Mascha Kalékos Gedicht „Das berühmte Gefühl“

MASCHA KALÉKO

Das berühmte Gefühl

Als ich zum ersten Male starb,
– Ich weiß noch, wie es war.
Ich starb so ganz für mich und still,
Das war zu Hamburg, im April,
Und ich war achtzehn Jahr.

Und als ich starb zum zweiten Mal,
Das Sterben tat so weh.
Gar wenig hinterließ ich dir:
Mein klopfend Herz vor deiner Tür,
Die Fußspur rot im Schnee.

Doch als ich starb zum dritten Mal,
Da schmerzte es nicht sehr.
So altvertraut wie Bett und Brot
Und Kleid und Schuh war mir der Tod.
Nun sterbe ich nicht mehr.

1958

aus: Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen, Rowohlt Verlag, Reinbek 1984

 

Konnotation

Aus ihrer galizischen Heimat früh vertrieben, erlebte die jüdische Dichterin Mascha Kaléko (1907–1975) ihr Dasein als ewiges Exil im „Nirgendsland“. Auf der Flucht vor Pogromen kam sie mit ihrer Familie zu Beginn des Ersten Weltkriegs nach Deutschland. Im aufblühenden Berlin entwickelte sich die Exilantin rasch zur begabtesten lyrischen Reporterin ihrer Epoche.
Kalékos erste Gedichte erschienen 1930 in der Vossischen Zeitung und in der Zeitschrift Die Weltbühne. Es waren unsentimentale Momentaufnahmen aus dem Leben der großstädtischen Angestellten, lässig gereimte, neusachliche Gelegenheitspoeme zwischen Ironie und Wehmut. Die Gedichte sprechen in vielen Tonlagen: Da ist zum einen der schnoddrige Kabarett-Text und ironische Leierkasten-Song, zum andern eine sehr schwermütige Liebespoesie. Kalékos Debüt Das lyrische Stenogrammheft (1933) wurde ein Bestseller, landete aber bald auf dem Scheiterhaufen der Nazis. Ihr todtrauriges Liebesgedicht über „das berühmte Gefühl“ findet man in den Versen für Zeitgenossen (1958), die Martin Heidegger rühmte, „dass sie alles wissen, was Sterblichen zu wissen gegeben“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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