Rainer Malkowskis Gedicht „Die Frage“

RAINER MALKOWSKI

Die Frage

Alles Chemie.

Das Wachstum der Zellen,
ihr genaues, befristetes Leben:
alles Chemie.

Die Erfindung der Götter,
das Hohelied, das Radioteleskop:
alles Chemie.

Die Standhaftigkeit
des politischen Gefangenen,
das Glück und der Tastsinn,
freiwillige Armut,
die Rede des Chemikers
bei der Nobelpreisverleihung:
nichts als Chemie.

Nichts als Chemie
das kostbarste Erbgut:
die Frage

1997

aus: Rainer Malkowski: Die Herkunft der Uhr. Carl Hanser Verlag, München 2004

 

Konnotation

Nach einer steilen Karriere in der Werbebranche entschloss sich Rainer Malkowski (1939–2003) eines Tages, das Geschäft mit der funktionalen Instrumentalisierung der Sprache zu beenden und sich nur noch der Poesie zu widmen: Fortan war er „stolz darauf… das Nutzlose zu tun und etwas herzustellen, das keinen gesellschaftlich verfügten Zwecken dient“. Seit seinem Debüt mit dem Band Was für ein Morgen (1975) folgte er konsequent seinem lyrischen Programm: „Wahrnehmung als Ereignis“.
Der Hybris der Naturwissenschaften setzt Malkowski in seinem 1997 erstmals gedruckten Gedicht die Skepsis entgegen. Lakonisch zählt der Text zunächst einige Bereiche auf, in denen menschliche Existenz angeblich genetisch oder chemisch prädeterminiert ist. Handlungsfreiheit ist in einer Welt, in der es nur unentrinnbare Kausalketten gibt, nicht vorgesehen. Doch Malkowski verweist auf „das kostbarste Erbgut“ – die Fähigkeit, Fragen zu stellen und das vermeintlich Unverrückbare in Zweifel zu ziehen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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