Albrecht von Hallers Gedicht „Der Fuchs und die Trauben“

ALBRECHT VON HALLER

Der Fuchs und die Trauben

Ein Fuchs, der auf die Beute ging,
Traf einen Weinstock an, der, a voll von falben Trauben,
Um einen hohen Ulmbaum hing,
Sie schienen gut genug, die Kunst war abzuklauben.
Er schlich sich hin und her, den Zugang auszuspähn;
Umsonst, es war zu hoch, kein Sprung war abzusehn.
Der Schalk dacht in sich selbst: ich muß mich nicht beschämen,
Er sprach, und b macht dabei ein hämisches Gesicht,
Was soll ich mir viel Mühe nehmen,
Sie sind ja saur und taugen nicht.

So geht’s der Wissenschaft: Verachtung geht für Müh,
Wer sie nicht hat, der tadelt sie.

1732

 

Konnotation

Die uralte Fabel des griechischen Dichters Äsop hat schon die Dichter der Aufklärung und der Klassik, aber auch die der Moderne zu Variationen und Überschreibungen gereizt. Der Fuchs, der die Trauben nicht erreichen kann und sich dann in peinlicher Selbstüberhebung von ihnen abwendet: Diesen Topos hat auch der Universalgelehrte und Gelegenheitsdichter Albrecht von Haller (1708–1777) aufgegriffen und in eine Lektion über den Umgang mit den Wissenschaften verwandelt.
Im Gedicht selbst wird der Gestus der Wissenschaften ironisch aufgenommen: die Systematik der Reihung und der logischen Konklusion („a voll von falben Trauben“, „und b macht ein hämisches Gesicht“). Die beiden Schluss-Zeilen machen deutlich, wofür der Aufklärer von Haller diese alte Fabel braucht – um zu illustrieren, welcher Unverstand und wieviel falsche Arroganz den Wissenschaften seitens der Bildungsunwilligen entgegenschlagen. Das Gedicht erschien erstmals 1732 in von Hallers Versuch Schweizerischer Gedichte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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