Nelly Sachs: Poesiealbum 287

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nelly Sachs: Poesiealbum 287

Sachs/Celan-Lestrange-Poesiealbum 287

AUF DASS DIE VERFOLGTEN NICHT VERFOLGER
aaaaaWERDEN

Schritte –
In welchen Grotten der Echos
seid ihr bewahrt,
die ihr den Ohren einst weissagtet
kommenden Tod?

Schritte –
Nicht Vogelflug, noch Schau der Eingeweide,
noch der blutschwitzende Mars
gab des Orakels Todesauskunft mehr –
nur Schritte –

Schritte –
Urzeitspiel von Henker und Opfer,
Verfolger und Verfolgten,
Jäger und Gefagt –

Schritte
die die Zeit reißend machen
die Stunde mit Wölfen behängen,
dem Flüchtling die Flucht auslöschen
im Blute

Schritte
die Zeit zählend mit Schreien, Seufzern,
Austritt des Blutes bis es gerinnt,
Todesschweiß zu Stunden häufend –

Schritte der Henker
über Schritten der Opfer.
Sekundenzeiger im Gang der Erde,
von welchem Schwarzmond schrecklich gezogen?

In der Musik der Sphären
wo schrillt euer Ton?

 

 

 

Poesiealbum 287

Seit ihrer ersten, 1947 erschienenen Gedichtsammlung In den Wohnungen des Todes schreibt Nelly Sachs im Grund an einem einzigen Buch. Dieser Vorrang des Ganzen vor dem Einzelnen ist keine formale Eigentümlichkeit; er drückt sich nicht im Baugesetz, in der Komposition, als zyklische oder epische Struktur aus; er wurzelt tiefer. Die Idee des Buches, die diesem Werk zugrunde liegt, ist religiösen Ursprungs… Nichts in ihm steht vereinzelt; von Gedicht zu Gedicht sagt sich das konkrete Detail weiter bis zum kosmischen Zusammenhang.

Hans Magnus Enzensberger, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010

Stimmen zur Autorin

Das poetische Werk der Nelly Sachs ist groß und geheimnisvoll: zwei Attribute, die zu vergeben die literarische Kritik in unseren Tagen selten Grund hat… Die Gedichte sind hart, aber durchsichtig. Sie lösen sich nicht in der Lauge der Deutungen auf.
Hans Magnus Enzensberger

Nelly Sachs! Von diesem Gedicht her kenne ich sie. Vom Chor der Steine her kenne ich sie und vom Chor der Waisen her. Ich besitze den neuen Gedichtband: er steht neben den wahrsten Büchern in meiner Bibliothek… Falsche Sterne überfliegen uns – gewiß; aber das Staubkorn, durchschmerzt von der Stimme der Nelly Sachs, beschreibt die unendliche Bahn.
Paul Celan

Die Dichterin setzt die Gestirne in Gang, durch das „Atem verteilende Wort“ wiederholt sie das „Es werde“ des Schöpfungsaktes. In der denkbar größten Bescheidenheit und Selbstverständlichkeit wird dieser lebengebende, weltenschöpfende Akt vollzogen.
Hilde Domin

Das Leiden, dem Nelly Sachs Wort und Stimme gibt, ist kein Thema, das man sich nimmt; dieses Leiden nimmt sich den Menschen, um in ihm selber Wort und Stimme zu werden. Von daher kommt die erschütternde Kraft dieser Dichtung… Ein Mensch dieser Zeit kommt zu Worten, welche den Haß nicht kennen, den Rachegedanken nicht vortragen, die Klage voller Würde sagen und die Anklage unterlassen.
Werner Weber

Das Werk von Nelly Sachs hat deutschen Dichtern geholfen, der dunklen Vergangenheit ins Gesicht sehen zu lernen… Diese Dichtung kennt keinen Haß – das ist ihre Stärke und ihre Grenze; denn sie wirkt versöhnlich auch dort, wo keine Versöhnung geboten ist.
Fritz Hofmann

Ihre Verse können nicht vergessen, können nicht verleugnen, was in unserer Zeit, hier und jetzt, dem Menschen zufügbar ist – was ihm geschehen ist.
Werner Grau

Erst nach langen Jahren wird sich zeigen, ob wir im Angesicht von Gedichten wie den „Gebeten für den toten Bräutigam“ bestehen können. Keine Ehrung und kein Ansehen in der Gesellschaft werden uns helfen können, wenn wir vor diesen Versen versagen.
Walter Jens

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010

 

Vom Pathos der Nelly Sachs

Mein Thema ist das Pathos der Nelly Sachs. Pathos ist ein uns fremd und suspekt gewordenes Phänomen. Die Gründe hiefür sind Teil der jüngsten deutschen Geschichte. Wir haben keine Konvention des Pathos wie in Frankreich, wo eine Kunsttradition pathetischen Sprechens Racine und Corneille auf der Bühne lebendig erhält. Klopstock und Hölderlin markieren Höhepunkte des pathetischen Stils in der Geschichte der deutschen Lyrik. Unsere letzte vom Pathos bestimmte literarische Bewegung war der Expressionismus. Das war – oder war beinahe – die Generation von Nelly Sachs. Von der Literaturrevolution des ,expressionistischen Jahrzehnts‘ blieb die in Berlin Heranwachsende, ungeachtet der räumlichen Nachbarschaft zu einer Hauptszene des literarischen Lebens, so gut wie unberührt. Nicht das geringste ,Wunder‘ in ihrer erstaunlichen literarischen Karriere.
Die Rezeption der Dichtung von Nelly Sachs in den sechziger Jahren (dank Enzensbergers tatkräftigem Engagement) ereignete sich inmitten einer von politischer und linguistischer Reflexion, Realismus, Ironie und understatement geprägten literarischen Tradition, wovon sich ihre Andersartigkeit markant abhob. Daß sich ihre Eingemeindung in die deutsche Literatur unter diesen Vorzeichen vollzog, ist bemerkenswert. Gisela Bezzel-Dischner hat in ihrem 1970 erschienenen Buch das Werk von Nelly Sachs als Paradigma einer modernen Poetik dargestellt und Kennzeichen eines modernen Lyrikstils aufgezeigt, wie sie im literarischen Diskurs der 60er Jahre sich profilierten. Das stimmt teils und ebnet doch manches ein. Ich kann mich hier nicht damit auseinandersetzen. Zweifellos hat sich Nelly Sachs auf eine moderne Handschrift hinbewegt, gekennzeichnet durch „Mehrstelligkeit“: ein „rapideres Gefälle der Syntax“, einen „wacheren Sinn für die Ellipse“, um Celan zu zitieren. Aus anderem Blickwinkel sieht Bengt Holmqvist wiederum Affinitäten zur Postmoderne, da Nelly Sachs, ungeachtet reicher Belesenheit, sich nicht als ,poeta doctus‘ gerierte, das literarische Zitat nicht pflegte, da sie über die Konturierung des Individuellen die Gemeinsamkeit des geistigen Erbes stellte. Der Chronist der deutschen Lyrik der 60er Jahre, ob politischer Poesie, ob Sprachexperiment, sieht in der Erscheinung der Nelly Sachs vor allem den Kontrast zu ihrem poetischen Umfeld, der in ihrem Pathos begründet ist.

Der Terminus ,Pathos‘ bedeutet (etymologisch abgeleitet von der semantischen Variante ,Affekt‘, ,Leidenschaft‘), gemäß Gero von Wilpert, 1., den „Gemütszustand leidenschaftlicher Erregtheit und Ergriffenheit“; 2., den „sprachlichen Ausdruck hierfür in emotionaler, gehobener, überindividueller Sprache von erhabenem Schwung, feierlicher Glut und begeisternder Kraft aus moralischem Anspruch“; „doch mit der ständigen Gefahr des Abgleitens in hohle Deklamation und affektierte Emphase“. Das Pathos des sprachlichen Ausdrucks ist bei Nelly Sachs durch das in der seelischen Hochspannung über sich hinaus greifende individuelle Ich motiviert und gerechtfertigt. Sie selbst spricht von dem „Ausbruch aus dem Privaten ins Universum“, einem geschauten ,inneren Universum‘, das ihre Dichtung sichtbar machen soll.
Das aus sich Hinausgehobensein, Hinausgerissensein als erlebtes Pathos hat dreierlei Ursprung, drei Aspekte, die einander durchdringen:

  1. die Ergriffenheit durch die Erhabenheit des Kosmos,
  2. die Erschütterung durch das Übermaß menschlichen Leids als Stigma jüdischen Schicksals und damit verbunden menschliche Erlösungssehnsucht und Verwandlungskraft,
  3. das Ursprungserinnern des dichterischen Worts.

Es ist ein komplexes Pathos aus mystischen Dispositionen, Erfahrungen und Impulsen, in ständiger Konfrontation mit der grauenvollen Faktizität der Geschichte und der Präsenz der eigenen leidschweren Erinnerung, den Beschwerden des Alltags und Alters, bitteren Enttäuschungen, frisch aufbrechenden Ängsten, Bedrängnis durch Krankheit und Wahnsinn. Unter solchen Voraussetzungen baute sie ihr ,inneres Universum‘ als Transparenz eines dreifachen Geheimnisses: des Kosmos, der jüdischen Existenz und der Sprache. Beda Allemann sieht im Werk von Nelly Sachs „die Wiederaufnahme der kosmischen Dichtung mit modernen Mitteln“. Damit bezieht er sich auf die Weltraum-Visionen von Dichtern wie Mombert und Däubler, hochbegabten Einzelgängern im Vor- und Umfeld des Expressionismus. Doch Allemann zieht sogleich eine klare Grenzlinie:

Aber es findet sich bei Nelly Sachs keine Spur von bloßer Weltraum-Begeisterung und Lichtjahr-Überschwang. Ihre kosmischen Ausflüge gründen in einer konkreten Leid- und Fluchterfahrung.

Dennoch ist die Erinnerung an Momberts Astralmystik nicht abwegig. Alfred Mombert, um zwei Jahrzehnte älter als Nelly Sachs, geb. 1872; seine erste Dichtung erschien 1894, betitelt Der Glühende. Von da an entstand ein Lebenswerk ekstatischer Poesie, kosmischer Individualmythen, befremdend, abstrus, aber auch faszinierend durch dichterische Kraft und Schönheit und von imponierender Einheitlichkeit und Konsequenz. Auslösend und richtunggebend war die Erschütterung einer kosmischen Vision, in der er sich seines Ursprungs in unendlicher Ferne bewußt wurde, des Weltalls der Gestirne als seiner wahren Heimat. Erschüttert stand er einem ,erweiterten Ich‘ gegenüber.
Hinter der Fragwürdigkeit und Abstrusität seiner individuellen mythologischen Konstrukte evoziert seine Dichtung ein ungekanntes Raumgefühl kosmischer Entgrenzung. Er hat das Bild von der ,Scheibe‘ als der trübenden, gläsernen Trennwand zwischen unserem Ichbewußtsein und dem Weltall, die nach Möglichkeit ,enttrübt‘ werden muß, zur Erhellung des Tiefen- und Höhenbewußtseins des Menschen. Die Tiefe ist der irdisch-materielle, wachstümliche Wurzelgrund, die Höhe der unendliche siderische Raum, Dimension des ewigen Schöpfergeistes und wahre Heimat des Menschen. Ausdruck der Sehnsucht danach und Ausweitung des persönlichen in ein kosmisches Ich ist die Aufgabe der Dichtung. Über dem Tiefenbereich des Unterbewußten öffnet sich in polarer Entsprechung die Sphäre des Überbewußten. Statt des ,Hinabsteigens‘ in den seelischen ,Wurzelgrund‘ (Schlüsselbild der Geheimnis- und Gottsuche der Romantik, von Hardenbergs Bergbausymbolik bis zu Rilkes ,Gott in der Tiefe‘ im Stundenbuch, oder Hofmannsthals ,Höhlenkönigtum‘ des Ich, im Paradigmawechsel vom ,Deus in exelsis‘), statt der revolutionären Fixiertheit der Tiefenpsychologie, statt des Grabens: das Sich-Aufschwingen des Ich als menschliche Möglichkeit.
Der deutsch-jüdische Dichter Alfred Mombert, in Karlsruhe gebürtig, ansässig vor allem in Heidelberg, wo er sein Werk schuf, einsam und eigenwillig, der die deutsche Landschaft liebte, ohne religiöse Bindung und ohne das Bewußtsein einer jüdischen Identität, hatte über den siderischen Raum seiner Dichtung nicht auf die Gefährdung seiner irdischen Existenz geachtet; in Deutschland ausgeharrt, bis die Schergen Hitlers bei ihm eindrangen, um ihn in ein südfranzösisches Lager abzuschleppen. Dort schrieb er „in der Baracken-Winter-Finsternis“ (seine eigenen Worte) bruchlos an seinem letzten Werk Sfaira der Alte weiter:

Nacht-Asche auf den Lippen –
bitter – bitter –
aber Triumph im Geist.

Freunde konnten ihn, noch kurz vor seinem Tod, in die Schweiz retten. Dort starb er 1942, siebzigjährig.
Verschieden von Mombert, ist das Pathos kosmischer Entgrenzung bei Nelly Sachs das Korrelat extremer konkreter Leidenserfahrung. Aus ihr löst sich die Gegenkraft eines kosmischen Bewußtseins, die das persönliche Ich über sich hinaushebt. Die dichterische Sternenmystik von Nelly Sachs entstammt nicht dem revolutionierenden Erlebnis einer zentralen Vision, sondern der nie ermattenden Sehnsucht nach jener Sphäre leuchtender Reinheit, die in epiphanen Augenblicken aufscheint. Ihre Helle ist der Gegenwurf zur Finsternis, mit der die Entfesselung des Bösen die Erde bedeckt. Er vollzieht sich diskontinuierlich, mit Rückschlägen, in Neuansätzen, der ,Sternverdunkelung‘ ausgesetzt. Ein nicht endendes Ringen von Gedicht zu Gedicht, um nicht von der Verzweiflung überwältigt zu werden, auf der Suche nach Transzendenz. Der kosmisch geweitete Blick relativiert die irdische Verderbnis, ohne sie aufzuheben. Die wahre Erinnerung der grauenhaften Faktizität bleibt die Folie, von der sich die Suche nach der wesenhaften Wirklichkeit immer wieder abstoßen muß. „Wichtiger als jede Selbstverwirklichung in Kunst“, schreibt Bengt Holmqvist, „blieb [für Nelly Sachs] das Suchen nach einem Weltbild, in dem ihr Los als nicht ganz sinnlos erlebt werden könnte.“ Dem muß hinzugefügt werden, daß für Nelly Sachs dieses ,Weltbild‘ durch keine Theorie faßbar, in keinem Glauben gesichert war und jeder dogmatischen Fixierung widerstrebte; die kreative Offenheit der Dichtung war das einzige Medium für ihre Erfahrung von Transzendenz, die, ohne eine Lösung anzubieten, die Wirklichkeit der Rätsel bezeugt und vermittelt.
Ein Transzendenzbewußtsein, das nie zur Ruhe kommen kann, dessen Bewegtheit Ausdruck findet in der Dynamik der Ausrufe und Fragen und in der unerschöpflichen Bildkraft endloser Assoziationsketten – Mimesis des als Prozeß rastloser Verwandlung begriffenen Kosmos. Sein ruhender Bezugspunkt ist der weltschaffende, weltjenseitige, dennoch der Welt geheimnisvoll einwohnende Gott. In theozentrisch kosmischer Sicht erscheint der Planet Erde seinem göttlichen Ursprung schuldhaft entfremdet; bar des göttlichen Anhauchs der Schöpfungsfrühe, erkaltet, vergreist. Die niederziehende Schwerkraft hemmt den Aufschwung des Geistes:

ERDE, PLANETENGREIS, du saugst an meinem Fuß,
der fliegen will,

[…]

Der Chor der Sterne klagt:

Unsere Schwester die Erde ist die Blinde geworden
Unter den Leuchtbildern des Himmels –
Ein Schrei ist sie geworden
Unter den Singenden –
Sie die Sehnsuchtsvollste

Vergessen hat sie ihren Ursprung, verraten ihren göttlichen Auftrag, ihre Bestimmung, „Engel zu bilden“ im „Staub“: „Des Bösen gelbe Schwefelbilder hüpfen auf ihrem Leib“.
Doch noch ist die Hoffnung nicht erloschen, daß die Erblindete ,wieder sehen‘ wird, wenn die Erinnerung ihres Ursprungs und ihrer Bestimmung erwacht. Sie wird dann zum Sternbild ,Spiegel‘, der, das Licht der übrigen Sterne reflektierend, selbst zu leuchten beginnt. In diesem Sinn lautet am Schluß der huldigende Anruf des Chors der Sterne:

Erde, o Erde
Stern aller Sterne
Einmal wird ein Sternbild Spiegel heißen.
Dann o Blinde wirst du wieder sehn!

Die Sterne als Realität und Symbol verwandeln sich im Gedichtwerk von Nelly Sachs in eine von der Wirklichkeit gelöste kontextdeterminierende, vieldeutige Metaphorik. Frappierend ist die dem Archetyp spiritueller Ferne verbundene vitalistische Komponente: „Fruchtknoten der Gestirne“, „an den Gestirnen des Blutes“, „Blut von den Gestirnen“, „Herzklopfen der Gestirne“. ,Kühne‘ Metaphern mit surrealem Effekt. Ferne und Nähe verschränkt. Die Sterne gesehen als Quelle des Lebens:

und führte Blut von den Gestirnen ein.

Die Sterne bei Nelly Sachs haben also anscheinend nichts gemein mit der astronomischen Realität, da es sich um psychogene Ur- und Inbilder handelt, in höchst individueller Prägung. Das ist auch die in einem interessanten Aufsatz formulierte Ansicht von Wolfgang Grothe. Dazu hier nur soviel: Lange nach der ,kopernikanischen Wende‘ unseres Weltbilds hat in der Poesie das ptolemäisch geozentrische überwintert, hielt sich als Gefühlsresonanz die wissenschaftlich obsolete Anschauung, gestützt auf mythische Tradition und auf unmittelbare Wahrnehmung, in Bildern des bergenden Weltraums und der tröstlich leuchtenden Himmelslichter. Doch dies ist nur ein Teil der literaturgeschichtlichen Evidenz. Da ist das Echo von Pascals Erschrecken über die Unendlichkeit des Sternenhimmels; der Ausdruck der radikalen Verunsicherung des aus der kosmischen Mitte gerissenen Menschen, unendlich klein in der Unendlichkeit des Weltraums. Klopstocks ,Tropfen am Eimer‘. Doch Klopstock vermochte noch, ungeachtet der zerstörten christlichen Kosmologie, das neue Weltbild in seiner unendlichen Dimension und Dynamik als Szenerie des christlichen Heilsgeschehens zu imaginieren. Für Blake dagegen war der Kosmos der Wissenschaft die Reduktion einer seelenlosen Mechanik, die satanische Vernichtung des göttlichen Geheimnisses.
Die Gottsucherin Nelly Sachs erfühlte das Geheimnis in der sich eröffnenden Unendlichkeit des wissenschaftlichen Blicks und reagiert auf den Begriff eines dynamischen Weltalls mit der seelischen Dynamik einer inneren Unruhe, die in weitgespannten Antennen das Wesen der Menschenwelt als ,Flucht und Verwandlung‘ begreift: „An Stelle von Heimat / halte ich die Verwandlungen der Welt –“. Nicht Geborgenheit, sondern der dynamische Prozeß gesetzhafter Evolution und Metamorphose verinnert. Verinnert die Dynamik der Zeit im endlos produktiven Prozeß, die Unendlichkeit des siderischen Raums als grenzenlosen Horizont. Insofern haben die dichterischen Inbilder des ,inneren Universums‘ der Nelly Sachs schon etwas ,gemein‘ mit der astronomischen Realität der Unendlichkeit des Raums. Das Gemeinsame liegt jenseits der Bilder. Die Lebenserfahrung der Entwurzelten und Fliehenden hat sie für das allgemeine Schicksal der fuga temporis sensibilisiert. ,Flucht und Verwandlung‘ sind in eins gesehen. Transzendenz ist die Triebkraft der geschaffenen Welt:

Eingehüllt
in der Winde Tuch
Füße im Gebet des Sandes
der niemals Amen sagen kann
denn er muß
von der Flosse in den Flügel
und weiter –

Das Gefühl des Erhabenen, das die Bestürzung und Ergriffenheit angesichts der Unendlichkeit des Kosmos auslöst, fordert und rechtfertigt den pathetischen Ton. So bei Klopstock. So bei den Kosmikern des frühen 20. Jahrhunderts. Es unterscheidet Nelly Sachs, daß ihre kosmische Ich-Ausweitung, ihr ,Ausbruch aus dem Privaten ins Universum‘ ihrer privaten Leid-Erfahrung wesentlich verbunden ist. Sie hat in der Monstrosität der „Wohnungen des Todes“ ihren Ausgangspunkt. Dorthin, in den „Alptraum einer Henkerszeit“ muß sie wieder zurück. Das Pathos kosmischer Erhabenheit hat das Pathos kreatürlichen Mitleidens als notwendiges Korrelat. Beider Integration ist das Wesensmerkmal ihrer Dichtung. Auch die Intensität der eigensten Leiderfahrung als unmittelbare Motivation und seelische Substanz ihrer Dichtung ist von Anfang an gekennzeichnet durch den ,Ausbruch aus dem Privaten‘. Das am eigenen Leib Erfahrene war Teil eines kollektiven Schicksals. Des Schicksals: Jude zu sein.
Auch wer sich vom Judentum losgesagt hatte, oder wem seine jüdische Herkunft bedeutungslos geworden war, dem Bewußtsein entglitten, vergessen, verdrängt – plötzlich holte ihn das Schicksal ein als offenkundiges, brutales Faktum. Völlig ungerührt von individueller Distinktion und individuellen Lebensentwürfen, veränderte es das Leben des Einzelnen bis auf den Grund, warf es auf den Haufen, der Ächtung, der Qual, der Vernichtung preisgegeben. „Nun das ewige Schicksal mich, mich anspringt“, rief im Jahr des Unheils 1933 der deutsch-jüdische Dichter Karl Wolfskehl aus, als er, 64jährig, aus dem Zusammenbruch seiner bisherigen Existenz den Blick zum Gott seiner Väter richtete, zur Rückkehr und Einkehr gewillt.
Die vierzigjährige Nelly Sachs ergriff das ,ewige Schicksal‘ der Judenheit nicht mit solcher Dramatik. Ruth Dinesen hat den biographischen Hergang nachgezeichnet. Die jüdisch-religiöse Überlieferung war für Nelly Sachs keine bestimmende geistige Wirklichkeit gewesen. Ihre im jüdischen Literatur-Ghetto publizierten Gedichte waren von jüdischer Problematik noch unberührt. In den sieben Jahren der Verfolgung waren Judenstern und Judenname die Schandmale einer vom Feind aufgezwungenen Identität. Das Bewußtsein der inneren Zugehörigkeit zum jüdischen Volk wird langsam in Nelly Sachs gereift sein. Die sich ihr eröffnende Gemeinschaft ist geprägt durch die Gemeinsamkeit im Leid.
Aus ihrer eigenen Leid-Erfahrung und ihrer mystischen Disposition heraus begreift sie das Volk der Bibel als durch gottverhängtes Leiden gezeichnet und ausgezeichnet. Die Zerreißprobe des Leids als absurdes Faktum und als unauslotbares Geheimnis. Das Mysterium Hiob und sein unerhörtes Pathos. Wie für Karl Wolfskehl, wie in dem großen Essay von Margarete Susman, wird für Nelly Sachs die biblische Erzählung von Hiob und seine Gestalt zum Mythos jüdischer Existenz.
Natürlich war ihr Solidaritätsgefühl mit den Opfern brutaler Gewalt nicht auf die Juden beschränkt. Opfer gibt es überall. Und ihnen galt ihr Mitleid. Doch die jüdische Mystik hat ein besonderes Verhältnis zum Urphänomen von Opfer und Leid. Beursprungt bereits nach der Kosmogonie der jüdischen Überlieferung in dem Urleid des sich von sich selbst lösenden, seine in sich ruhende Absolutheit durchbrechenden göttlich All-Einen. Begründet in der göttlichen Welt-Schöpfung als dem weltschaffenden Gottesleid der sich in der ,Auswanderung‘ in die Welt spaltenden Gottheit. Begründet im ,Zerbrechen der Gefäße‘, Gottes Einwohnen in der Welt, seinem Weltexil der Schechina, den über die Welt verstreuten, in sie eingesenkten Gottesfunken. Darum ihre Sammlung und Rückführung als Aufgabe an den Menschen. Sie ist allen Menschen gestellt in der Teilhabe am Prozeß der Erlösung. Die Sehnsucht danach ist der Menschenseele eingesenkt. Sie erwächst aus dem Erinnern göttlicher Ursprungs- und Allverbundenheit. Sie durchbricht die Mechanismen der Geschichte. Sie ist das Inkommensurable in ihrem Raum, in dem sie sich zu bewähren hat. Erlösung wächst aus dem Leid, Erhöhung wird dem Geringsten zuteil. Gottes Erlösungswerk, das die Schöpfung vollendet und alles Geschaffene umspannt, bedarf der Mitwirkung des Menschen. Es vollendet sich am Ende der Zeiten. Aber es aktualisiert sich an jedem Punkt der Zeit, in jeder Liebestat. Jeder eingesammelte Gottesfunke ist ein Same des Heils. Der Appell ergeht an jeden:

Wer wenn nicht du
Wann wenn nicht heut
Wo wenn nicht hier

Der Talmudspruch, das Motto von Karl Wolfskehls Hiob Maschiach. Das sind nur Stichworte, die hier nicht ausgeführt werden können.
Der jüdische Mythos hat den dunklen Grundton gottverhängten, unbegreiflichen Leids. Verstümmelung als Zeichen der Erwähltheit. Vom nächtlichen Ringkampf mit dem geheimnisvollen Gottesboten kehrt Jakob, von da an mit dem Namen Israel behaftet, gesegnet und für immer versehrt zurück. In den herrlichen Versen von Nelly Sachs:

UND AUS DER DUNKLEN GLUT ward Jakob angeschlagen
und so verrenkt; so war’s am ersten Abend eingezeichnet.
Was im Gebiß der Mitternacht geschah,
ist so mit schwarzem Rätselmoos verflochten –
es kehrt auch niemand heil zu seinem Gott zurück –

Leibliche Versehrtheit als Zeichen eines unheilbaren Bruches in der Schöpfung, eines ihr anhaftenden Makels, hinweisend auf die ,Gotteswunde‘ vor der Erschaffung der Welt. Die qualvolle Frage nach der Herkunft des Bösen in der Welt, dieser fremden, unheimlichen Macht, die Gott gebilligt hat. Auch die Gott suchende, zu Gott hinstrebende menschliche Sehnsucht bleibt behindert durch die von Gott zugefügte Beschädigung, die als Spiegel kosmischer Versehrtheit erscheint, der ,entgleisten Sterne‘. Auch die Sehnsucht ist ,verrenkt‘, ,verzogen‘, und ,hinkt‘. Das verstörende Rätsel dieser condition humaine ist verschlossen im Geheimnis der Schöpfung; wie es unvergleichlich der Schluß des Gedichts sagt: .

Doch die entgleisten Sterne ruhen aus im Anfangswort
und die verzogne Sehnsucht hinkt aus ihrem Ort.

Das Gedicht „Jakob“ gipfelt in der als absolut gesetzten Metapher: „Zu Gott verrenkt / wie du!“. Mit dieser Klimax (äußerster Gegensatz zu dem „Und dein nicht zu achten / wie ich!“ im prometheischen Genie-Trotz des jungen Goethe) schließt der Anruf Jakob-Israels, der mit Gott rang und doch Gottes Gnade erfuhr („des Morgentaus tröpfelnde Gnade / auf deinem Haupt –“) in jener gottnahen heiligen Frühzeit und dessen Erinnerung für die Wahrheit Gottes zeugt: „[…] uns / den in Vergessenheit Verkauften“ (eine andere poetische Bibel-Chiffre). „Seit Er dem Sieger. Ahn die Lende renkte. / Nur offenbar dir als ein Untergang“, heißt es in Wolfskehls Hiob-Dichtung. Von einem rätselhaften Schicksal zugleich begnadet und verdammt; von Gott erwählt und von Gott geschlagen, von der Welt verfolgt und gepeinigt, vertrieben und umgetrieben, uneins in sich, unbefriedet, ruhelos, verurteilt zu überdauern unter den Völkern. „Herr! Warum hast du uns aufgespart?“, fragt es in Wolfskehls Spätdichtung. „WARUM die schwarze Antwort des Hasses / auf dein Dasein, Israel?“, fragt Nelly Sachs fassungslos vor dem unlösbaren Rätsel des Antisemitismus, nach seiner äußersten Aufgipfelung.
Das Rätsel der jüdischen Existenz, von dem die Erklärungen abprallen, als absurdem Faktum oder als unauslotbarem Geheimnis. In der biblischen Erzählung von Hiob ist die Innenspannung dieser unvergleichlichen Daseinsform und Wirklichkeit zum höchsten existentiellen Pathos gesteigert und verdichtet. Gottes getreuester Diener wird von Gott, der die Tugend und Treue seines Dieners kennt und ihn liebt, satanischen Prüfungen ausgesetzt und schrecklich bestraft. Das Schrecklichste, daß er sich keiner Schuld bewußt ist und der Grund für seine Bestrafung ihm völlig unverständlich bleibt. Alle seine Fragen, mit denen er Gott bestürmt, bleiben ohne Antwort. Hiob wurde in der Realität der Shoah zur Identifikationsfigur; zum Inbild des Geheimnisses jüdischer Existenz, zum Mythos des jüdischen Schicksals.
„Der Himmel übt an uns / Zerbrechen“, heißt es bei Nelly Sachs. Ich kann leider nur in äußerster Knappheit fortfahren. Wichtiges, was mich sehr beschäftigt hat, muß wegfallen, so der erhellende Vergleich mit Wolfskehls großer Hiob-Dichtung, deren anderer Vision, anderem Pathos, in Korrespondenz und Kontrast. Nur soviel: Hiob – in vierfacher Spiegelung. Im Ersten Spiegel Hiob Israel, das mythisierte Volk des Gottesbundes und des Buches, die Stationen seines Weges durch die Weltgeschichte seit Urvätertagen, „seit Er dem Sieger Ahn die Lende renkte / Nur offenbar dir als ein Untergang“, noch „bar von Bund und Buch“, gottfern, entzaubert, im Bann eines unergründlichen gemeinsamen Schicksals. Hiob im Vierten Spiegel, der dennoch am Ende geheimnisvoll Verklärte in seiner Gestalt als Hiob Maschiach. Hiob als Erlöser.
In dem Gedicht „Hiob“ von Nelly Sachs fehlt jeder geschichtliche Rahmen und auch jeder explizite biblische Bezug. Allein dies ungeheure Leiden, über jedes Menschenmaß hinaus, so daß das Wüten der Elemente den Maßstab des Bildes setzt. Mit einem Furioso von nicht überbietbarem Pathos redet die erste Zeile Hiob an, und faßt sein extremes Leid im Bild der allseitigen Attacke unerschöpflicher kosmischer Dynamik:

O du Windrose der Qualen
Von Urzeitstürmen
In immer andere Richtung der Unwetter gerissen.

Diesem Bildumriß über drei Zeilen folgt in der nächsten einzeiligen Aussage eine vertiefende Ergänzung, bildlogisch entwickelt:

noch dein Süden heißt Einsamkeit

und, die erste Strophe abschließend, die Bekräftigung:

wo du stehst, ist der Nabel der Schmerzen

Nun die Anrede an einen Menschen, dessen schicksalhafte Position die Schmerzen bedingt. Nach dem alfresco der ersten Strophe das Nahbild der zweiten: ein monumentales Haupt:

Deine Augen sind tief in deinen Schädel gesunken

In den folgenden zwei Zeilen ins Übermenschliche gesteigert in dem bizarren Bild der Augen, als der erblindeten Höhlentauben, die dem Jäger zum Opfer fallen:

wie Höhlentauben in der Nacht
die der Jäger blind herausholt

(,Blind‘ in Ambiguität auf die Tauben und den Jäger bezogen). Nach dem Verlust der Augen in den abrundenden zwei Zeilen der Verlust der Stimme:

Deine Stimme ist stumm geworden

Und nach dem abrupten Faktum, in einer Zeile komprimiert, der Grund, der einzige kryptische Bezug auf die Hiob-Erzählung:

denn sie hat zuviel Warum gefragt.

Die vier Zeilen der Schlußstrophe sind antithetisch in gespanntestem Kontrast auf Hiobs Erniedrigung und seine Apotheose verteilt. Er, der stumm geworden ist, gleich den stumm geborenen ,Würmern und Fischen‘, hat stumm die Nächte durchwandert. Aber einmal wird er, wird sein Blut, als seine unverlorene innerste Substanz, zum Sternbild verwandelt und verklärt, „alle aufgehenden Sonnen erbleichen“ lassen.
Bei Nelly Sachs greift das Pathos der Bilder hyperbolisch in kosmische Dimensionen, oder es findet Ausdruck im Elementaren der Schöpfungsfrühe, in überrealen Verschränkungen von Naturphänomen und seelischer Wirklichkeit. Statt Wolfskehls geschichtlicher Strukturierung um Hiob die Vision einer Landschaft aus Schreien. Dort begegnen wir wieder „Hiobs Vier-Winde-Schrei“ mit Jesu „Schrei verborgen im Ölberg“ im großartigen Gleichnis des (Nelly Sachs so bedeutsamen) Naturbildes „wie ein von Ohnmacht übermanntes Insekt im Kristall“. Und dann in dieser poetischen Phänomenologie und Litanei der Schreie, als Apostrophe die kosmische Projektion:

O Messer aus Abendrot, in die Kehlen geworfen.

In anderem Kontext:

[Israel]
der Abendsonne hast du dich ins Blut geworfen
wie ein Schmerz den anderen sucht.

Und:

[…] die Liebe
wie die geköpfte Sonne
im Schmerz
nur Untergang suchend.

Wie der Schmerz hat die Tiefe der Erinnerung kosmische Dimension: „Traumgebogen weit, weiter / sternenrückwärts in der Erinnerung“ beginnt ein Gedicht.
Ich muß hier abbrechen und verweise auf Gisela Dischners Ausführungen zur Metaphorik von Nelly Sachs. Im Kontrast zu Celans Signifikanz der punktuellen Oberfläche die charakteristische Metaphorik der geometrischen Abstrakta (,Linie‘, ,Spirale‘, ,Ellipse‘) („die Luft umspülte – eine Ellipse – / die Straße der Schmerzen“); das gehäufte Vorkommen der Komposita von Straße (,Milchstraße‘, ,Gestirnstraße‘, ,Sternenstraße‘, ,Straße der Schmerzens‘).
Zum pathetischen Stil von Nelly Sachs einige Anmerkungen: Er ist ohne Wolfskehls Gestus der Verkündigung. Anruf und Frage implizieren eine dialogische Intention. Der hohe Schwung der Ergriffenheit, der volle Ton existentieller Klage sind gebrochen und gedämpft durch den prüfenden Gang der Reflexion; durch die eingestreuten modifizierten Partikel ,aber‘, ,doch‘, ,denn‘, in der Art Hölderlins, durch ein hypothetisches ,vielleicht‘:

ABER VIELLEICHT
haben wir
vor Irrtum Rauchende
doch ein wanderndes Weltall geschaffen

mit der Sprache des Atems?

Bizarre und groteske Bilder durchbrechen den hohen Ton; „Landschaft aus Schreien“ schließt:

O du blutendes Auge

in der zerfetzten Sonnenfinsternis
zum Gott-Trocknen aufgehängt
im Weltall –

Zum Pathos des kosmischen Erlebens und des Hiob-Leids kommt das des schöpferischen Worts. Die Intensität des dichterischen Spracherlebnisses ist in der mystischen Erhöhung des Wortes begründet, die in der Genesisdeutung der Kabbala ihren Ursprung hat. Nach kabbalistischer Interpretation des Buches Genesis hat das Ungeteilt-Göttlich-Eine des Uranfangs das theogonische und kosmogonische Schöpfungswort gesprochen. ,Im Anfang‘ – ,Be-Reschit‘ – als Subjekt. Erschaffen und Sprechen eins, Sprache als Schöpfung. Die partielle Identität Gottes mit seiner Schöpfung in seiner Schechina manifestiert sich auch in den Elementen der Sprache: Gottes verborgene Gegenwart in den Weltbausteinen des Alphabets, Gotteskraft eingeschlossen in der Hülle der Wörter, erklingend in den Vokalen, den ,Buchstabenseelen‘ im Konsonanteri-Leib. Der Titel der Gedichtreihe, Geheimnis brach aus dem Geheimnis, im Geist des Schöpfungskapitels aus dem Buch Sohar, bestimmt die Vision vom Urbeginn der Schöpfung als die eines Aufbrechens aus dem unfaßbaren ,allverborgenen‘ Geheimnis des Unendlichen in das Geheimnis der Offenbarung – als einer ,dunklen Flamme‘, unbestimmbar als Erscheinung, doch von unbegrenztem Entwicklungspotential. Abrupt setzt das erste Gedicht ein im Ansturm der Inspiration:

DA SCHRIEB der Schreiber des Sohar
und öffnete der Worte Adernetz

und führte Blut von den Gestirnen ein,
die kreisten unsichtbar, und nur
von Sehnsucht angezündet.

Der begnadete Verfasser des Buches Sohar öffnet das in den vielschichtigen Offenbarungsworten enthaltene unendliche Sinnpotential. Es ist, als Emanation des Schöpfungswortes, die Kraftquelle des Lebens. Darum die vitalistische Bildlichkeit und die seelische Intensität, die Blut, Stern und Wort in der Sprache zusammenzwingt. Die zweite Strophe beginnt:

Des Alphabetes Leiche hob sich aus dem Grab,
Buchstabenengel, uraltes Kristall,
mit Wassertropfen von der Schöpfung eingeschlossen,
die sangen
– […]

Die Sprache, vom Atem des Schöpfungswortes beseelt, hat Verfall und Erstarrung als Schicksal. Der Anhauch des begnadeten Sprechers erweckt die tote Hülle zu neuem Leben. ,Eingeschlossen‘ im Wort die lebendige Schöpfungsspur, in ,uraltem Kristall‘ bewahrt (Lieblingsbild von Nelly Sachs). „Wassertropfen […] die sangen“, plötzlich wieder zum Leben erwacht, mit ihnen der Glanz der Schöpfungsfrühe, wo alles noch im Fluß war:

[…] – und man sah durch sie
Rubin und Hyazinth und Lapis schimmern,
als Stein noch weich war
und wie Blumen ausgesät.

Die hohe Wertung der menschlichen Sprache ist im Fortwirken des göttlichen Urworts begründet. Der schöpferische Dichter gehört in die Verwandtenreihe des ,Schreibers des Sohar‘. Als solchen sah Nelly Sachs Paul Celan und urteilte ergriffen nach der Lektüre von Sprachgitter:

Paul Celans Buch ist ein Buch der Strahlen. Sein Sohar! Mit den kristallenen Buchstabenengeln den durchsichtigen, so wie sie im Buche des Glanzes und der Geheimnisse versammelt sind.

Die Briefstelle ist eine Hommage an Celans sprachschöpferische Kraft. Sie hebt das einzelne Wort ins Bewußtsein jenseits seiner Funktion im Satz, so daß es sich in seiner vollen ,semantischen Evokation‘ entfaltet, in der Strahlkraft seiner Mehrstelligkeit ins eigene Leuchten kommt. Das Aufbrechen der Wörter in die Bauelemente der Silben, ihre rhythmische Profilierung als Bedeutungsträger. Die Transparenz der syntaktischen Strukturen.
Auch Celans Dichtung hat den Hintergrund der jüdischen Sprachmystik. Sie kennt den kosmischen Bezug des Wortes, des ,sternüberflogenen‘, des ,meerübergossenen‘; das Pathos der schöpferischen Urgewalt der „Wortaufschüttungen vulkanisch“. Und Celan fand Stärkung im Besitz des ,Schibboleth‘, des Kennwortes derer, die dem ,Markt‘ und der ,Macht‘ nicht zu Willen sind. Er erblickte am Horizont der Zukunft das ,Zeltwort‘, das in Freiheit und Brüderlichkeit Gemeinschaft zu stiften vermöchte. Aber er erkannte zugleich desto schmerzlicher das ganze Elend der ihm verfügbaren Sprache, freventlich verderbt und entwertet: den ,Bettel‘ und ,Schotter‘ der Worte. Zwischen dem Glanz aus dem ,Buch der Strahlen‘ und dem Schrecken der ,Wortnacht‘ ist Celans Dichtung gespannt. Zwischen dem Wort, das ,leuchten wollte‘ und nicht leuchten durfte: „Asche, Asche“. Celan durchlitt die Spannung zwischen dem erfühlten Potential des Wortes als sinnstiftender Utopie und Verzweiflung. Doch gerade aus dem radikalen Zweifel an der Sprache als Medium der Sinnstiftung und Kommunikation vermochte das tastende und suchende Sprechen seines Gedichts wieder Sprachvertrauen aufzubauen, im Rückgriff auf die Elemente: sich „Wirklichkeit zu entwerfen“; das Gedicht in seinem „Hang zum Verstummen“, das „dennoch spricht“, als „Sprache eines Einzelnen“ sich einem „Anderen zuspricht“ – sei es auch „ein verzweifeltes Gespräch“. Diese radikal einsame, „monologische“ Lyrik ist gemäß dem paradoxen Tiefgang ihrer Intention dialogisch strukturiert. Seine Sprache ist notwendigerweise eine „grauere Sprache“ in ihrem verhaltenen Pathos.
Die Lyrik der Nelly Sachs ist frei von Celans radikaler Sprachskepsis, und seine der radikalen Reflexion entrungenen Poetik, die die Aporien der Kunst bloßlegt und überrundet, ist nicht die ihre. Auch sie bewahrte das unauslöschliche Gedächtnis unerhörten Verbrechens und war dadurch traumatisiert, in den Fängen der Angst, vom Wahnsinn bedroht. Das Pathos der Spannung von lebendigem Gotteswort und verschuldeter Erstarrung bewegt ihre Dichtung. Sie soll „das nach innen verschwundene Gotteswort aus blutender Stummheit und Schlaf hervorleuchten lassen“. Aber die Erschütterung über die tödliche Versehrtheit der Sprache vernichtet nicht das tiefe Vertrauen auf ihre mögliche Restitution. Es muß sich von Gedicht zu Gedicht neu bewähren. Doch alle Verdunkelung tangiert nicht die Sprache des eigenen Dichtens. Nelly Sachs schreibt keine ,grauere Sprache‘. Sie ist unberührt von der Sprachreflexion Celans und jener Autoren der deutschen Nachkriegsepoche, denen die Muttersprache als tief fragwürdig erschien, so daß sie kein Wort ungeprüft übernehmen wollten. Gefordert war radikaler Neubeginn: ,Kahlschlag‘, ,Stunde Null‘. „Keinem ,und‘ und keinem Adjektiv konnte man trauen“, hieß es. Nelly Sachs fordert ein radikales Umdenken, das die rechte Sprache nach sich zieht, Bengt Holmqvist schreibt:

Sie besaß eine innerliche Unschuld, die niemals mit Naivität verwechselt werden sollte. Für sie gab es keine ein für allemal zerstörten Wörter […]. [So gab es] grundsätzlich keine unmöglichen oder undenkbaren Wortverbindungen. Denn für sie war ein Kahlschlag keine brennende Angelegenheit. […] Mitten in der Weltkatastrophe fand sie sich einsam mit einem Deutsch, das aus der Zeit vor der enormen Verwirrung stammte. Plötzlich konnte sie wieder schreiben […], um geistig zu überleben. Sie hatte kein Publikum, und wußte nicht, ob es je eins geben würde […]. Aus dieser Bedrängnis, diesem verzweifelten Ausduckszwang, entstand aber eine paradoxe Freiheit. […] So stand ihr in einer kritischen Lage die ganze Klaviatur der Sprache zur Verfügung [als Medium einer] radikal anderen Weltdeutung.

Darauf beruht, so Bengt Holmqvist, ihre „Sonderstellung“.
Darauf beruht ihr Pathos. Das ausladende Pathos ihres Lyrikstils. Nicht die Entfaltung aus dem in seiner rhythmischen Konturierung profilierten Einzelwort, sondern der Ansturm heterogener Bildgemenge von unerschöpflicher Produktivität und geheimnisvoller Leuchtkraft – bis zum Neuansatz des konzisen, hermetischen Spätstils mit seinem verhalteneren Pathos. Sie erstrebt nicht die Hinterlassenschaft der ,sechs bis acht‘ makellosen Gedichte Benns, vielmehr umgreifende, übergreifende Zusammenhänge. ,Korallenbänke‘ in Enzensbergers suggestivem Bild. Und intendiert ist, als Wesenskriterium moderner Lyrik nach ihrem Urteil, der Ausdruck einer gebrochenen Welt. Die von Holmqvist skizzierte ,Sonderstellung‘ ist die des aus der Sprachgemeinschaft verstoßenen Dichters, der sich dennoch der Sprache innigst verbunden fühlt. Dieses ,dennoch‘ impliziert die seelische Hochspannung seiner Existenz. Losgelöst von der Realität des vergifteten deutschen Sprachraums, ist sein Bezug zu seiner Muttersprache gesellschaftlich unvermittelt, gewissermaßen sprachunmittelbar. Das ermöglicht dem Exil-Dichter eine neue Unbefangenheit gegenüber seiner Sprache, was freilich die Ambivalenz dieser Freiheit nicht aufhebt. Dennoch bestimmt das Grundgefühl der persönlichen, schöpferischen Bindung an die Sprache das Selbstverständnis des deutsch-jüdischen Dichters. Wie für Karl Wolfskehl im antipodischen Neuseeland war für Nelly Sachs die Sprache zur ,einzigen Heimat‘ geworden. Das ,dennoch‘ des verabsolutierten, verinnerten Sprachbezugs ist Quelle ihres Pathos.
Die Dichtung der Nelly Sachs, der authentische Ausdruck ihres jüdischen Schicksals und ihres jüdischen, mystischen Ursprungsgedenkens, spricht deutsch. Deutsch war ihre Sprache, keine andere wählbar. Ihrer sprachlosen Erschütterung öffnete sich im Exil die Sprache in ihrer ganzen schöpferischen Quellkraft. Zwei Jahre vor ihrem Tod schrieb Nelly Sachs an Bengt Holmqvist:

Ja fühlen die Menschen denn nicht, daß man seine Sprache haben muß und grade diese vulkanische Sprache, um ein vulkanisches Erleben zu versuchen in seinen eigenen Visionen zu geben.

Das Pathos dieser deutschen Dichtung, die zugleich jüdische Dichtung ist, entstand aus innerer Notwendigkeit. Mit dem Siegel der Authentizität ist in ihr vereint, was in der äußeren Welt irreparabel zerbrach.
Die jüdische Vision der Nelly Sachs war im Gedenken der Offenbarung Gottes weltumspannend: die Heiligung der Erde als Auftrag unter der Perspektive des Ewigen („so wie ich einmal geschaffen bin, [kann ich nicht anders] als alles was ich denke und tue […], an jene unsichtbare Nabelschnur zu hängen, die Ewigkeit heißt“; 1948). In dieser Perspektive relativierte sich auch die Gründung eines jüdischen Staates, so sehr diese Errungenschaft sie auch bewegt und beglückt hat. (Freilich die Widersprüche brachen auf, die Gefahrenzonen ängstigten sie: „AUF DASS DIE VERFOLGTEN NICHT VERFOLGER WERDEN“: „Selbst Palästina mit dem Urväterstaub“, schreibt sie 1946 in einem Brief, „alles muß doch einmal zurücktreten vor der ewigen Gottgemeinschaft, die uns verbindet. Durch sie werden die Juden der Menschheit noch zu schenken haben, an keine andere Zukunft kann ich mehr glauben als an diese!“
„Pathos ist, das Unmögliche wollen“, „es streckt die Arme aus, das Schrankenlose zu umfangen“, sagt Martin Buber mit Bezug auf die Chassidim. Die Dichtung der Nelly Sachs streckt die Arme aus, bewegt von der Flugkraft der Sehnsucht. Mit dem Fixpunkt des Ewigen und dem Horizont der Heilung und Heiligung der Welt in der Teilhabe an Gottes Erlösungswerk. Das Einsammeln der göttlichen Funken als Auftrag an jeden, in der Spannung von ,Hier‘ und ,Heute‘ und der erfüllten Zeit. Die Sehnsucht, die das ,unsichtbare Universum‘ aufleuchten läßt. Die Sehnsucht als Motor. Die Utopie als Maßstab.
Unser Horizont hat sich neu verdüstert und verengt. Die Utopie ist verfemt als Korrelat der Realität. Das ,Prinzip Hoffnung‘ verabschiedet. Das Vergessen breitet sich aus. Das kalkulierbare Nächste als einzige Orientierung. Alpträume von einst sind schreckliche Alltagsrealität. Das Pathos der Nelly Sachs ist uns ferner denn je. Aber vielleicht gerade darum desto nötiger als Zeugnis für eine Dimension des Menschen, die uns entschwindet.

Paul Hoffmann, Vortrag gehalten auf dem Internationalen Nelly-Sachs-Symposium der Katholischen Akademie in Hohenheim vom 2.-4. Oktober 1992. Erstdruck in: Michael Kessler und Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Nelly Sachs. Neue Interpretationen, Stauffenburg Verlag, 1994

Nelly Sachsdie deutschsprachige Dichterin des Judentums

Wer Nelly Sachs verstehen will, muss sie lesen. Das klingt ebenso wohlfeil und abgegriffen wie hochtrabend. Denn was sonst sollte für einen Schriftsteller sprechen als vor allem das Werk? Dennoch ist die Lektüreaufforderung bei Nelly Sachs in gewisser Weise umfassender gemeint, das Leben und das Dichten umschließend, weil bei ihr beides ineinandergreift und somit das eine ohne das andere nicht genügend oder zumindest nicht tiefgreifend genug zu verstehen ist. Hans Magnus Enzensberger hat diese Besonderheit einmal „das Buch Nelly Sachs“ genannt. Wer darin liest, begegnet der Poesie und ihrer Schöpferin, begegnet dem Leid und dem Tod, Israel und Deutschland, der Sehnsucht und der Verwandlung, dem richtigen Wort und dem sprachlosen Entsetzen. Aber auch damit wird sich der Leser abfinden: dass er nicht schlau wird und nicht schlau werden kann aus den Versen von Nelly Sachs. Weil in ihrer Poesie stets ein Rest an Rätseln verbleibt. Vom Leser wird darum nach den Worten Enzensbergers weniger Scharfsinn gefordert, sondern vielmehr Bescheidenheit. So mag auch die Umkehrung des Eingangssatzes gelten: Wer Nelly Sachs liest, versteht auch sich selbst.
Dass Nelly Sachs einen Einzel- und Sonderfall in der deutschsprachigen Literatur darstellt, mag nicht sonderlich originell klingen. Weil ein derart exklusives Etikett vielen Dichtern zur Steigerung ihrer Bedeutsamkeit angeheftet wird. Die Singularität der 1966 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Dichterin aber lässt sich nicht nur behaupten, sondern auch nacherzählen – sowohl am Leben als auch am Werk.
Nelly Sachs, 1891 geboren, wächst wohlbehütet in Berlin-Schöneberg auf. Sie ist das Einzelkind einer vermögenden Familie. Beides Voraussetzungen, dem Kind zwar komfortable, aber nicht unbedingt freudvolle erste Lebensjahre zu bescheren. Später wird sie ihre Kindheit als „Einsamkeitshölle“ beschreiben. Wichtiger Bezugspunkt und treibende Kraft bleibt bis zu dessen Tod 1930 der Vater, Georg William Sachs. Ein gebieterischer Mensch und eine schwierige Natur; doch zugleich ist er der erste Inspirator für ihre künstlerischen Neigungen. „Mein Vater holte sich den Mut zum Dasein mit jedem Atemzug wieder heim – er war genial begabt, die Erfindungen flossen aus ihm – eine Renaissance-Natur – aber er ließ alles wieder am Wege liegen – so wie es die Dichter mit allem Früheren tun. Alle Reiche des Wissens standen meinem Vater offen, und die Musik war der Sog, der ihn zog“, erinnert sich Nelly Sachs später. Er wird sogar in ihrer Dankesrede auf den Nobelpreis Erwähnung finden, wenn auch anekdotisch mit jenen Worten, die er stets am Geburtstag seiner Tochter sagte:

Heute gedenke ich der Worte meines Vaters, die er an jedem 10. Dezember in meiner Heimatstadt Berlin äußerte: Nun feiern sie in Stockholm das Nobelfest.

Vielleicht war es diese Abgeschiedenheit der frühen Jahre, die sie gegen literarische Strömungen der Zeit und Einflüsse von außen geradezu imprägnierte. Als um 1911 mit Heym, Werfel, Lasker-Schüler und Sternheim die ersten bedeutenden expressionistischen Werke für Aufmerksamkeit sorgen, ist Nelly Sachs 20 Jahre alt. Die Moderne sucht und findet ihr Publikum. Die Verse werden schneller und experimenteller, neue Rhythmen in einer neuen Sprache und mit einer neuen Grammatik geben jetzt den Ton an. In dieser Reizstimmung sind Dissonanzen erwünscht und Hässlichkeiten kein Zeichen mehr für misslungene Verse. Dieser machtvolle und vor Kraft strotzende ästhetische Aufruhr geht an Nelly Sachs nahezu spurlos vorbei. Ihre Gedichte atmen eine Idylle und schöpfen aus einer Romantik, die Zeichen eines noch ungebrochenen Verständnisses unserer Welt sind. Ihr großes Vorbild bleibt zunächst die Schwedin Selma Lagerlöf, der sie ihre Gedichte schickt.
Unberührt bleibt Nelly Sachs von den Zeitläuften nicht, doch sind die Einflüsse politisch brutaler Natur. Das ist die Zeit des Nationalsozialismus, das ist die ständige Lebensbedrohung, die Tochter und Mutter in der ganzen Dramatik erst spät erkennen. Den assimilierten Juden mit ihren tiefen Wurzeln in der deutschen Kultur blieb die existenzielle Gefahr zu lange unbegreiflich. Erst 1940 und nach der Überwindung vieler bürokratischer Hemmnisse gelingt Mutter und Tochter die Flucht nach Stockholm. Das war eine Rettung in letzter Minute; ihr Gestellungsbefehl zum Abtransport in ein Lager war bereits bei ihnen eingetroffen. Mit wenig Gepäck und fünf Goldmark in der Tasche, die von den Nazibehörden mitzunehmen gestattet wurde, kamen Nelly Sachs und ihre Mutter am späten Nachmittag des 16. Mai 1940 in Stockholm an. Die Ausreise verdanken beide Gudrun Harlan, einer Freundin von Nelly Sachs, der es gelungen war, in Schweden Prinz Eugen und Selma Lagerlöf als damals notwendige Fürsprecher für die Ausreise der jüdischen Familie Sachs zu gewinnen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Familie bereits viel Not erleiden müssen: die Konfiszierung eines Großteils des Vermögens, Verhöre, Plünderung der nunmehr kleinen Wohnung durch SA-Leute. „Es kamen Schritte. Starke Schritte. Schritte, in denen das Recht sich häuslich niedergelassen hatte. Schritte stießen an die Tür… Die Tür war die erste Haut, die aufgerissen wurde… Dann fuhr das Trennungsmesser tiefer… Das Gehirn faßt nichts mehr. Die letzten Gedanken kreisten um den schwarzgefärbten Handschuh, der die Eintrittsnummer zur Gestapo verdunkelte und fast das Leben kostete“, schreibt sie in ihrer Prosaarbeit „Leben unter Bedrohung“.
„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, wird Paul Celan, ein späterer Freund und Mentor von Nelly Sachs, dichten. Für sie aber wird das Nazi-Reich mit seinen Vernichtungslagern zum grauenvollen Lehrmeister einer neuen Sprache, eines eigenen Tons. Denn die furchtbaren Erlebnisse, die sie an den Rand des Todes geführt haben, sind nach ihren Worten ihre Lehrmeister gewesen.

Hätte ich nicht schreiben können, so hätte ich nicht überlebt. Der Tod war mein Lehrmeister. Wie hätte ich mich mit etwas anderem beschäftigen können, meine Metaphern sind meine Wunden. Nur daraus ist mein Werk zu verstehen.

Das wird zum Ausgangspunkt ihres Dichtens und wird Bezugspunkt bleiben. Mit In den Wohnungen des Todes ist ihr erster Lyrikband nach Ende des Krieges überschrieben, den sie später als erstes eigenes Werk ansehen wird. Das Ungewöhnliche und Überwältigende ihrer Dichtung aber bleibt, dass ihre Verse in der Sprache tastend, feinfühlig, nahezu zart bleiben. So groß die Tragödie ist (oder vielleicht auch gerade deshalb), so sind ihre lyrischen Klagelieder und dramatischen Legenden „von schmerzensreicher Schönheit“, wie es Anders Österling, Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, in seiner Verleihungsrede zum Literaturnobelpreis über das Werk von Nelly Sachs sagen wird. Es ist der 10. Dezember 1966, ihr fünfundsiebzigster Geburtstag. Nelly Sachs wird den Preis als schwedische Staatsbürgerin entgegennehmen, die sie seit 1952 ist.
Was „schmerzensreiche Schönheit“ heißt, wird deutlich auch mit ihrem Mysterienspiel Eli, das sie in wenigen Nächten niederschreibt und in dem sie mit siebzehn Szenen das Leiden Israels in Worte zu fassen und zu begreifen sucht. Veröffentlicht wurde Eli 1951, doch entstanden ist diese mystische Dichtung zwischen 1943 und 1944. Eli ist ein Gemisch aus Erinnerungen, realen Ereignissen und dem Grauen, das sich vor den Augen der Welt abspielte und das Leiden eines ganzen Volkes spiegelt. Diese szenische Dichtung darf nicht als Flucht aus der Wirklichkeit verstanden werden. Sie ist kein Weg in mystisch unscharfe Regionen. Sie selbst hat diesen Zugang als einen „Ausbruch aus dem Privaten ins Universum“ verstanden.

O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft!

Doch zugleich werden ein neues Selbstbild und das religiöse Selbstverständnis des Dichters formuliert. Er soll eine Art Mystiker sein, der mit seinen Visionen die Welt wandelt und transzendiert. Todesnähe und göttliche Inspiration werden zum poetischen Prinzip. Die Dichtung weist dann über sich selbst hinaus und gewinnt dadurch an prophetischer Kraft. In der Figur des Hirtenjungen Eli verschränkt sich die Legende mit dem persönlichen Erleben der Dichterin: Eli bewahrt das Gedenken an ihren Geliebten aus jungen Jahren. So lassen sich in manchen Versen die Spuren des heimlich und streng geheim gehaltenen Geliebten finden, der wohl verhaftet und von den Nazis ermordet wurde.
Das Erstaunliche bei alldem bleibt, dass Nelly Sachs einer deutschen Sprache nicht misstraute, die von den Nazis in verhunzter und verdrehter Form zu einer Sprache ihrer Macht missbraucht wurde. Die Vorbehalte gegenüber den großen Vokabeln, wie sie unter vielen Schriftstellern der unmittelbaren Nachkriegszeit oft üblich und zumeist bedenkenswert waren, sind ihr stets fremd geblieben. Im Gegenteil, sie versucht, missbrauchte Sprache zu retten, zu bewahren und ihr einen Teil ihrer früheren Unschuld, Reinheit und damit auch Schönheit zurückzugeben. Die Worte wurden nicht dadurch falsch, nur weil andere sie missbrauchten. Wie mahnend klingen dazu ihre Verse:

Völker der Erde,
zerstöret nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses
den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

Der missbrauchten Sprache setzt sie sich aufs Neue aus, in dem Versuch, das „verlorene Alphabet“ wiederzufinden. Wörter wie „Sehnsucht“, „Liebe“, „Heimat“ werden trotz ihrer „totalen Korrumpierung“ in den Gedichten von Nelly Sachs wiedergeboren, so die Literaturwissenschaftlerin Gisela Dischner.
Mit In den Wohnungen des Todes (1947) und Sternverdunkelung (1949) erschienen in Ostberlin und Amsterdam ihre ersten Lyrikbände. Die neue Stimme wird wahrgenommen und geachtet, doch es soll noch einige Jahre dauern, bis sie in der Bundesrepublik nachhaltig entdeckt wird. Dies geschieht unter anderem mit weiteren Lyrikbänden wie Und niemand weiß weiter von 1957 sowie Flucht und Verwandlung zwei Jahre später; zudem mit dem Mysterienspiel Eli, das 1958 erstmals als Hörspiel im Süddeutschen Rundfunk gesendet, in Dortmund zunächst als Theaterstück 1962 und dort schließlich auch als Oper 1966 uraufgeführt wird. Von Bedeutung für die Verbreitung ihres Werkes in Deutschland sind aber auch junge Autoren hierzulande – unter ihnen Hans Magnus Enzensberger  –, die in Sachs’ Lyrik eine neue und unverwechselbare Stimme erkennen. Ihre Verse geben einen anderen Blick auf die Shoah frei; es ist die Sicht der neben Rose Ausländer vielleicht letzten deutschsprachigen Dichterin des Judentums. Für Nelly Sachs sind diese Förderer eine Brücke zu Deutschland, einem Land, dessen Sprache noch immer die ihre ist und die sie „menschlich mit anderen verbindet“. 1965 – zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Frankfurt – traut sie sich zu, ein zweites Mal nach Kriegsende nach Deutschland zu reisen:

Zunächst fiel es mir schwer, dorthin zurückzukehren, aber ich habe junge Schriftsteller getroffen, die mir ganz anders vorkamen als frühere Generationen.

Als sie fünf Jahre zuvor nach Merseburg zur Verleihung des Droste-Preis gereist war, war sie nach ihrer Rückkehr in Schweden zusammengebrochen.
Der barbarische Völkermord und der Vernichtungswahn der Nazis haben Nelly Sachs nicht nur einen Auftrag als Dichterin gegeben, sie haben sie auch mit Fragen nach der eigenen Identität konfrontiert. So wurde sie nach den Worten des schwedischen Literaturwissenschaftlers Bernd Holmquist plötzlich „Jüdin in einem ihr unbegreiflichen, ausschließlichen Sinne, der bald mit einem Todesurteil gleichbedeutend wurde“. Sie erkennt nur langsam ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. Auf Befehl der Nazis hatte sie sich 1938 einen jüdischen Namen zulegen müssen. Unter ihrem letzten in Deutschland publizierten Gedicht steht „Nelly Sara Sachs“. Die braunen Machthaber zwingen ihr zunächst die jüdische Identität auf; als eine geschichtliche Identität nimmt sie diese außerhalb Deutschlands an. Israel steht für sie aber auch als Symbol für jedes bedrängte Volk. Ende der 1950er-Jahre wird für sie zudem die globale Bedrohung immer greifbarer. In einem Gedicht aus dem Zyklus Und niemand weiß weiter von 1957 werden die Stätten des Grauens dieser Welt bereits zusammengeführt – von Maidanek bis Hiroshima. Danach taucht Israel in ihren Gedichten kaum noch auf.
Mit dem Nobelpreis wird sie noch einmal zur Repräsentantin des jüdischen Volkes. Denn 1966 wird die hohe Auszeichnung geteilt. Das ist zwar ungewöhnlich, doch geschieht es nicht zum ersten Mal. Bislang wahrte die Stockholmer Jury das Prinzip, dass ein geteilter Preis stets an zwei Vertreter einer Nation und einer Sprachgemeinschaft gehen müsse. Das ist diesmal schwieriger als sonst. Denn neben Nelly Sachs wird auch der israelische Prosadichter Samuel Joseph Agnon geehrt, der auf Hebräisch schreibt und früher bereits forsch spekulierte, dass er den Nobelpreis wahrscheinlich nie bekommen würde, da die Schwedische Akademie ja nicht Hebräisch läse. Zumindest Agnon soll sich über die deutsch schreibende Nelly Sachs als Mitpreisträgerin nicht übermäßig gefreut haben.
Doch Nelly Sachs plant eine Reise nach Israel fürs kommende Jahr. Die aber wird sie nicht mehr antreten können. Nervenleiden treten wieder auf, Klinikaufenthalte werden nötig. Am 12. Mai 1970 stirbt sie in einem Stockholmer Krankenhaus an Krebs. An diesem Tag wird ihr geliebter Freund und Bruder im dichtenden Geiste, Paul Celan, beerdigt. Er hatte sich im April das Leben genommen.
Dichtung ist Nelly Sachs ein Erfahrungsraum gewesen. Nicht aber als Erkundung irgendeines Lebens, sondern als die Erfahrung der bedrohten Existenz. Ihr Standort markierte darum zumeist die Grenze zum Abgrund. In der Frühphase ihrer Dichtung – den ersten Jahren im Exil – hat sie aus dem Chassidismus, einer Form der jüdischen Mystik, die Kraft zum Überleben geschöpft. Der apokalyptischen Gegenwart aber kann sich der Einzelne kaum entziehen, am besten vielleicht noch in der Verwandlung. Auch in der Flucht sah sie eine Form der Metamorphose, die zu einem seelischen wie auch visionären Versuch werden könne, die Enge unseres Daseins mit einer universalen Weite zu tauschen. Die Überwindung des beschränkten Diesseits öffnet dann eine kosmische Perspektive. Es meint letztlich auch die Überwindung der Vergänglichkeit.

An Stelle von Heimat
halte ich die Verwandlungen der Welt

Lothar Schröder, in Lothar Schröder und Enno Stahl: Die deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger, Droste Verlag, 2016

Marcel Reich-Ranicki: Die kranke Dichterin in Stockholm. Erinnerung an ein Gespräch mit Nelly Sachs.

Simone Frieling: Nelly Sachs. Dichterin des Grauens

 

 

PIETA II
Für Nelly Sachs

Abgetragen das Dach
mit dem Schwalbennest
Ziegel dem Feuer zum Fraß

Im Wolkenfloß
wasserbeladen
strömst du
zum brennenden Haus

versengte Seelen im Arm
Pieta
wem fielen die Schmetterlingsflügel
zum Opfer

Brüchige Burg
auf dem Sandberg
morsches Haus im Morast

Wo
Schwester der Schwalben
Schmetterlingsschwester
wo finden sie
Zuflucht

Rose Ausländer

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“

Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner

„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs

 

 

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966

Zum 30. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000

Zum 125. Geburtstag der Autorin:

Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016

Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020

Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020

Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020

Zum 130. Geburtstag der Autorin:

Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Friedenspreis +
Archiv + Internet Archive + Kalliope + KLGIMDb + UeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Nelly Sachs: TAT

 

Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.

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