Hans Magnus Enzenbergers Gedicht „Der Fliegende Robert“

HANS MAGNUS ENZENSBERER

Der Fliegende Robert

Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.

nach 1970

aus: Hans Magnus Enzensberger: Die Furie des Verschwindens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1980

 

Konnotation

Der fliegende Robert aus dem berühmten Struwwelpeter-Kinderbuch des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann ist eine Lieblingsfigur des 1929 geborenen Dichters Hans Magnus Enzensberger. Freilich hat sich Enzensberger nicht die moralische Drohgebärde des Struwwelpeter-Verfassers zu eigen gemacht, sondern preist den Flug in die Lüfte als ideale Absetzbewegung des modernen Subjekts.
Der Vorwurf des „Eskapismus“ war in den politisch bewegten Zeiten der 1968er-Revolte das schlimmstmögliche Verdikt gegen politische Abweichler, denen Sektierertum oder ein Rückzug ins Private vorgehalten wurde. 1844 hatte Heinrich Hoffmann sein Märchen als moralische Geschichte von einem Unbelehrbaren erzählt der mitsamt seinem Regenschirm vom Wind auf Nimmerwiedersehen fortgetragen wird. Enzensberger kontert in seinem Gedicht aus den 1970er Jahren mit einem Plädoyer für die kalkulierte Flucht vor allen Vereinnahmungsversuchen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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