Octavio Paz: Die andere Zeit der Dichtung

Vorwort

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Octavio Paz: Die andere Zeit der Dichtung

Paz-Die andere Zeit der Dichtung

In einem Buch, das vor mehr als fünfzehn Jahren erschien. El arco y la lira (Méxiko 1956), habe ich versucht, auf drei Fragen der Dichtung eine Antwort zu geben: Ist das dichterische Sagen, das Gedicht, mit jedem anderen Sagen unvereinbar? Was sagen die Gedichte? Wie kommunizieren die Gedichte miteinander? Das Thema des vorliegenden Buches ist eine Erweiterung der Antwort, die ich auf die dritte Frage zu geben versucht habe. Ein Gedicht ist ein Gegenstand, der aus der Sprache, den Rhythmen, den Anschauungen und den Obsessionen dieses oder jenes Dichters und dieser oder jener Gesellschaft besteht. Es ist das Produkt einer geschichtlichen Zeit und einer Gesellschaft, aber seine Geschichtlichkeit ist widersprüchlich. Das Gedicht ist eine Maschine, die, auch ohne daß der Dichter das will, Anti-Geschichte erzeugt. Das dichterische Verfahren besteht in einer Umkehrung und Umwandlung des Zeitflusses; das Gedicht hält die Zeit nicht an: es widerspricht ihr und verwandelt sie. Sowohl in einem Sonett des Barock als auch in einem Volksepos oder in einer Fabel verläuft die Zeit anders als in der Geschichte oder in dem, was wir das wirkliche Leben nennen. Der Widerspruch zwischen Geschichte und Dichtung findet sich in allen Gesellschaften, doch erst in der Neuzeit zeigt sich dieser Widerspruch in aller Deutlichkeit. Das Gefühl und das Bewußtsein des Zwiespalts zwischen Gesellschaft und Dichtung ist mit der Romantik das zentrale, wenngleich oft geheime Thema unserer Dichtung geworden. In diesem Buch nun habe ich versucht, aus der Perspektive eines hispanoamerikanischen Dichters, die moderne Bewegung der Dichtung und ihre widersprüchlichen Beziehungen zu dem, was wir „Modernität“ nennen, zu beschreiben.

Ungeachtet der Verschiedenheit der Sprachen und Kulturen der westlichen Länder bildet die moderne Dichtung des Okzidents eine Einheit. Es versteht sich, daß der Begriff „Okzident“ auch die angloamerikanische und lateinamerikanische dichterischen Traditionen (in ihren drei Zweigen: die spanische, die portugiesische und die französische) umfaßt. Um die Einheit der modernen Dichtung zu verdeutlichen, habe ich die drei, meiner Meinung nach, bedeutendsten Phasen ihrer Geschichte gewählt: ihren Beginn mit den englischen und deutschen Romantikern, ihre Verwandlung im französischen Symbolismus und im hispanoamerikanischen Modernismo, ihren Höhepunkt und ihr Ende in den avantgardistischen Richtungen des 20. Jahrhunderts. Von Anfang an ist die moderne Dichtung eine Reaktion auf und gegen die Moderne gewesen: die Aufklärung, die kritische Vernunft, den Liberalismus, den Positivismus und den Marxismus. Daher die Ambiguität ihrer Beziehungen – die fast immer mit einer begeisterten Zustimmung beginnen, auf die ein jäher Bruch folgt – zu den revolutionären Bewegungen der Moderne, von der Französischen Revolution bis zur russischen. In ihrem Disput mit dem modernen Rationalismus entdecken die Dichter eine Tradition wieder, die so alt ist wie der Mensch selbst, eben jene Tradition, die, vom Neuplatonismus der Renaissance sowie den hermetischen und okkultistischen Sekten und Strömungen des 16. und 17. Jahrhunderts überliefert, das 18. Jahrhundert durchzieht, ins 19. Jahrhundert eindringt und noch in unserer Zeit fortlebt. Ich meine die Analogie, die Vorstellung der Welt als ein System von Korrespondenzen und die Vorstellung der Sprache als das Doppel der Welt.

Die Analogie der Romantiker und der Symbolisten ist von der Ironie unterhöhlt, das heißt vom Bewußtsein der Moderne und ihrer Kritik des Christentums und der anderen Religionen. Die Ironie verwandelt sich im 20. Jahrhundert in den – schwarzen, zotigen oder sakrilegischen – Humor. Analogie und Ironie konfrontieren den Dichter mit dem Rationalismus und dem Progressismus des modernen Zeitalters, aber auch, und ebenso heftig, mit dem Christentum. Das Thema der modernen Dichtung ist ein doppeltes: einerseits ist es ein widersprüchlicher kritischer Dialog mit den modernen Revolutionen und den christlichen Religionen; andererseits ist es, im Innern der Dichtung und jedes dichterischen Werks, ein Dialog zwischen Analogie und Ironie. Der Kontext, in dem dieser zweifache Dialog sich entspinnt, ist ein weiterer Dialog: die moderne Dichtung kann betrachtet werden als die Geschichte der widersprüchlichen Beziehungen der Anziehung und Abstoßung zwischen den romanischen und den germanischen Sprachen, zwischen der zentralen Tradition der griechisch-lateinischen Klassik und der von der romantik vertretenen Tradition des Besonderen und Bizarren, sowie zwischen dem quantierenden und dem akzentuierenden Versbau.

Im 20. Jahrhundert gehen die Avantgarden dieselben Wege wie im vorigen Jahrhundert, nur in umgekehrter Richtung: der modernism der angloamerikanischen Dichter ist ein Versuch, zur zentralen Tradition des Okzidents zurückzukehren – das genaue Gegenteil, dessen, was die englisch-deutsche Romantik gewesen ist −, wohingegen der französische Surrealismus die Bestrebungen der deutschen Romantik aufs Äußerste treibt. Die eigentliche zeitgenössischen Periode ist die des Endes der Avantgarde und mit ihr dessen, was man seit Ausgang des 18. Jahrhunderts moderne Kunst genannt hat. Was in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts in Frage gestellt wird, ist nicht der Begriff der Kunst, sondern der Begriff der Moderne. Auf den letzten Seiten dieses Buches deute ich das Thema der Dichtung an, die nach der Avantgarde beginnt. Diese Seiten schließen an Die rotierenden Zeichen an, eine Art poetisches Manifest, das ich 1965 veröffentlicht habe und das als Epilog in Der Bogen und die Leier aufgenommen worden ist.

Der Text dieses Buches ist, modifiziert und erweitert, jener der Vorlesungen, die ich im ersten Semester 1972 an der Harvard University (Charles Eliot Norton Lectures) gehalten habe.

Octavio Paz, Cambridge, Mass., 28.6.1972

 

„Das Bewußtsein des Zwiespalts

zwischen Gesellschaft und Dichtung ist mit der Romantik das zentrale, wenngleich oft geheime Thema unserer Dichtung geworden. In diesem Buch habe ich versucht, aus der Perspektive eines hispano-amerikanischen Dichters, die moderne Bewegung der Dichtung und ihre widersprüchlichen Beziehungen zu dem, was wir ‚Modernität‘ nennen, zu beschreiben.“
Mehr als eine Beschreibung hat Paz mit diesem großen poetologischen Essay vorgelegt: eine Erkundung. Mit ihren zeitendurcheilenden, raumgreifenden Vorstößen ist sie ein geistig aufregendes Unternehmen. In kreisender Such- und Denkbewegung vollzieht Paz die widersprüchlich-produktive Bewegung des modernen Bewußtseins nach, von der  „Tradition des Bruchs“ bis hin zum „Tod der Avantgarde“.
Mit seinen unorthodoxen, grundsätzlich grenzsprengenden Kenntnissen und mit der essayistischen Unruhe seines Weiterdenkens führt Paz den Leser zu Einsichten, die weit über die Fragestellung nach der spezifischen Modernität des Gedichts und der anderen Zeit der Dichtung hinausgehen.
Hans-Jürgen Schmitt hat in der Frankfurter Rundschau zwei Gründe „für die überragende Bedeutung des essayistischen Werks von Paz“ angeführt: „Er hat die Wirklichkeit stets als Feld der Erkenntnis genommen und für die gewonnene Weltsicht im Essay die genuine Ausdrucksform gefunden: der Essay als Entlarvung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse, als Entblößung der wahren Physiognomie von Kunst und Kultur, als Enthüllung dichterischer Prozesse; und der Essay als die große transkulturelle Synthese, die Lateinamerika und Europa heißt.“

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1989

 

Wer spricht in mir, wenn ich spreche?

− Der bedeutende mexikanische Lyriker ist auch ein großartiger Essayist und Theoretiker der Literatur. −

Dante, Göttliche Komödie, X. Gesang: Im sechsten Kreis der Hölle, wo die Ketzer und die materialistischen Philosophen büßen, erträgt einer geduldig die Feuerfolter und prophezeit dem Dichter, der zu Besuch in der Unterwelt weilt, die Verbannung – und sich selbst, daß er die Gabe des zweiten Gesichts verlieren werde, wenn der Jüngste Tag kommt, „wenn sich die Tore der Zukunft schließen“.
Octavio Paz beschreibt in seinem zuletzt auf deutsch erschienenen Buch „Die andere Zeit der Dichtung“, daß ihn dieses Bild Dantes nie wieder losgelassen hat. Das Thema des Todes Gottes sei ein Gemeinplatz geworden, schreibt er, „selbst die Theologen sprechen offen über diesen Topos“ – doch der Gedanke, daß die Tore der Zukunft eines Tages geschlossen werden sollten:

Dieser Gedanke macht mich abwechselnd schaudern und lachen.

Ein Leben ohne Utopie? „Wir begreifen die Zeit als einen kontinuierlichen Verlauf“, heißt es bei Paz, „als ständige Bewegung auf die Zukunft zu; wird die Zukunft verschlossen, kommt die Zeit zum Stillstand. Ein unerträglicher und unannehmbarer Gedanke, denn er ist in doppelter Weise abscheulich: er beleidigt unser moralisches Empfinden, indem er sich über unsere Hoffnungen auf die Perfektibilität des Menschengeschlechts lustig macht, und er beleidigt unsere Vernunft, indem er unsere Anschauungen bezüglich der Evolution und des Fortschritts negiert.“ Doch läßt Paz in seinen Vorlesungen, die er 1972 in Harvard hielt, keinen Zweifel daran, daß er in Politik und Kultur mit dem Ende der Moderne, dem „Tod der Zukunft“ rechnet.

Heute, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gibt es Anzeichen für einen Wandel in unserem System von Anschauungen. Die Konzeption der Geschichte als fortschreitende lineare Entwicklung hat sich als nicht haltbar erwiesen. Dieser Glaube entstand in der Neuzeit, und in gewisser Weise war er ihre Rechtfertigung, ihre raison d’etre. Sein Bankrott offenbart einen Bruch im zeitgenössischen Bewußtsein selbst: die Moderne beginnt den Glauben an sich selbst zu verlieren.

Im ersten Band der „Essays“ ist jenes fundamentale Bekenntnis von Paz formuliert, das Botho Strauß einmal an zentraler Stelle seines Prosabands „Paare, Passanten“ (etwas verkürzt) zitiert hat:

Der Schriftsteller spricht nicht vom Nationalpalast, vom Volksgerichtshof oder von den Büros des Zentralkomitees aus: er spricht von seinem Zimmer aus. Er spricht nicht im Namen der Nation, der Arbeiterklasse, der Grundbesitzer, der ethnischen Minderheiten, der Parteien.

Und dann die entscheidende Wendung:

Er spricht nicht einmal im Namen seiner selbst: das erste, was ein wahrhafter Schriftsteller tut, ist, an seiner eigenen Existenz zweifeln. Literatur beginnt, wenn einer sich fragt: wer spricht in mir, wenn ich spreche?

Die Stimme des Schriftstellers, heißt es weiter bei Paz, habe ihren Ursprung in einer „Nichtübereinstimmung mit der Welt oder mit sich selbst“, sie sei Ausdruck des Schwindelgefühls „angesichts der sich auflösenden Identität“. Die paradoxale Folge:

Das Wort des Schriftstellers ist mächtig, weil es einer Position der Nicht-Macht entspringt.

Octavio Paz ist einer der großen Lyriker der Gegenwart, doch noch faszinierender als seine Gedichte ist der Kosmos der Aufsätze, Reden und Vorlesungen. Er hat bisher 21 Lyrik und 23 Essaybände veröffentlicht, ein Theaterstück geschrieben – keine Erzählungen, keinen Roman. Ein beachtlicher Teil seines Werks liegt in deutscher Übersetzung vor, zum Teil in Auswahlbänden. „Die andere Zeit der Dichtung“, ein Versuch über Romantik und Avantgarde, ist immerhin schon der achte Essayband in deutscher Sprache. Es gibt zwei große Sammlungen der Gedichte („Gedichte“ und „Suche nach einer Mitte“), die dritte wird in diesen Wochen unter dem Titel „In mir der Baum“ erscheinen. Für das folgende Frühjahr ist die deutsche Übersetzung der theoretischen Hauptschrift angekündigt: ein Werk von 700 Seiten über die mexikanische Mystikerin und Barockdichterin Sör Juana Ines de la Cruz.
„Wenn sich die Tore der Zukunft schließen“: In seinen Harvard-Vorlesungen beschäftigte Paz sich mit den aktuellen Veränderungen und ihren Einflüssen auf die Literatur. Wie die Dichtung am Ende des 20. Jahrhunderts aussehen könnte, darüber läßt sich kaum diskutieren ohne seine Überlegungen, die immer wieder durch pointierende Zuspitzung bestechen (unter der bisweilen, das sei nicht verschwiegen, die Stringenz ein wenig leidet).
Sehr hellsichtig beschreibt er einen Grundwiderspruch der Literatur innerhalb der Moderne:

Die Moderne hat sich mit dem Wandel identifiziert, hat den Wandel mit Kritik und beide mit dem Fortschritt identifiziert. Die moderne Kunst ist modern, weil sie kritisch ist. Ihre Kritik hat sich in zwei entgegengesetzte Richtungen entfaltet: sie war eine Negation der linearen Zeit der Neuzeit und eine Negation ihrer selbst.

Die Zuspitzung dieser Entwicklung, die Paz von der Romantik (besonders der deutschen und englischen) herleitet, sieht er in der künstlerischen Avantgarde, die die Moderne ablöst und beendet: „Die Avantgarde ist der große Bruch, und mit ihr endet die Tradition des Bruchs.“ Die Idee des Wandels sei die Grundlage der modernen Kunst gewesen. Und nicht ohne Spott resümiert Paz die Kunstbemühungen der letzten hundert Jahre:

Die Nachahmung der Modernen hat mehr Talente steril gemacht als die Nachahmung der Alten.

Zur Beschleunigung sei die Vermehrung hinzugekommen – „nicht nur, daß die Avantgarden, kaum sind sie entstanden, verschwinden, sie breiten sich auch aus wie schwammige Wucherungen. Die Vielfältigkeit mündet in Einförmigkeit. Zerfall der Avantgarde in Hunderte einander gleicher Bewegungen: im Ameisenhaufen verschwinden die Unterschiede.“
Was aber dann? „Was in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts in Frage gestellt wird, ist nicht der Begriff der Kunst, sondern der Begriff der Moderne“, schreibt Paz schon im Vorwort. Der Titel „Die andere Zeit der Dichtung“ soll nicht bedeuten, daß eine neue Zeit für die Dichtung anbrechen werde, sondern daß wahre Dichtung stets etwas der Zeit und ihrer Bewegung Entgegengesetztes sei. „Beständigkeit“: Vielleicht ist es gar nicht so interessant, suggeriert Paz, nach dem Fortschritt etwa in Prousts Literatur zu suchen, sondern zu entdecken, was Prousts Werk mit dem Homers gemeinsam hat.
Bei der Bestimmung dessen, was kommen könnte, was die Moderne ablöst, bleibt auch Paz vage.

Die Gefahren der Ästhetik des Wandels sind auch ihre Vorzüge: wenn alles sich verändert, verändert sich auch die Ästhetik des Wandels. Eben das ist heute der Fall. Die Dichter der modernen Ära suchten das Prinzip des Wandels: wir Dichter eines neuen Zeitalters suchen das unwandelbare Prinzip, das die Grundlage der Wandlungen ist.

Kein Fortschritt mehr? Ewige Dichtung? Nein, noch haben sich die Tore nicht geschlossen, noch sind wir in Bewegung – und mit uns die Literatur. Octavio Paz skizziert einen Zustand des Übergangs und fordert Beständigkeit − in einer sich weiter beschleunigenden, sich überschlagenden Welt. Ein poetischer Wunsch, ein frommer Wunsch.

Volker Hage, Die Zeit, 19.10.1990

Kosmopolitismus und Mexikanität

− Octavio Paz – Sucher zwischen den Kulturen. −

Octavio Paz stammt aus Mexico City. Er ist also Großstädter, seiner ganzen seelisch-geistigen Struktur nach. Hieraus erklärt sich die kosmopolitische Seite seines Wesens. Das nichtstädtische, das ländliche Mexico, bleibt bei Paz peripher, wenn er auch Sympathie für das rüde Leben der Indios bekundet und beklagt, daß die schon seit Jahrzehnten herrschende institutionalisierte Revolutionspartei die Ideale Zapatas und seiner rebellierenden Bauernheere verraten habe – zugunsten einer der nordamerikanischen Industriekultur verfallenen Fortschrittssüchtigkeit.
Für Paz ist der Gegensatz zur modernen mexikanischen Wirklichkeit nicht die von ihm gelegentlich beschworene vorkapitalistische Agrargesellschaft. Seine erträumten Gegenwelten zur entpersönlichenden und bürokratisierenden Realität der Technik und der Industrie liegen ausnahmslos in zeitlicher und räumlicher Ferne zum Mexico von heute. Es ist zum einen die alte präcolumbianische Sozietät. Zum anderen aber ist es Asien, sind es Indien, Japan und das alte China, entlegene Länder, wo Paz in Religion, Philosophie und Poesie Entsprechungen für sein persönliches Empfinden sucht.
Paz erstrebt seine Selbstfïndung als Mexikaner weniger durch Anverwandlung nationalen Erbes als durch ein intensives Studium archetypischer Muster fremder Epochen und anderer Kulturen. So bringt er, der wegen seines berühmten Essays „Das Labyrinth der Einsamkeit“ von 1950 in aller Welt als der mexikanische Identitätssucher par excellence gilt, einen paradoxen Zug in die geistige Auseinandersetzung: Er betont zwar das Mexikanertum, aber nur, um es letztlich in der Vorstellung einer Universalität aufzulösen, die kaum noch regionale Wurzeln kennt.
Mexicanidad – das ist für Paz eigentlich kein ethnischer, kultureller oder gar sinnenhafter Inhalt, sondern die restlose Verneinung jeder noch möglichen Identifikation. Absurderweise macht der Autor die gegenwärtige Entfremdung des Mexikaners zu dessen definitiver Wesensbestimmung. In der Entfremdung gleiche der Mexikaner allen anderen Menschen, „hinfort werden die Entscheidungen der Mexikaner alle Menschen angehen und umgekehrt“.
Es ist also unzutreffend, in Octavio Paz einen Verfechter oder gar einen Ideologen der Mexikanität zu sehen. Auch seine Rückbesinnung auf das indianische, besonders das aztekische Kulturgut enthält mehr psychisch-archaisierende als chauvinistisch-nationale Züge. Octavio Paz, Vertreter der mexikanischen Großstadtintelligenz, durchforscht die ganze Welt nach Projektionsräumen für ein zutiefst mythisches Verlangen, das im Umkreis seines sachlichen und nüchternen Daseinsbereichs keine Erfüllung findet. Die Ausgangssituation wird in folgenden Versen aus „Abgebrochene Elegie“ erkennbar:

Doch kein Wasser gibt’s mehr, verdorrt ist alles,
das Brot ohne
Geschmack, die Früchte bitter,
Liebe domestiziert, zerkaut, zerspeichelt,
in Käfigen mit unsichtbaren Gittern
Affe Onan mit der dressierten Hündin,
was du verschlingst, verschlingt dich selber,
dein Opfer ist zugleich dein Henker,
Ein Haufen toter Tage, zerknitterter
Zeitungen, und entkorkte Nächte
und Morgendämmerungen, Krawatte, Schiebeknoten…

Wie der T.S. Eliot der Waste-Land-Phase oder der noch nicht beim Kommunismus vor Anker gegangene Neruda der Sammlung Aufenthalt auf Erden fühlt sich auch Paz einer modernen transzendenzlosen Welt überantwortet, einer Zivilisationsmaschinerie, die das sinnspendende reine Sein nur noch in naturbezogenen Utopien aufzuspüren weiß, in Phantasieentwürfen:

Quer durch die städtische Nacht aus Stein und Dürre
kommt das Land in mein Zimmer herein.
Grüne Arme streckt es mir entgegen mit Vogelbändern ums Gelenk,
mit Blätterspangen.
Es führt einen Fluß an der Hand.
Auch der Himmel vom Lande kommt herein
mit seinem Korb voll frisch gebrochener Juwelen.
Und das Meer setzt sich neben mich…

In Versen wie diesen, die vergleichsweise selten sind, wirkt der poetische Zauber des creacionismo nach, jener von Vicente Huidobro geschaffenen Metaphernkunst, die sich in hochkarätigen Sprachbildern an der Schönheit einfacher Dinge und empfindungsmäßiger Unmittelbarkeiten zu erfrischen gewußt hat. Gewöhnlich wird bei Paz die imagistisch-creacionistische Sprachschicht jedoch interpretatorisch überlagert. Das Sinnliche wird reflektiert, kommentiert. Und die Bilder fungieren als bloße Illustrationen eines um Definitionen ringenden Philosophierens, das sich gleichermaßen der Mythen, der Archetypen und der wissenschaftlichen Theorien bedient. Surrealismus, Marxismus, Buddhismus, französischer Strukturalismus – Paz verwendet nach- und nebeneinander vielerlei Kunstrichtungen, Weltanschauungen, Religionen und Denksysteme, um seiner inneren Unruhe Herr zu werden. Und für sein deterministisches Lebensgefühl sucht er eine Entsprechung im Weltbild der Azteken:

Unsere mexikanischen Ahnen glaubten weder, der Tod gehöre ihnen, noch glaubten sie, ihr Leben sei wirklich – im christlichen Sinne des Wortes – ihr Leben. Alles verband sich, um gleich bei der Geburt Leben und Tod eines jeden Menschen festzulegen: soziale Zugehörigkeit, Ort, Jahr, Tag und Stunde der Geburt. Der Azteke war ebensowenig verantwortlich für seine Taten wie für seinen Tod.

Die mexikanische Überlieferung befriedigt Paz jedoch kaum mehr als irgendeines der intellektuellen Schemata, die er untersucht, durchprobiert und, als Möglichkeit unter anderem, seinem Repertoire einverleibt. Paz ist auf der Suche nach der Identität des Mexikaners, weil er auf der Suche nach seiner eigenen Identität ist. Er spiegelt sein Ich in großen Ideen ab, zu denen er eine Art Wahlverwandtschaft empfindet, und er weiß sich in seiner Mestizenseele der indianischen wie der spanischen Tradition sowohl nah als fern. Deshalb schweift er weiter, in seinem Fühlen wie in seinem Denken, und er findet in Asien Entsprechungen für sein Empfinden, während er im Umkreis europäischen Wissenschaftsdenkens nach Argumenten Ausschau hält, die seinem Empfinden eine rationale und kausale Grundlage geben.
Paz’ Methode ist ein mobiles System, durchlässig für die unterschiedlichsten Inhalte, sofern diese der unbewußt vorangegangenen inneren Wahl entsprechen. Geistiges und Emotionelles wird verklammert. Und viele seiner Äußerungen über die mexicanidad die dem sachunkundigen Europäer als messerscharfe Analysen erscheinen, sind Hervorbringungen eines mischenden Vorgangs, bei dem durchaus widerspruchsvolle Ergebnisse entstehen. So überträgt Paz beispielsweise gewisse völkerpsychologische Einsichten des Spaniers Antonio Machado auf die sehr andersartigen Verhältnisse seines Heimatlandes – ein Umstand, der manche Überzeichnung und auch einige Paradoxa in „Das Labyrinth der Einsamkeit“ erklärt, zumal Paz die spielerischaphoristische Methode seines Vorbildes nicht übernimmt, sondern großflächige Aufsätze konzipiert.
Bei Paz verbinden sich altindianische Verzweiflung und katholische Prädestinationslehre zu einem Weltbild, in dem die sinnlichen Einzelheiten und die realen Lebewesen zu bloßen Symbolen abstrakter Ideen werden:

das Leben – wann denn war es wahrhaft unser?,
wann sind wir, was sind wir, in Wahrheit, wirklich?,
einzeln sind wir, genau betrachtet, niemals
was anderes als Taumel, Schwindel, Leere,
Spiegelfratzen, Entsetzen und Erbrechen…

Ein Zustand steter Unruhe wird enthüllt, und wenn das poetologische Credo auch lautet „wie die Koralle ihre Zweige im Wasser, / strecke ich meine Sinne aus in der lebendigen Stunde“, so herrscht doch die Neigung vor, sich gegen die sinnenhafte Welt hinter einem Paravent grauer Abstraktionen zu verschanzen: „Da ist kein Du, kein Ich, kein Morgen, Gestern.“
Das Anonyme, Freud- und Namenlose herrscht vor, und überall beginnt gleich das Schweigen, die Nacht, das Nichts. Der aus dem Gesamtzusammenhang der Schöpfung herausgerissene Großstadtmensch erlebt sich selbst im Zustand existentieller Not und moralischer Verstrickung. Er fühlt sich gleichzeitig als Opfer, Zeuge und Richter. Die Welt von Octavio Paz ist eine dualistisch-tragische Welt, in der das Rad der Zeiten unentwegt über neue Verhängnisse hinrollt. Das Individuum, der in sein kleines privates Schicksal eingenähte einzelne, vagabundiert durch die kulissenartigen Umstände seines sterilen Lebens, und in der Isolation weitet sich das Panorama nur noch selten zu einer offenen Landschaft:

Ich war ein Kind,
Und der Garten glich meinem Großvater,
Ich kletterte auf seine vegetabilischen Knie,
Ohne zu wissen, daß es die Masten eines gestrandeten Schiffes waren.

Solche paradiesischen Ausblicke auf Natur und unschuldsvolle Frühanfänglichkeit sind bei dem poeta doctus Paz viel sporadischer als etwa bei seinem älteren Landsmann Carlos Pellicer, der – ähnlich wie auch der Ecuadorianer Jorge Carrera Andrade – ein Sänger der amerikanischen Erde ist, ein euphorischer Metaphoriker sensualistisch erlebter Tropen. Paz ist nur gelegentlich zur Identifikation mit dem sinnlichen Augenblick fähig – wie sehr er diese Identifikation auch ersehnt, wie lebhaft er sie zu seinem poetologischen und philosophischen Programm macht.
Die Haltung zur Poesie bleibt widerspruchsvoll. Wohl plädiert Paz für ein intuitives Reden in Bildern, doch er bedient sich der sinnenhaften Anschaulichkeit nur relativ selten und auch dann meist mit Vorsicht, unter Zuhilfenahme von Reflexionen und gern auch in atavistischer Manier:

Im Bruchteil einer Sekunde
empfand ich dasselbe wie der Azteke,
der lauernd
auf der Felsklippe des Vorgebirges
aus den Spalten des Horizonts
die Ungewisse Rückkehr der Zeit erwartet.

Gedankliches verbindet sich mit formalistischen Tendenzen, etwa mit dem Rückgriff auf das Muster japanischer Kettengedichte. Aber es gibt auch, aller Vernunft und allem rationalen Kalkül zum Trotz, einen Hang zu zahlenmagischem Zwangsdenken – besonders auffällig in dem berühmten Poem „Sonnenstein“, das, was schließlich kaum für einen intuitiv-organischen Entstehungsprozeß spricht, auf genau 584 Elfsilber angelegt ist: eine Verszeile für jeden Tag des aztekischen Kalenders.
Das Einzige, wozu der Autor ein dauerhaftes Vertrauen besitzt, ist die Sprache:

Gegen das Schweigen und das Getöse erfinde ich das WORT, Freiheit, die sich selbst erfindet und mich erfindet Tag für Tag.

Das Poesieverständnis von Paz ist mit den Jahren immer linguistischer geworden:

Es wurde mir klar, daß mein Text nirgendwo hinführt, außer zur Begegnung mit sich selbst.

Nachdem der Marxismus seine Faszination und die Geschichte ihren Sinn verloren hatte, fand geradezu zwangsläufig der Rückzug auf die Sprache statt – sie war so etwas wie der letzte positive Wert:

Zwischen dem Tun und Schauen,
Aktion oder Kontemplation,
wählte ich das Werk der Wörter:
sie herstellen, sie einfach bewohnen und so
der Sprache Augen geben.

Octavio Paz bewegt sich zwischen poetischen Visionen von atemberaubender Kühnheit („Eine Dirne schön wie eine Päpstin / Überquerte die Straße und verschwand in einer grünlichen Mauer / Die Wand schloß sich wieder“) und trockenen poetologischen Erklärungen. Doch das Gedankliche, das in seine Gedichte einfließt, ist verwandt mit der schöpferischen Neugier, die ihn in die Themenwelt seiner Essays eindringen läßt. Daß die Sprache bei ihm zum zentralen Wert wird, ist das psychologische Ergebnis einer negativen Religiosität, über die Fritz Vogelgsang sagt:

Mit Jean Pauls Angsttraum einer vaterlosen Welt hat Paz den Beginn der revolutionären Dichtung datiert, den ersten Aufstand poetischer Kritik an der kritischen Vernunft.

Wie für den deutschen Schriftsteller, der vom Weltgebäude herab den toten Christus verkünden läßt, daß es keinen Gott gäbe, stellt sich auch für Paz die (gott)vaterlose Welt der Moderne als eine Ungeheuerlichkeit dar, der etwas anderes entgegengesetzt werden muß – ein mütterliches Prinzip:

Mondjungfrau, Mutter alles mütterlichen
Wassers, Körper der Welt und Haus des Todes,
ich falle von Geburt an ohne Ende,
falle in mich selbst, ohne Grund zu finden…

Weil beim Kontakt mit dem mütterlichen Prinzip das Inzest-Tabu ins Spiel kommt, muß dieses Prinzip entkörperlicht, entsinnlicht werden. Und diese Sublimation, die von einer narzißtischen Komponente, dem Rückfall auf das Selbst, begleitet wird, geschieht durch eine libidinöse Inanspruchnahme der Sprache. Die Mutter Sprache, die Muttersprache ist ein (wenn natürlich auch höchst unzulänglicher) Ersatz für den verlorengegangenen tragenden Seinsgrund. Sie stellt gewissermaßen ein symbolisches Surrogat des Maternistischen dar. Von dieser gefühlsmässigen Position – einer Position tiefer innerer Unsicherheit und großer seelischer Erschütterungen – ist es nur noch ein einziger Schritt zur Überantwortung an die strukturalistische Theorie: „Der wahre Autor eines Gedichts ist weder der Dichter noch der Leser, sondern die Sprache.“
Die Poesie von Paz ist frühzeitig poetologisch mitbestimmt worden. Andererseits hat die Poetologie seit je den direkten Übergang zum denkerischen Werk gebildet, zu den Essays, die kontinuierlich entstehen und stets auf der Suche nach Poesiebegründung und Selbstfindung sind. Die Mythen, die Religionen, die Geschichte und die Geistesgeschichte – alles wird Octavio Paz ständig zum Gleichnis, zur sprechenden Versinnbildlichung, gemäß seiner ganz aufs Spirituelle gerichteten Überzeugung: „Es gibt keine Gärten außer denen, die wir in uns tragen.“
Hier kommt eine solipsistische Daseinsvorstellung zutage – die Welt erscheint bloß noch als Außenspiegelung der Innenwelt. Paz, weil er den flüchtgen sinnlichen Erscheinungen und der Geschichte gleichermaßen mißtraut, gelangt zwangsläufig dazu, triebhaft aufgeladene Bilder zu vermeiden und Reflexionen den Vorzug zu geben. Die Wirklichkeit tritt ihm immer weniger durch die Augen und imner häufiger durch den Geist entgegen. So wird auch seine Aversion gegen die magischen Realisten verständlich, gegen die episch-poetischen Sensualisten der lateinanerikanischen Literatur, zu denen zweifellos auch Juan Rulfo gerechnet werden muß, der das indianisch-ländliche Mexico verkörpernde große Erzähler aus einem armseligen Dorf des Staates Jalisco. Im Sinne der klassischen Definition von Samuel Ramos, nach der es in Mexico eine Universalkultur ohne Wurzeln und einen pittoresken Mexikanismus ohne Universalität gebe, gehört Rulfo zu den unverbesserlichen Regionalisten, während Paz einer der wurzellosen Universalisten ist.
Octavio Paz, wann immer er über Mexico spricht, tut dies als Kosmopolit. Wo Rulfo oder auch der Lyriker Pellicer nach der Art der Costumbristen, der Brauchtumsschriftsteller, Farben auftragen und Einzelheiten beisteuern, nimmt er nur Ideen wahr – ein archetypisierender Platoniker aus dem Land von Tenochtitlân und Popocatépetl. Eingespannt in das Joch der Geschichte, träumt er von Mythos und Geschichtslosigkeit. Doch läßt gerade sein oppositioneller Vorsatz bloß sehr bedingt alternative Lösungen des Gefühls und der Intuition zu. Wo Rulfo mit allen Konsequenzen der Selbstbeschränkung ins Milieu seiner Heimatprovinz eintaucht oder wo Pellicer metaphorisch aquarelliert, überantwortet der problemverfallene Verfasser von „Freiheit unter dem Wort“ und „Der grammatikbefähigte Affe“ sich ganz der Kritik. Doch so bleibt er – und zwar auch in methodischer Hinsicht – im Banne jener Industriekultur, vor der er in die Vergangenheit, in den Mythos und in andere Kulturbereiche zu fliehen versucht. Wie sein Freund, der Romancier Carlos Fuentes, argumentiert und agiert auch Paz von der Position des großstädtischen Intellektuellen aus, der alles, wonach er sich sehnt, durch Anstrengungen der Ratio herbeischaffen möchte. Den Marxismus und Lévi-Strauss im Kopf, träumt der Dichter von aztekischen Gottheiten. Oder aber er ruft den Fernen Osten zu Hilfe, damit der horror vacui wenigstens für die Dauer einer poetisch-poetologischen Exerzitienstunde überwunden werden kann:

Shiva und Parvati:
Wir beten sie an
Nicht als Götter,
Sondern als Bilder
Der Göttlichkeit der Menschen,
Ihr seid, was der Mensch erschafft und nicht ist…

Der Autor lehnt sich gern an Personen, Ideen, Archetypen an. Als er in „Das Labyrinth der Einsamkeit“ die mestizische Seele des Mexikaners zu ergründen versuchte, war das geistige Palimpsest, das durchgepauste Muster, das „Juan-de-Mairena“-Buch von Antonio Machado. Hingegen stammt sein Kosmopolitismus, der in so auffälligem Gegensatz zu seinem anfänglichen Ringen um mexicanidad steht, von Rubén Darío und Vicente Huidobro, zwei lateinamerikanischen Poeten, deren Kulturideal die internationale Moderne war. Rein methodisch ist der Lyriker Paz anfangs den Surrealisten gefolgt, die ihn zudem auch noch poetologisch anregten – so wie das später die französischen Strukturalisten taten. Seelisch aber hat der Dichter sich zunehmend durch den Fernen Osten prägen lassen, vor allem durch Indien, wo er eine der aztekischen Zeitvorstellung verwandte Anschauung über die zyklische Beschaffenheit des Weltablaufs fand. Eine formale Anregung ging aus von der Gattung des japanischen Dreizeilers, die sich schon in den frühen Folgen „Einzelne Sterne“ und „In Uxmal“ zeigte. Aber was alles Paz unternahm, um sich in fremde Welten einzustimmen – seine Adaptionsbemühungen sind stets weniger von gefühlsmässiger als von intellektueller Natur. Das Empfinden bleibt eine nicht selten ausgesparte Zone. Paz hält es vor allem mit Formen, Systemen, Strukturen, kulturmorphologischen Parametern, und das trotz seiner Befürchtung, die Lebensvorgänge könnten durch Wiederholung und durch Mangel an Nuancen zu etwas Maskenhaftem erstarren.
Es ist bezeichnend, daß dieser Schriftsteller nicht auf den Gedanken gekommen ist, eine neue Naturpoesie, wohl aber eine neue Naturphilosophie zu begründen. Octavio Paz sucht nicht das Gespräch mit Pflanzen, Flüssen, Wettererscheinungen, sondern mit dem, was er hinter den sensuellen Phänomenen an spiritueller Substanz vermutet. Er möchte zu den Ursprüngen zurückkehren – freilich nicht zu denen des Fühlens, sondern zu denen des Denkens. Paz würde gern als poetischer Magier Anfang und Ende versöhnen, Demokrit und Heisenberg, Mythos und Sozialwissenschaften, Pythagoras und Marcel Duchamp. Doch sein Verlangen, erneut zu einer Morgenstunde des Philosophierens aufzubrechen, mündet in eine endzeitliche Begrifflichkeit, der es geradezu zwangsläufig an spontanen Bildern fehlen muß.
Octavio Paz ist ein mexikanischer Eklektiker mit einer verfeinerten und sehr spezifischen Geschmackskultur. Aus der altbekannten Furcht des Mestizen vor der „Verniemandung“ flüchtet er sich in identitätssuchende Abenteuer, die aber die Expeditionen eines einzelnen sind und durchweg die Aura des Kosmopolitischen haben. Um sich weder auf seine ,Rolle‘ als Mexikaner festlegen zu lassen, noch um einen bestimmten dauerhaften Standpunkt einnehmen zu müssen, verabschiedet er sogar den klassischen Ich-Begriff:

Die Absage an die persönliche Identität bedeutet nicht den Verlust des Seins, sondern gerade seine Wiedergewinnung.

Paz macht sein Denken zu einem unaufhörlichen Experiment, wobei er Ideen kombiniert und collagiert. Hierbei erlangt das Ich keine Kontur und der Augenblick keine sinnliche Konsistenz. Alles erscheint lediglich in modellhafter Abstraktionsform – sozusagen als Muster konkreter Seinszustände. Luft, Licht, Wasser, Eros werden in poetischen Urworten beschworen. Es herrschen die Bedingungen des Archaischen, doch über diese Welt des Urtümlichen und Urtümelnden gießt ein moderner wissenschaftserprobter Verstand Definitionen von heilloser Nüchternheit aus.
Das Interesse, das Paz am Buddhismus und dessen nihilistischem Wesensgehalt hat, ist gewiß kein typisch mexikanisches Interesse. Aber andererseits gibt es Übereinstimmungen zwischen dem zyklischen Zeitdenken der Inder und dem der Azteken. Seit Paz durch seine Tätigkeit als Diplomat mit den Kulturen Japans und Indiens in enge Berührung gekommen ist, vermag er die maskenversessene Ich-Schwäche seiner Landsleute außerdem in eine gewisse Beziehung zu den Selbstverleugnungstendenzen des asiatischen Menschen zu setzen:

Der Inder negiert den Lauf und den Verlauf; alle seine Praktiken und Meditationen zielen darauf ab, den Ablauf und seinen Rücklauf aufzuheben: das Rad der Wanderungen anzuhalten.

Es ist die negative Komponente des Buddhismus, die den Mexikaner Paz anzieht und ihn Überlegungen wie diese anstellen läßt:

Der Grieche sagt: alles fließt; der Hindu: alles ist impermanent. Im Westen ist es schwer, das Nichts zu denken… In Indien ist es schwer, das Sein zu denken… Für Platon ist das Wesen die Idee: eine Gestalt, ein Archetyp. Die Griechen erdachten die Geometrie; die Hindu die Null.

Zwar rechnet sich Paz in seiner Betrachtung über „Person und Prinzip in Indien“ durchaus dem Westen zu. Doch innerlich bleibt er, der Mestize, dabei schwankend und distanziert, eben weil er unter seinen Vorfahren nicht nur Spanier, sondern auch Indios hat; der Indio aber hängt nun einmal mit Asien zusammen: geographisch (wegen der Einwanderung über die Beringstraße), rassisch (der mongoloiden Merkmale wegen) und natürlich auch kulturell, spirituell (wegen der zyklischen Zeitvorstellung, dem gemeinsamen frühen Vertrautsein mit der Null und der geringen Bewertung personaler Identität).
Paz macht die Position des Übersee-Okzidentalen zum Ausgangspunkt seiner unkonventionellen Gedankenausflüge in die Bereiche von Geschichte, Mythos, Eros, Kunst, Vergangenheit, Gegenwart. Nachdrücklich hält er fest, daß es den hispanischen Völkern, im Unterschied zu den anderen Abendländern, nicht gelungen ist, ein Aufklärungszeitalter zu durchleben. Und, weit davon entfernt, die aztekische Zeit als die einzige bedeutsame Epoche früher mexikanischer Geschichte zu begreifen, läßt er auch die Jahrhunderte des Vizekönigreichs Neu-Spanien gelten, jene Phase, in der noch nicht der Mestize, der Mischling aus Weiß und Rot, sondern der Kreole, der in Amerika geborene Weiße, die staatstragende Figur war. „Wir Mestizen“, resümiert Paz, „haben vieles zerstört, was die Kreolen geschaffen haben, so daß wir heute von Ruinen umgeben und unsere Wurzeln abgeschnitten sind.“
Für Paz ergibt sich aus der Nähe zu den USA eine gute Vergleichsmöglichkeit. Durch einen selbstkritischen Blick in den „indiskreten Spiegel“ der Nachbarnation werden ihm die radikalen Unterschiede zwischen Nord- und Lateinamerika deutlich:

Das angelsächsische Amerika ist der Sproß jener Tradition, die der modernen Welt zugrunde liegt: die Reformation mit ihren sozialen und politischen Folgen, nämlich: Demokratie und Kapitalismus. Unser Amerika dagegen, das spanisch- und portugiesischsprechende, ist der Sproß der katholischen Universalmonarchie und der Gegenreformation.

Paz bedauert, daß das heutige Mexico den neu-spanischen Abschnitt seiner Geschichte völlig verleugnet. Hier werde die Chance vertan, Überlieferungen zu pflegen und die noch brauchbaren Teile eines großen Erbes anzutreten. Andererseits habe die Unabhängigkeitserklärung, so notwendig sie auch gewesen sei, die Mexikaner nur von Madrid befreit, nicht aber von der Fremdherrschaft. Denn das Vakuum, das Spanien hinterlassen habe, ist augenblicks durch die Vereinigten Staaten ausgefüllt worden:

Der Titan war gleichzeitig der Feind unserer Identitätssuche und das uneingestandene Vorbild aller unserer Bestrebungen.

So seien nach dem Sieg der republikanischen Mestizen über die monarchistischen Kreolen zwar die alten Werte nichtig geworden, doch die alten Wirklichkeiten, die sozialen Mißstände, bestünden weiter, überlagert lediglich durch die technische Entwicklung:

Wir hatten Eisenbahnen, aber auch Großgrundbesitz, eine demokratische Verfassung, aber auch einen Caudillo aus bester hispano-arabischer Tradition, positivistische Philosophen, aber auch präcolumbianische Kaziken, eine symbolische Dichtung, aber auch den Analphabetismus.

Erst mit der mexikanischen Revolution von 1910 habe das Land wieder an sein bestes Erbe anzuknüpfen versucht. Doch die Rückkehr zu den Ursprüngen einer vorkapitalistischen Agrargesellschaft unter dem Banner der Jungfrau von Guadalupe habe sich als Scheinsieg erwiesen. Nicht die autonome Dorfgemeinschaft mit kommunalem Landbesitz und der Großfamilie als wirtschaftlicher und religiöser Zelle habe sich am Ende durchgesetzt, sondern die frustrierende Industriezivilisation nach dem Muster des Giganten im Norden. Seither werde Mexico von einer politischen Bürokratie reglementiert, die man gleichermaßen in Bezug zu den kommunistischen Bürokratien Osteuropas und zur kapitalistischen Herrscherklasse der USA sehen müsse.
Octavio Paz ist ein entschiedener Gegner des weithin glorifizierten Fortschritts, den er selbstmörderisch nennt und dessen Voranstürmen er auch den Linken vorwirft, die für ihn Opfer ihrer eigenen Ideologie sind, weswegen sie in Menschenrechtsfragen nicht weniger befangen vorgehen als in der Beurteilung der Industriegesellschaft:, die unweigerlich den bürokratischen Staat im Gefolge habe:

Die Technik rühmen und die Industrie für das größte Agens der Befreiung der Menschen halten, ein Glaube, der den Kapitalisten und den Kommunisten gemein ist, war 1850 logisch, 1900 legitim, 1920 erklärlich, aber 1975 ist er skandalös. Heute werden wir gewahr, daß das Übel nicht allein in der Eigentumsregelung an den Produktionsmitteln liegt, sondern in der Art und Weise der Produktion selbst. Unmöglich natürlich, auf die Industrie zu verzichten; nicht jedoch unmöglich, aufzuhören, sie zu vergöttern und zu versuchen, ihren Verheerungen Schranken zu setzen.

Bei Paz verbindet sich die Kritik am technischen Fortschritt mit einem Wunsch zur Selbsterforschung, der sich seine Bezugspunkte aus vielen Zeiten und Kulturen holt. Im wissenschaftlichen Ansatz verbürgt sich aber ein magisches Moment, und die Vernunft kehrt um zu gefühlsmässigen Entwürfen, denen zufolge der Mensch ein „Baum der Bilder“ ist. Weil jedoch „die Zeit vor der Zeit… die Zeit ohne Daten“ eine utopische Verheißung bleibt, gelangt der Poet stets rasch wieder über die Poetologie zur Philosophie und zur Geschichte. Die okzidentale Urteilskraft hinterfragt die Erscheinungen, aber die Resultate schaffen nur Unbehagen; und der aller aufklärerischen Methoden müde gewordene Verstand nimmt Zuflucht bei den Angeboten fernöstlicher Weisheit. Die Last des Denkens, die auch physisch als Last der Person empfunden wird, führt zu einer Verklärung transzendentaler Leere, namenloser Abstraktion. So gleicht das Werk von Octavio Paz zunehmend einem Amalgam, in dem sich geträumte Wahrheit und vorgestellte Schönheit zu einem Stoff verdichten, der nicht viel anderes mehr ist als Sprache, als körperloser Widerschein spirituell entsinnlichter Dinge.

Hans-Jürgen Heise, Neue Rundschau, Heft 4, 1979

 

Dritter Kreis – Die neue stürmische Jahreszeit 1959–1990

1. Neue alte Welten: Indisches Intermezzo

1958 erschien die Sammlung La estación violenta (Die stürmische Jahreszeit). Der Dichter wollte mit diesem Titel auf das Ende seiner Jugend anspielen. Zudem verspürte er aber auch das Bedürfnis, eine ganze Periode für abgeschlossen zu erklären und eine neue zu beginnen. Und tatsächlich fängt dieser fünfundvierzigjährige Mann 1959 ein neues Leben an. Das folgende Jahrzehnt verbringt er in Frankreich und Indien, die ersten drei Jahre in Paris, die restliche Zeit in Neu Delhi.
Die Gedichte, die er zwischen 1958 und 1961 schrieb, wurden im darauffolgenden Jahr in dem Band Salamandra (Salamander) veröffentlicht, und sie sind ein neuerlicher, eindringlicher Beweis für eine lebendige, sich stetig weiterentwickelnde Dichtkunst: die sich schafft und wiedererschafft in der kritischen Reflexion ihrer selbst. Im gleichen Band erscheinen kurze Gedichte über intensive erotische Erlebnisse, Bilder, die den Tonfall der japanischen Lyrik nachempfinden. Auch der Surrealismus treibt Blüten, so in dem folgenden Gedicht, das in Paris spielt und unwillkürlich an Magritte erinnert:

Er ging durch die Menge
Auf dem Boulevard Sébasto
Und träumte vor sich hin.
Das Rot bremste ihn.
Er schaute nach oben:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaÜber
Grauen Dächtern, silbrig
Zwischen braunen Vögeln,
Flog ein Fisch.
Die Ampel sprang auf Grün.
Als er die Straße überquerte, fragte er sich,
Woran er gerade dachte.

In einem anderen Gedicht, das ebenfalls in Paris spielt und von einem Treffen mit André Breton und Benjamin Péret inspiriert ist, wird das Unsichtbare gegenwärtig, die Stadt wird Frau, Gegenwart:

Um zehn Uhr abends im Englischen Café
Außer uns dreien
aaaaaaaaaaaaaaaWar niemand da
Draußen hörte man den feuchten Schritt des Herbstes
Schritte eines blinden Riesen
Schritte eines Waldes der in die Stadt kommt

(…)
Alles ist Türe
Es genügt der leichte Druck eines Gedankens
Und sperrangelweit tut sich das Leben auf
Etwas ist im Anzug
aaaaaaaaaaaaaaaaSagte einer von uns

(…)
Stadt oder Frau Gegenwart
Fächer der du das Leben zeigst und verbirgst
Schön wie der Aufruhr der Armen
Deine Stirn phantasiert im Fieber aber in deinen Augen trinke ich Klugheit
Deine Achselhöhlen sind Nacht aber deine Brüste Tag
Deine Worte sind aus Stein aber deine Zunge ist Regen
Dein Rücken ist der Mittag des Meeres
Dein Lachen die Sonne die in die Vororte dringt
Dein Haar wenn es sich löst das Sturmgewitter auf den Terrassen der Frühe
Dein Leib das Atmen des Meeres der Herzschlag des Tages
Du nennst dich Sturzbach und nennst dich Wiese
Du nennst dich Hochflut
Du hast alle Namen des Wassers
Doch dein Geschlecht ist unnennbar
(…)

Als er in das wohlvertraute Paris zurückkehrt, nimmt er die Veränderungen wahr, die in diesen ausgehenden fünfziger und beginnenden sechziger Jahren in der Kultur stattfinden. Bereits in Mexiko hatte er immer wieder über die Anzeichen einer neuen, in den fünfziger Jahren entstehenden Avantgarde geschrieben. Die sechziger Jahre beginnen, und vieles von dem, was ihn zu dieser Zeit umtreibt, schlägt sich in seinen Artikeln und kurzen Essays nieder, die er 1966 unter dem Titel Puertas al campo (Türen ins Freie) zusammenstellt; vor allem aber in Corriente alterna (Wechselstrom, 1967), unter seinen bisherigen Büchern vielleicht am stärksten seiner Entstehungszeit verhaftet. Es umfaßt, in drei Teile gegliedert, Texte, die zwischen 1959 und 1965 in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Im ersten Teil geht es um Kunst und Literatur. Dort zeigt sich eine Vorahnung des Künstlers der Sechziger:

Eine andere Zeit bricht an: eine andere Kunst.

Im zweiten Abschnitt herrschen Themen vor, die heute als Kennzeichen jener Zeit angesehen werden können: die „künstlichen Paradiese“ der Drogen und der Literatur, Emanzipationsbewegungen, Atheismus und Sekten im Westen, Buddhismus im Osten. Der dritte Teil befaßt sich mit Politik: Der Unterschied zwischen Revolution, Revolte und Rebellion wird den Dichter noch viele Jahre beschäftigen.
Paz ist oftmals einer der ersten Denker unserer Sprache, der die bestimmenden Themen der Kultur der sechziger Jahre in seinen Artikeln anspricht. Alle Essay-Bände, die er in diesem Jahrzehnt zusammenstellte, bezeugen seine damaligen Leidenschaften und Obsessionen. In Paris entsteht ein kulturelles Umfeld, das von der Vorstellung beherrscht wird, alles sei Sprache: ein Zeichencode. Und hinter allem verberge sich eine Struktur, die es zu ergründen gelte: „Strukturalismus“ wird dieser Theorierausch später genannt. Durch den Sprachgebrauch der literarischen Studien zieht sich der Begriff „Zeichen“ in allen Variationen, und unter diesem Blickwinkel der Welt als Sprache betitelt Octavio Paz seine Bücher: Die rotierenden Zeichen (Los signos en rotación, 1965); Verbindungen – Trennungen (Conjunciones y disyunciones, 1969) über die Bezugspaare Ähnlichkeit/Gegensatz und Einheit/Trennung zweier Zeichen: des Körpers und Nicht-Körpers; später dann El signo y el garabato (Zeichen und Gekritzel, 1973) mit Texten aus den Jahren 1967 bis 1972; Teatro de signos / Transparencias (Zeichentheater / Transparenzen, 1974), eine von Julián Rios angefertigte Textmontage, und Der sprachgelehrte Affe (El mono gramático, 1974), ein philosophisch-poetischer Prosatext, der seinen östlichen Zyklus beschließt. Außerdem beendete er Mitte des Jahrzehnts ein Buch über einen der Väter des französischen Strukturalismus: Claude Lévi-Strauss o el nuevo festín de Esopo (Claude Lévi-Strauss oder Äsops neues Festmahl), in dem der Mensch definiert wird als ein Sender von Zeichen, ein Zeichen unter Zeichen.
Ironischerweise war seine Lesart des Strukturalismus die eines homme de lettres, und vielleicht blieb er deswegen vergleichsweise am Rande der großen strukturalistischen Mode, deren Verbreitung und Glück eher in den Händen von Technikern dieses Fachs lag. Die sogenannten „Sprachwissenschaften“ verwandelten sich in eine Technik zur Deutung der Welt.
Auch in Indien, wo er 1962 zum Botschafter ernannt wurde, schrieb er zahlreiche Essays. Darin ging es ihm meistens darum zu untersuchen, wie sich die Kunst in ihre Zeit einfügt – fast immer gegen den Strom oder, wie der Titel eines Buches besagt, im Wechselstrom. Die Bewegung, zu der sich Paz zählt, ist – und das wird ihm selbst immer deutlicher – eine Bewegung des Bruchs. Und so sind auch die vier Dichter, über die er in diesem Jahrzehnt ausführliche Essays schreibt – Rubén Darío, Ramón López Velarde, Fernando Pessoa und Luis Cernuda – Schriftsteller, die ihrer unmittelbaren Tradition entgegenstanden und zugleich Schöpfer einer neuen Tradition waren, der auch Paz angehört: der Tradition des Bruchs. „Das ist die Tradition unserer modernen Dichtung (…) eine Bewegung, die Ende des vergangenen Jahrhunderts von den ersten hispanoamerikanischen Modernisten eingeläutet wurde und heute noch nicht abgeschlossen ist“, sagt er dazu im Vorwort zu seinem Band Cuadrivio (Quadrivium, 1965), der diese Essays versammelt. Einer davon, er erkundet die dichterische Welt des Fernando Pessoa, ist ursprünglich datiert mit Paris 1961, die anderen drei mit Neu Delhi, 1964.
1963, nach dem Erscheinen von Salamandra, verlieh die Brüsseler Maison Internationale de la Poesie Octavio Paz den Grand Prix International. Es war die erste von zahlreichen internationalen Auszeichnungen, die er von nun an erhalten sollte.
Im selben Jahr lernt er Marie José Tramini kennen, und die beiden heiraten.

Abgesehen von meiner Geburt ist es das Wichtigste, was mir passiert ist. (…) Wir haben unter einem großen Baum geheiratet, einem dichtbelaubten Nim. Er war voller Eichhörnchen, und hoch oben, auf den höchsten Ästen, ließen sich manchmal junge Adler nieder, auch viele Raben. (…) An den Winternachmittagen war jener Garten von einem harmonischen Licht erfüllt, jenseits von Zeit. Ein unparteiisches Licht, möchte ich fast sagen, ein reflexives. Ich weiß noch, wie ich zu Marie-Jo sagte: „Es wird schwer sein, zu vergessen, was uns dieser Garten gelehrt hat.“ Lektionen über die Freundschaft, die Brüderlichkeit zu Tieren und Pflanzen. Wir alle sind Teil eines Gleichen. (…) Für die Inder ist die Natur noch heute eine Mutter, die gütig sein kann oder schrecklich. Außerdem gibt es keine klaren Grenzen zwischen der Welt der Tiere und der Welt der Menschen. (…) Indien hat uns, Marie-Jo und mich, die Existenz einer Zivilisation gelehrt, die anders ist als die unsrige. Und wir haben nicht nur gelernt, sie zu respektieren, sondern sie zu lieben.

Sein Interesse für die indischen Kulturen äußert sich in zahlreichen Essays, im allgemeinen als Kontrapunkt zur westlichen Kultur, so in Verbindungen – Trennungen (1968) und in Nackte Erscheinung. Das Werk von Marcel Duchamp (Apariencia desnuda: la obra de Marcel Duchamp, 1973).
Die tiefsten Spuren hinterlassen sein Indien-Erlebnis und die Erfahrung der Liebe jedoch in der Dichtung. Die Gedichte aus Ladera Este (Östlicher Abhang), geschrieben zwischen 1962 und 1968, deuten einen Wandel in der Pazschen Poetik an, die sich immer schon als eine Erotik verstanden hat. Während in den vorangegangenen Epochen seine Poesie insofern Erotik ist, als Poesie Begegnung mit dem Anderen bedeutet, so zeigt sich nach Indien eine neue Weisheit – deutlich ausgesprochen in Der sprachgelehrte Affe –, die dem Dichter, der sich auf einem Weg zu einem bestimmten Ort befindet, die plötzliche Erkenntnis eröffnet, daß der Weg das Ziel ist. Auf dieses Thema angesprochen, bestätigt Octavio Paz:

In Indien treffe ich plötzlich, aufgrund persönlicher Erfahrungen, auf eine Art von Netz aus Gefühlen, Ideen und Erfahrungen. Die Erotik zum Beispiel trennt mich nicht vom Heiligen, bringt mich ihm aber auch nicht näher. Eine für den westlichen Menschen schwer nachvollziehbare Erfahrung. Erotik ist in Phantasie verwandelte Sexualität. Liebe ist diese erotische Phantasie, verwandelt in die Erwählung einer Person. Genau das ist es, was ich in Indien entdeckt habe und was wahrscheinlich meine Dichtung verändert hat. Auf der einen Seite füllte es meine Wörter mit mehr Wirklichkeit, gab ihnen eine größere Dichte. Sie wurden praller. Auf der anderen Seite wurden sie luzider. In gewisser Weise war es ein Wiedererlangen der Wirklichkeit dieser Welt durch die geliebte Person. Und noch etwas ganz Wesentliches: Es führt zur Erkenntnis, daß die Welt zwar real, aber nicht stabil ist. Sie ist unaufhörlich in Veränderung begriffen. Der Baum dort, den ich gerade anschaue, ist nicht immer der gleiche Baum. Er ist immer kurz davor, umzufallen, sich aufzulösen und in einem anderen Baum wiedergeboren zu werden, der mit dem von vor einer Sekunde identisch ist, aber er ist nicht der gleiche. Dasselbe geschieht auch mit mir und mit den Menschen um mich herum. So wurde das Universum für mich plötzlich nicht nur zu Gegenwart, sondern auch zu einer Frage. Und das wollte ich mit meinen Gedichten sagen. Ich weiß nicht, ob ich es gesagt habe, aber genau das wollte ich sagen.

In seinem Gedicht „Glück in Herat“ („Felicidad en Herat“), bezeichnenderweise Carlos Pellicer gewidmet, in dessen Dichtung das Christliche und die überbordende Natur zwei wesentliche Momente sind, heißt es zu Beginn und am Schluß:

Ich kam hierher,
Wie ich diese Zeilen schreibe
– Ohne bestimmte Idee:
Eine Moschee, blau und grün,
Sechs verstümmelte Minarette,
Zwei oder drei Gräber,
Erinnerungen an einen heiligen Dichter,
Die Namen Timurs und seines Geschlechts.
(…)
Ich sah einen blauen Himmel und alle Blautöne,
Vom Weiß bis zum Grün
Den ganzen Fächer der Pappeln,
Und über der Pinie, mehr Luft als Vogel,
Die schwarzweiße Amsel.
Ich sah die Welt in sich selber ruhn.
Ich sah die Erscheinungen.
Und ich nannte diese halbe Stunde:
Vollkommenheit des Endlichen.

1967 erscheint, der experimentellen Form entsprechend in einer Sonderausstattung, das Gedicht „Weiß“ („Blanco“). Eine einzige Seite entfaltet sich mit dem Fortschreiten der Lektüre und stellt so gewissermaßen den Text her: der Raum selbst wird Text. Die Idee ist, daß das Lesen zu einem Ritual wird, zu einer Reise mit verschiedenen Verlaufsmöglichkeiten. Drei parallele Kolumnen mit verschiedenen Schrifttypen bieten mindestens sechs Kombinationen oder mögliche Leseweisen. In den Discos visuales (Visuelle Scheiben), die er 1969 zusammen mit dem Maler Vicente Rojo herausbringt, erreichen Paz’ Experimente mit dem Raum und seine Kombinationskunst einen Höhepunkt. Ein Jahr zuvor war er mit den Topoemas, seinen „Raumgedichten“, den Weg weitergegangen, den Apollinaire mit seinen Kalligrammen und Tablada mit seiner konkreten Poesie vorgezeichnet hatten.
Bei den meisten Gedichten, die in Ladera Este (1969) zusammengefaßt sind – auch „Weiß“ wird, in der linearen Version, aufgenommen –, gelangen die poetischen Verfahren zu einer ungeheuren Ruhe, als wirke der Strudel der Neuerungen jetzt mehr im Inneren und in der Tiefe als von außen und würde so in Stille alles wandeln. Andere, kurze Gedichte sind voller Humor und Ironie. Dann folgt die einzigartige Erfahrung mit Der sprachgelehrte Affe, zwar erst 1972 auf französisch und 1974 auf spanisch erschienen, geschrieben jedoch bereits 1970 – und erlebt während der sechs Jahre in Indien. Das Buch ist nicht nur in einer wunderschönen, eindringlichen Prosa geschrieben, es ist auch erneut eine Synthese all dessen, was Paz im Laufe vieler Jahre versucht hatte. Hier ist Schreiben ganz einfach Gehen. Und so geht man den Weg nach Galta, der sich verliert, so wie unsere Schritte weitergehen, uns nach und nach uns selbst überlassen: wehrlos uns selbst ausgeliefert. Mehrmals finden wir den Weg, um uns wieder zu verirren. Sind wir der Weg, oder all das, was uns ablenkt? Der Text schreitet fort wie eine Spirale. Die Dichtung ist schließlich die Konvergenz aller Punkte, ist ein Akt, der seinerseits ein Körper ist. Das Gedicht schreibt sich beim Lesen: beide Aktionen fallen zusammen, versöhnen sich miteinander, befreien sich gegenseitig.
Mit dem Datum Delhi, September 1966, erscheint im selben Jahr sein Vorwort zu der Anthologie moderner mexikanischer Lyrik, die als solche heute bereits ein Klassiker ist: Poesía en movimiento. México 1915–1966, ein Meilenstein in seiner Vita, da seine Rolle als Künstler und Zeitzeuge nicht weniger bedeutend gewesen ist als die des Förderers der Dichtung. Vielen jungen Dichtern wurden seine Lektüre, seine Meinung und seine Unterstützung zuteil. Octavio Paz gab diesen Band gemeinsam mit drei weiteren mexikanischen Dichtern heraus. Alí Chumacero, Homero Aridjis und José Emilio Pacheco, und sie machten es sich in ihm zur Aufgabe, „die Augenblicke zu bergen, in denen die Dichtung nicht allein künstlerischer Ausdruck ist, sondern Suche und Veränderung statt bloßer Übernahme des Erbes.“
Im darauffolgenden Jahr (1967) wird Octavio Paz als Mitglied in das Colegio Nacional, die höchste Institution der Geisteswissenschaften in Mexiko, aufgenommen. Seine „Antrittsvorlesung“ ist ein Essay über Claude Lévi-Strauss. Sein Einfluß auf die Kultur seines Landes nimmt immer weiter zu, auch wenn er persönlich in weiter Ferne weilt. Seine Zeit in Indien ist ohne Zweifel eine der produktivsten und glücklichsten. Doch sie bleibt ein Intermezzo, das im Oktober 1968 zu Ende geht. Wegen des Blutbads unter den demonstrierenden Studenten auf der Plaza de las Tres Culturas in Tlatelolco (Mexiko-Stadt) tritt er von seinem Posten als diplomatischer Vertreter seiner Regierung zurück. Eine Etappe seines Lebens geht zu Ende, und eine neue, die von größerem Aufsehen in der Öffentlichkeit geprägt ist, beginnt. Paz verläßt den „östlichen Abhang“ seines Lebensweges.

Alberto Ruy Sánchez, aus Alberto Ray Sánchez: Octavio Paz. Leben und Werk, Suhrkamp Verlag, 1991

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Octavio Paz

Der Magistrat der Stadt Frankfurt a.M. und der Suhrkamp Verlag ehren den Dichter Octavio Paz am 27.9.1992 im Kaisersaal des Römers.
Lesungen und Reden: Octavio Paz, Ulla Berkéwicz, Elisabeth Borchers, Eva Demski, Friederike Roth, Ralf Rothmann, Andreas von Schoeler, Siegfried Unseld, Rudolf Wittkopf

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Bernhard Widder: Belesenheit und Fantasie
Wiener Zeitung, 28.3.2014

Peter Mohr: Romantiker in diplomatischen Diensten
titel-kulturmagazin.net, 31.3.2014

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorNobelpreis + KLfGIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK

 

Octavio Paz – Porträt, Gespräch und Lesung Teil 1/2.

 

Octavio Paz – Porträt, Gespräch und Lesung Teil 2/2.

 

Octavio Paz – Filmporträt nach seinem Tod.

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