Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Wonne der Wehmut“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Wonne der Wehmut

Trocknet nicht, trocknet nicht,
Tränen der heiligen Liebe!
Ach nur den halbtrocknen Augen schon
Wie öde, tot ist die Welt.
Trocknet nicht, trocknet nicht,
Tränen der ewigen Liebe!

1775

 

Konnotation

Als Mittzwanziger hatte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) schon diverse Erfahrungen in unerfüllter und desaströs gescheiterter Liebe hinter sich, als er 1775 diesen Sechszeiler schrieb. Die Verklärung der Liebe als „heilig“ ist noch ungebrochen, der Kummer des Liebenden füllt sein ganzes Bewusstsein aus. Die Geliebte kommt bei so viel Selbstbezüglichkeit gar nicht erst in den Blick.
In einer späteren Fassung des Gedichts hat Goethe die Affekte etwas abgeschwächt. So ist in der ersten Ausgabe von Goethes Schriften von 1789 die Liebe nicht mehr „heilig“, und die „ewige“ Liebe der Schlussstrophe wird zur „unglücklichen“. Das „halbtrockne“ Auge wird gar zum „halbgetrockneten“. Alles deutet auf eine Beruhigung der Leidenschaften hin. Geblieben ist aber aber die Zweideutigkeit der „Wehmut“: Der Liebesschmerz bereitet dem Weinenden auch eine gewisse „Wonne“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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