bin das Bläschen im grünen Glas

Peter Gosse, Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 1980

Richard A. Zipster: DDR-Literatur im Tauwetter. Band III. Stellungnahmen

 

AN MICKEL

Du auch hast deine Art, bei Sinnen bleiben
Ohne wie sonstwer daß du alles fliehst.
Den Riß der Welt zwischen den Beinen siehst
Kopiert du annehmbar sich dran zu reiben.
Das hilflose, sagen die Professoren
Ich, die sich nur behelfen wo sie dürfen
Du aber mußt den Grund der Suppe schlürfen
Wo nichts bleibt. Das nennen die verloren.
Und anders Mottek, der die Zukunft schaut
Unsägliches sagbar in deinem Vers.
Nie hat Wissenschaft Kunst so gebaut
Kühl wie die ist und wahr. Das soll es geben
Hör ich dich murmeln verstanden von keinem.
Und Loch an Loch die Welt aus Gräbern Leben.

Volker Braun

 

DIE FRÜHEN GRÄBER

FÜR RICHARD LEISING UND KARL MICKEL

Hell strahlt eurer Glieder Asche, von Faltern
aaaaaim Gebüsch umflügelt, von Gewittern
aaaaaaaaaadampfgebügelt. Wortlos geht der Mund zur Flasche.

aaaaaaaaaaHeulend reißt der Wolf den Rachen. Von Krumenhänden
aaaaaaufgehügelt, psalternd im Gespräch
beflügelt, heil strahlt eurer Glieder Asche.

Richard Pietraß

 

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts fand 1992 in der literaturwerkstatt berlin ein poetologisches Gespräch zwischen Stephan Hermlin, Adolf Endler und Karl Mickel statt.

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts präsentierten Autoren ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialsammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel fand 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin statt und ist hier online zu hören.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

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Nachrufe auf Karl Mickel: Berliner Zeitung ✝ FR ✝  der Freitag ✝
Der Tagesspiegel ✝ Die Zeit ✝ FAZ ✝ ndl ✝ NZZ ✝ Ostragehege ✝︎

Konrad Franke: Der souveräne Weltanschauer
Süddeutsche Zeitung, 23.6.2000

Ijoma Mangold: Forderung nach Leichtigkeit und Höhe
Badische Zeitung, 24.6.2000

Zum 10. Todestag von Karl Mickel:

Thomas J. Richter & Heike Friauf: Eine Frage – Zum 10. Todestag des großen deutschen Dichters Karl Mickel
Die Linke, Juni 2010

Zum 80. Geburtstag von Karl Mickel:

Stefan Amzoll: Was ist das, ein Mensch?
neues deutschland, 12.8.2015

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Mickel“.

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