Friedrich Hölderlins Gedicht „Die Linien des Lebens sind verschieden…“

FRIEDRICH HÖLDERLIN

Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

1812

 

Konnotation

Nachdem er im Mai 1807 als unheilbar Geisteskranker aus dem Klinikum Autenrieth entlassen worden war, fand Friedrich Hölderlin (1770–1843) Zuflucht im legendären Tübinger Turmzimmer des Schreinermeisters Ernst Zimmer. In der Werkstatt Zimmers entstanden viele von Hölderlins späten Gedichten aus dem Stegreif. Im April 1812 bat er Zimmer, ihm einen kleinen griechischen Tempel aus Holz zu bauen. Zimmer erwiderte, er könne den Wunsch nicht erfüllen, da er „ums Brot“ arbeite und nicht wie sein Gast „in philosophischer Ruhe leben“ könne. Daraufhin griff sich Hölderlin ein Brett aus der Werkstatt und krakelte sein berühmtes Gedicht „Die Linien des Lebens“.
Hölderlin verweist auf die Einzigartigkeit der Individuation, auf die Einmaligkeit einer Lebensgeschichte, deren Zielpunkt nicht absehbar ist. Die Möglichkeit einer göttlichen Intervention in die Lebenslinien des einzelnen wird offengehalten. Was die religiöse Dimension des Textes betrifft, lässt sich streiten, ob hier ein Gott der monotheistischen Religionen oder der antiken Götterwelt evoziert wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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