Ferdinand Hardekopfs Gedicht „Spleen“

FERDINAND HARDEKOPF

Spleen

Ein Bündel Mond erreichte mein Gesicht
Um 3 Uhr nachts, ein Quantum Butterlicht,
Und mahnte [3 Uhr 2]: ,Ein Spuk-Gedicht,
Nervös-geziert, ist Literatenpflicht!‘

Die Kammer dehnte sich verbrecher-hell.
Der Mond, ein Dotterball, schien kriminell.
Da stieg die Dame Angst[-Berlin] reell
Auf ihr imaginäres Karussell.

Ein Schneiderkleid umpreßte mit Radau
Die Dame Angst: die Gift- und Gnadenfrau.
Doch das Zitronen-Ei [um 3 Uhr 5 genau]
Versank in Bar-Fauteuils aus Dämmerblau. –
Nachhüstelnd, matt dosiert: ,Macabre-Bar!
Ihr lila Blicke! Schweflig Tulpenhaar!
Aus Puderkrusten Tollkirsch-Kommentar!
Ein Gruß: du noctambules Serninar!‘
… So. 3 Uhr 10. Wie süß verwirrt ich war!

1921

aus: Ferdinand Hardekopf: Wir Gespenster. Dichtungen. Hrsg. u. mit einem Nachwort v. Wilfried F. Schoeller. Arche Literatur Verlag, Zürich-Hamburg 2004

 

Konnotation

Was war für den eleganten Großstadtpoeten und versierten Ironiker Ferdinand Hardekopf (1876–1954) das Glück? „Eine Minute irren Vergessens, eine Minute Spleen.“ Und diesen „Spleen“ hat er, in Anlehnung an die „Spleen“-Gedichte seines Pariser Vorbilds Charles Baudelaire (1821–1867), in ironisch abgeklärte Nocturnes verwandelt. Solche ebenso formvollendeten wie originellen Nachtlokal- und Mond-Gedichte hat der lyrische Expressionismus nur sehr wenige zu bieten.
Der lyrische Nachtchronist und Bohemien, der einige Jahre als Stenograf im Reichstag arbeitete, war in seinen Berliner Jahren bis 1916 nicht nur regelmäßiger Besucher des Café des Westens, sondern verzauberte dort auch die Gäste mit seinem ironischen Esprit, aber auch mit „luziferischen Depressionen“ (Ernst Blass). Die „süße Verwirrung“ seiner Berliner Nächte bebilderte der bekennende Morphinist mit diesen Versen von der „Dame Angst“, die ihn auf das „imaginäre Karussell“ nächtlicher Phantasmagorien lockt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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