Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten

Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten

DES ARMEN ARMUT

Und soll Gott getrost den Kiel eintauchen
und des Himmels ganzes Blau verbrauchen:
das schreibt er nicht auf, nicht er persönlich,
was der Arme leiden muß gewöhnlich.

Denn des Armen Armut hat kein Ende.
Heißer macht sein Durst des Sommers Brände,
und sein Frieren macht den Winter kälter
und sein Mißmut herbstlicher die Felder.

Wie ein Büffel, eingeschirrt im Joche,
schleppt er sich durch die verdreckte Woche.
Kaum zwei Atemzüge währt der Sonntag.
Bangen Herzens tritt er in den Montag.

Dabei tief in ihm, da wohnen Tauben,
wohnen weiße, sternenleichte Tauben,
und die Tauben werden einst zu Greifen,
die das Rabenpack zu Tode schleifen.

Attila József
Nachdichter: Peter Hacks

 

 

 

Nachwort

Über die Anfänge der ungarischen Dichtung lassen sich nur Vermutungen anstellen. Erst aus später entstandenen Aufzeichnungen, aus dem 12. Jahrhundert, erfahren wir von einer Dienstmagd, die ein „Arbeitslied“ singt, während sie den Mühlstein dreht. Die „Beweinung“ der Toten, der in unregelmäßigem Rhythmus aufsteigende Gesang der „Klageweiber“ an der Totenbahre, ist ein Volksbrauch, der sich bis heute erhalten hat. Der Schamanengesang war – noch vor der Annahme des Christentums vor tausend und mehr Jahren – die „Dichtung“ der Priester und Zauberer. Bestimmte Wendungen und Worte hat das Volk bis auf den heutigen Tag bewahrt; schriftlich festgehalten finden wir diese Texte erst im 15. und 16. Jahrhundert. Die epische Kunstform der ältesten Dichtung war das Heldenlied, doch ist auch das nur aus späteren Quellen bekannt. In mittelalterlichen, lateinisch geschriebenen Chroniken sind Sagen erhalten geblieben, die vom Ursprung des Volkes erzählen, so die Sage von der „Hirschkuh“, dem heiligen Totemtier, dem göttlichen Vorfahren des Volkes. Die Historien aus der Zeit der Landnahme und die Taten ungarischer Heerführer, die die Chronisten nach vorliegenden Heldenliedern aufzeichneten, inspirierten viele Dichter, besonders im Zeitalter der Romantik. Diese Sagen mit ihren Gestalten und Ereignissen gehören zum uralten Gedankengut der ungarischen Dichtung. Ihre schöpferischen Elemente tauchen noch in den Gedichten Endre Adys, Attila Józsefs und mitunter sogar in der Gegenwartslyrik auf. Die ältesten Kunstgattungen waren also: Arbeitslied, Totenklage, Schamanengesang und Heldenlied; sie eröffnen das Jahrtausend ungarischer Dichtung, von dem unser Band fünf Jahrhunderte vorstellt. Diese fünf Jahrhunderte – von der Renaissance bis in unsere Tage – sind das Zeitalter der schriftlich fixierten der „gelehrten“ weltlichen Dichtung.
Auf die Form der in Vergessenheit geratenen mündlichen Dichtung kann man bestimmte Rückschlüsse ziehen. Mit den Verszeilen entstand auch die Melodie nach der sie gesungen wurden. Die Melodie hielt die Verse zusammen, sie paßten sich ihr im Rhythmus an. Die Lange der Zeilen – das heißt die Zahl der Silben – war nicht streng bemessen. Fest steht nur, daß jeder Takt (jede Einheit innerhalb einer Verszeile) mit dem Wortanfang zusammenfiel, da die Betonung im Ungarischen stets auf der ersten Silbe liegt. So konnte ein Takt dem anderen nur folgen, wenn ein neues Wort folgte. Im Takt selbst variierte die Silbenzahl. Vermutlich schwankte sie zwischen zwei und vier, doch wie viele es auch gewesen sein mögen, jeder Takt bildete einen gleich langen Teil der ganzen Zeile. Kamen weniger Silben auf einen Takt, so wurde das durch die Verlängerung der Konsonanten ausgeglichen oder man machte einfach eine Pause zwischen zwei Takten. Die Verse waren nicht nur von Melodien, sondern auch von Tanz und Verneigungen begleitet, oder man sang sie während der Arbeit. Ihr Rhythmus wurde also – unabhängig von der Silbenzahl – durch die Bewegung geregelt. Als anschauliches Beispiel soll die uralte Taktform eines Hirtentanzes angeführt werden:

oooo / oo – / oooo / – –
oooo / oooo / oooo / – –

Diese und andere Formen des Ur-Rhythmus, des „nationalen Versbaus“, pulsieren auch heute noch in der ungarischen Dichtung, denn er ergibt sich aus der Natur der Sprache. Er schlägt auch ständig in solchen Versformen durch, die sowohl in der ungarischen Lyrik wie auch in der Dichtung aller anderen europäischen Nationen aus den griechisch-römischen und anderen Traditionen übernommen wurden und Wurzeln schlugen. Als Mittler dieser Traditionen fungierte erstmals die neulateinische Dichtung des Mittelalters; so wurde die mittelalterliche Latinität die erste „regulierende“ Schule der urungarischen nationalen Dichtung.
Im Jahre 896 überschritten die ungarischen Stämme die Gebirgspässe der Karpaten von Osten und Norden her. Ihr Zug nach Westen ist als eine verspätete Welle der Völkerwanderung anzusehen. Die wilden Reiter nahmen die spärlich besiedelten, für Ackerbau und Viehzucht geeigneten Gebiete in Besitz. Sie lebten in lockerem Stammesverband, Städte wurden vorerst nicht gebaut. Obwohl sie ihrer Sprache nach zu den finnisch-ugrischen Völkern gehörten, glichen sie in ihrer Lebensweise und ihrem Äußeren eher den türkischen Völkern. Um ihre Schätze zu mehren, zogen sie auf Raub aus; auf ihren „Streifzügen“ kamen sie bis Augsburg und Sankt Gallen in der Schweiz. Über ihren „Besuch“ dort berichtet der Chronist des Klosters in einer amüsanten Anekdote. Hundert Jahre vergingen, ehe sich die Ungarn den Verhältnissen der Nachbarländer anpaßten, das Christentum annahmen und ein Feudalreich gründeten. Ihre Könige stammten aus dem Geschlecht Árpáds, des obersten Heerführers zur Zeit der Landnahme, und bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, bis das Geschlecht ausstarb, kamen alle Thronfolger aus dem Haus der Árpáden. In diesen Jahrhunderten hatte sich Ungarn zu einem der bestorganisierten Länder in Ost- und Mitteleuropa, wirtschaftlich und militärisch sogar zu einer Großmacht entwickelt. Es unterhielt in erster Linie Beziehungen zu Frankreich und Byzanz, doch war es auch durch zahllose Fäden mit den angrenzenden Ländern des Deutschen Reiches verknüpft. Im 10. Jahrhundert predigten deutsche, italienische und slawische Mönche das Christentum in den folgenden Jahrhunderten kamen vor allem französische Orden ins Land, die höher entwickelte Formen der Landwirtschaft unter dem Hirtenvolk verbreiteten. Die ungarischen Könige holten deutsche Handwerker und Gewerbetreibende ins Land, die unter königlichem Schutz Städte bauten. Das Bildungswesen und die Verbreitung der Kultur lagen natürlich in der Hand der Kirche. So war die Sprache lateinisch und damit auch die Literatur. Jedes geschriebene Wort war ein lateinisches Wort. Die Kodizes wurden bis zum Ausgang des Mittelalters in lateinischer Sprache verfaßt. Ende des 12. Jahrhunderts findet man erstmals in einem lateinischen Kodex einen zusammenhängenden Text – eine Leichenrede – in ungarischer Sprache, und um die Wende des 13. zum 14. Jahrhundert das erste ungarische lyrische Gedicht, eine Marien-Klage. Bereits hier ist zu beobachten, wie sich der urungarische Rhythmus den Traditionen der neulateinischen Verskunst angepaßt hat.

Einen bedeutenden Dichter hat das ungarische Mittelalter nicht hervorgebracht. Janus Pannonius, der mit Recht von sich behaupten konnte, als erster die Musen am Donauufer seßhaft gemacht zu haben, lebte im 15. Jahrhundert, er wurde in der großen gemeinsamen Schule der europäischen Völker, im Humanismus, erzogen. Seine Bildung erwarb er in Italien, dort entwickelte er sich auch zu einem der hervorragendsten humanistischen Lyriker. Zwar schrieb er alle seine Gedichte in lateinischer Sprache, doch nicht weil er den antiken Konventionen verhaftet oder ein verspäteter Epigone der antiken Traditionen gewesen wäre. In seiner Lyrik entfaltet er sich als eine selbständige Persönlichkeit er beobachtet aufmerksam seine Umgebung und der Wirklichkeit entnimmt er auch seine Anregungen und Themen. Er verspottet die Gewinnsucht Roms, die pilgernden Gläubigen, beklagt den Tod seiner Mutter, die eigenen seelischen und körperlichen Schmerzen, er hält auch kleinste Begebenheiten am Hofe seines Königs, Matthias Corvinus, fest. Und in seiner im reifen Mannesalter entstandenen Lyrik – er war inzwischen zu den einflußreichsten Männern des Landes emporgestiegen – taucht auch die Sorge auf, die ihn ob der bedrohlichen Ausbreitung der Türkenmacht erfüllt. Der Zauber seiner dichterischen Persönlichkeit beruht auf menschlicher Unmittelbarkeit und der ungewöhnlichen Schönheit seiner brillanten, geistvollen Sprache, die alle seine Nachfolger bewunderten und zu erreichen suchten. Seine Werke erschienen, mit der Verbreitung des Buchdrucks, in vielen Ländern Europas.
König Matthias Corvinus’ Hof und auch später der der Jagiellonen waren ein Hort humanistischer Dichtung, jedoch noch immer wurde fast alles in lateinischer Sprache geschrieben. Die ungarischsprachige Lyrik dieser Zeit, zumindest das, was uns erhalten blieb, stand im Zeichen vorwiegend kirchlicher Thematik. Daneben zeigten sich auch einige späte Spuren der Vagantendichtung mit einer ausgeprägt gesellschaftskritischen Tendenz. Es ist durchaus möglich, daß diese Lyrik reicher war, als wir annehmen, daß ein großer Teil davon in den Stürmen der Geschichte verlorenging die zu Anfang des 16. Jahrhunderts über das Land hinwegfegten. Eine ungeheure gesellschaftliche Spannung ließ damals das feudale System in fast ganz Europa erzittern. 1415 brach der mächtige Aufstand der ungarischen Bauern aus, den jedoch die herrschende Klasse – wie auch in anderen Ländern Europas zu dieser Zeit – blutig unterdrückte. Der Führer des Bauernkrieges – der aus dem Kleinadel stammende György Dózsa, den man auf einem eisernen Thron verbrannte – lebte in der Erinnerung des Volkes weiter: Im 19. Jahrhundert, in den Jahrzehnten der Leibeigenenbefreiung, tauchte sein Name wieder in der Literatur auf. József Eötvös schrieb einen Roman über ihn (1847); Petőfi drohte den an ihren Vorrechten festhaltenden Adligen mit dem Namen des Bauernführers; in der Lyrik Endre Adys wurde er zu einem Symbol der Revolution, ein ungarischer Prometheus. Nach dem Aufstand von 1514 sahen die ruinierten und an strenge Gesetze geketteten Bauern hilflos und untätig zu, wie sich die Macht der Türken ausbreitete. Die herrschenden Klassen des Landes hüteten sich den Bauern eine Waffe in die Hand zu geben wie zur Zeit János Hunyadis, des Vaters Matthias Corvinus’ der 1456 bei Belgrad eine große türkische Armee mit Hilfe eines Bauernheeres vernichtete. Im Jahre 1526 jedoch gelang es dem ungarischen König und seinem Adelsheer nicht, auf der Ebene von Mohács dem Vorstoß der Türken standzuhalten; das Land fiel dem Eroberer als Beute zu. Im westlichen Teil Ungarns errichtete das Herrscherhaus der Habsburger seine Macht der mittlere Teil geriet unter türkische Herrschaft, und der östliche Teil, Siebenbürgen, führte einen schweren politischen Kampf um seine Selbständigkeit, die von seinen Fürsten jahrhundertelang mit Mühe und Not gewahrt werden konnte. Die politische Spannung wie auch die Unzufriedenheit im Volk begünstigten die von Deutschland und der Schweiz her übergreifende Reformation, die in Ungarn solche Heldengestalten hervorbrachte wie István Bocskai, Fürst von Siebenbürgen, dessen Abbild auf dem Reformationsdenkmal in Genf zu sehen ist. An den Grenzen der nicht besetzten Landesteile wüteten ununterbrochene Kriege, umherstreifende türkische Truppen bedrohten das Leben der Bevölkerung in den verfallenden Städten und Dörfern, und die Soldaten der Grenzfestungen legten die Waffen nicht aus der Hand. Doch die Musen an den Ufern der Donau verstummten auch in diesen von Kampfeslärm erfüllten Zeiten nicht. Ihr Gesang erhob sich sogar in einer bislang nie gehörten Schönheit durch die Dichtung Bálint Balassis, und zwar in der Sprache der Nation.
Bálint Balassi lebte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, er war ein Dichter des Humanismus, ein Aristokrat, ein zügelloser Raubritter, ein Soldat der Grenzfestungen. In seiner Zeit war er neben dem Franzosen Pierre de Ronsard und dem Polen Jan Kochanowski einer der bedeutendsten Liebeslyriker Europas, ein Mann von hoher Geistesbildung; außer den beiden Sprachen seiner engeren Heimat, dem Ungarischen und dem Slowakischen, beherrschte er auch die klassischen Sprachen, die Sprache der Bibel, und er lernte Italienisch, Deutsch, Türkisch und Polnisch. Der Melodienvermerk „ad notam“ vor seinen Gedichten zeugte davon, daß er sich in neun Sprachen auszudrücken verstand. Er beteiligte sich am Liebeskult, der in den höchsten Kreisen des damaligen Ungarn in Mode war, und er besang edle Damen ebenso wie leichtfertige Frauenzimmer oder Kurtisanen, denen er in seinem bewegten Leben begegnete. Er schuf eine eigene Strophenkonstruktion, die sich der Struktur der ungarischen Sprache anpaßte und die auch heute noch „Balassi-Strophe“ genannt wird; und obgleich er die Konventionen und Formen der humanistischen Dichtung kannte und benutzte, waren ihm doch die Liebe und das Leid um seine Heimat innerstes Erlebnis und Born seiner Dichtung. Im Nachlaß seiner galanten Lyrik fanden sich auch einige Grenzfestungslieder, die einmalig in ihrer Art sind. Tapferkeit und Todesverachtung des für sein Vaterland streitenden Soldaten sprechen aus ihnen, die Freude am Gebrauch der Waffen, das individuell empfundene Erlebnis der Schönheit der freien Natur. Unter den Mauern von Esztergom machte eine türkische Kanonenkugel seinem Leben ein Ende. Einen Teil seiner Gedichte gab sein Schüler János Rimay heraus, seine Liebesgedichte jedoch wurden als handschriftliche Kopien und Liedersammlungen weitergereicht. Manche seiner Gedichte oder Verszeilen gingen im Volk von Mund zu Mund; und seine Dichtkunst blieb bis zum 19. Jahrhundert unerreichtes Vorbild. Bei Balassi sind bereits die ersten Anfänge jener beiden Grundzüge zu erkennen, die für eine Reihe der besten ungarischen Lyriker bis auf den heutigen Tag charakteristisch blieben: der lyrische Realismus (das Ausgehen von der Wirklichkeit) und das Verantwortungsgefühl für das Schicksal der Nation.
So schwang sich mit Balassi im 16. Jahrhundert der Bogen der ungarischen Lyrik hoch empor, um danach wieder abzubrechen beziehungsweise sich auf einer niederen Ebene fortzusetzen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse gestatteten es vorderhand nicht, daß sich ein kontinuierliches und ausgeglichenes literarisches Leben entwickelte. Während in Frankreich, Spanien, England und Rußland das Zeitalter der absoluten Monarchie die besten geistigen Kräfte zusammenfaßte und die Grundlage für eine nationale Literatur schuf, kam es in Ungarn wie auch in vielen anderen kleinen Ländern Osteuropas zu unablässigen Kämpfen des Volkes um seine bloße Existenz. Die Lage des Landes glich der Deutschlands während des Dreißigjährigen Krieges, nur währte in Ungarn die Zeit der Zerstörung noch länger und die „Genesung“ ging noch langsamer vor sich. Auch als die Türkenherrschaft endlich gebrochen war, kam es noch immer zu keiner endgültigen Befreiung, denn nun war die nationale Unabhängigkeit durch die Kolonisierungsbestrebungen der Habsburger gefährdet. Ungarn mußte lange Zeit zwischen zwei Mächten, den Türken und den Habsburgern, seine Existenzmöglichkeiten suchen, und es läßt sich in der Dichtung des 17. Jahrhunderts verfolgen, wie sich das Bewußtsein bei den ungarischen Politikern, den militärischen Führern und auch bei den Dichtern festigte, daß niemand anders die ungarischen Interessen schützen konnte als die Ungarn selbst. Miklós Zrínyi, der Verfasser eines gewaltigen Epos, ähnlich dem Torquato Tassos, ein Staatsmann und Feldherr, der seine Soldaten ebenso mit dem Schwert in der Hand gegen die Türkenheere zur Schlacht führte wie siebzig Jahre zuvor Balassi, widmete sein ganzes Lebenswerk der Verbreitung dieses einen Gedankens. Zrínyi war ein epischer Dichter; seine Lyrik erreichte nicht die Bedeutung der Lyrik Balassis, doch sein Verantwortungsbewußtsein war mehr entwickelt, und als einer der maßgeblichen Politiker des Landes wählte er jenen Weg, auf dem die Führer des Freiheitskampfes der Kurutzen, Imre Thököly und Ferenc Rákóczi II. (beide waren Verwandte Zrínyis), weiterschritten. Während der Kurutzenkriege gegen die Habsburger entstand eine spezifisch ungarische, zeitbedingte Lieddichtung, die – wenn sie auch nicht als Volksdichtung anzusehen ist – zum großen Teil von unbekannten Verfassern stammt und ganz real das Leben einer Epoche widerspiegelte. Nach der Kurutzendichtung, die Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts aufkam, läßt sich noch immer kein einheitlicher Prozeß in der Geschichte der ungarischen Lyrik erkennen. Erst die Aufklärung, deren erste Wellen Ungarn unter Maria Theresia und Josef II. erreichten, vermochte der gesamten Kultur des Landes einschließlich der literarischen Traditionen eine neue Struktur zu geben.
Da das städtische Bürgertum vorwiegend deutscher Herkunft war und Maria Theresia abermals deutsche und slawische Siedler in die Landesteile holte, die unter der türkischen Besetzung und den Unabhängigkeitskriegen stark gelitten hatten, blieb nur eine ungarische Schicht übrig, die geeignet war, die Ideologie der Aufklärung zu übernehmen: der mittlere Landadel. Die reiche und gebildete Oberschicht wurde vom Hof in Wien angelockt; Namen wie Esterházy, Pálffy, Batthyány findet man auch heute noch an Wiener Straßen und Gebäuden. Ein Teil dieser Aristokraten hielt auch auf seinen ungarischen Besitzungen glänzenden Hof sie ließen sich Theaterensembles, Orchester und Baumeister kommen, doch ihre Kultursprache war Französisch, Italienisch, Deutsch. Um der ungarischen Sprache Geltung zu verschaffen, trat der die Ideologie der Aufklärung vertretende mittlere Adel auf den Plan – trotz seiner lateinischen Schulbildung und der lateinischen Sprache im öffentlichen Leben –, und bald standen ihm auch die wenigen adligen oder aus „niederen“ Volksschichten stammenden Intellektuellen zur Seite: Juristen, Mönche, protestantische Pfarrerssöhne, Wundärzte und andere. In Wien umgab sich Maria Theresia mit einer ungarischen Leibgarde, die sich aus den Söhnen des mittleren Landadels rekrutierte. Aus dieser Leibgarde gingen die ersten Verkünder der ungarischen Aufklärung hervor, Schriftsteller und Dichter deren nationales Sendungsbewußtsein neben der Verbreitung der Ideen der Aufklärung auch die Kultivierung der Nationalsprache in sich einschloß; sie glaubten fest daran, daß ein jedes Volk nur in der eigenen Sprache „gelehrt“ sein, das heißt, daß Bildung nur in der Muttersprache vermittelt werden könne. Die Entstehung der Aufklärung und des Nationalbewußtseins waren also miteinander verflochten; als drittes Element kam der Kampf um Verbürgerlichung und Zivilisation hinzu, die Beseitigung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rückständigkeit, verknüpft mit sprachlichen und ästhetischen Bestrebungen. Seit dem Auftreten der Wiener Leibgardisten-Schriftsteller (1772) waren rund fünfundsiebzig Jahre vergangen, als 1848/49 die bürgerliche Revolution und der Freiheitskrieg ausbrachen. Diesem Freiheitskrieg, einem der Höhepunkte in der ungarischen Geschichte und auch in der Geschichte der ungarischen Lyrik, wurde in der Dichtung Petőfis ein Denkmal gesetzt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts endlich waren jene Ziele erreicht, die die Aufklärung angestrebt hatte: gesellschaftliche Reformen, eine nationale Kultur und eine nationale Dichtung und Literatur.
Die nationale – das heißt jede Schicht des Volkes umfassende und durchdringende, zugleich auf einem hohen Niveau stehende – Dichtung bildete sich im Verlaufe der erwähnten fünfundsiebzig Jahre, wie der bedeutende Literaturhistoriker János Horváth feststellte in drei aufeinanderfolgenden Phasen heraus.
Die erste war geprägt von der bewußt verbreiteten Aufklärung, dem ungarischen Echo auf die Französische Revolution von 1789: sie stand im Zeichen der ungarischen Jakobinerbewegung. Die führende Persönlichkeit war zweifellos Ferenc Kazinczy, ein unermüdlicher in seinen ästhetischen Anschauungen von der deutschen Klassik inspirierter literarischer Agitator, der sein eigenes hohes Stilideal der Dichtung dieser Epoche regelrecht aufzwang. Kazinczy, der aus dem mittleren Adel stammte, hatte in seiner Jugend eng mit dem Lyriker János Batsányi, dem radikalsten ungarischen Anhänger der Französischen Revolution, zusammengearbeitet; beide hatten wegen ihrer Teilnahme an der ungarischen Jakobinerbewegung schwere Kerkerstrafen verbüßt. Nach den Napoleonischen Kriegen wurde Batsányi in die Verbannung geschickt; Kazinczy jedoch, der Anfang des 19. Jahrhunderts freikam, stellte sich an die Spitze der Spracherneuerer. Diese Bewegung wird heute als eine Fortsetzung der im Blut erstickten revolutionären Bestrebungen gewertet, eine Fortsetzung des Kampfes mit literarischen, mit kulturellen Mitteln. Kazinczy schuf eine Übersetzungsliteratur von hohem Niveau und gab damit der ungarischen Sprache die Möglichkeit, neuen Schönheiten Ausdruck zu verleihen. Mihály Vitéz Csokonai, der bedeutendste Lyriker jener Zeit, ein hochkultivierter Mann aus dem besitzlosen Kleinadel, brachte einen bisher unbekannten Formen- und Gefühlsreichtum in die ungarische Lyrik. Bei Csokonai erklang erstmals der volksliedhafte Ton. Von ihm führte der Weg direkt zu Petőfi, während der außergewöhnlich sprachgewaltige und pathetische Daniel Berzsenyi, ein lateinisch gebildeter, von Horaz inspirierter Dichter aus dem mittleren Adel, den Boden für die romantische Dichtung Mihály Vörösmartys vorbereitete. Für die Lyrik Kazinczys, Batsányis, Csokonais und Berzsenyis ist gleichermaßen kennzeichnend, daß sie bestrebt war, sentimentale Gefühlsnuancen, Formenstrenge und neue Formen einzuführen. Die neue Form ihrer Gedichte, der Eigenart der ungarischen Sprache angeglichen, gehört zum Formenschatz des spätklassizistischen Stils. Kazinczy wie auch Csokonai gaben das Beispiel für die Anwendung der jambischen und trochäischen Versfüße in der ungarischen Lyrik, Berzsenyi wiederum erreichte in der Handhabung der antiken Versformen eine bisher nicht gekannte Vollkommenheit. Erst das Wirken dieser Dichter ermöglichte es, alle Gefühlsvarianten, jede Situation des Lebens lyrisch auszudrücken, sie übertrafen weitgehend den Entwicklungsstand der Prosasprache. Dabei lösten sie sich nicht von der Realität und verfolgten mit lebhaftem Interesse die Ereignisse in Europa, das Schicksal ihrer Nation.
In der „Schule“ Kazinczys wuchs Ferenc Kölcsey heran, der Verfasser der ungarischen Nationalhymne. Mit ihm begann die zweite, die romantische Etappe in der Entwicklung der Lyrik, die um die Jahrhundertmitte ihren Höhepunkt hatte. Aufklärung und Empfindsamkeit, starker Patriotismus und frischer nationaler Geist vereinigten sich hier – ähnlich wie in den anderen Literaturen Mittel- und Osteuropas. Die Volksdichtung gewann an Bedeutung: als höchstes Ziel galt dem Dichter, den Fortschritt der Nation und ihre Erziehung zu fördern. So war die ungarische Romantik eine Epoche, in der Romantik in erster Linie gehobenes Nationalbewußtsein, die Forderung nach dem edlen Menschen und die Liebe zum Volk bedeutete, und parallel dazu lief die Begeisterung für die nationale Vergangenheit. Es war eine männliche Romantik, die nur selten, nur in der Ausnahme in eine Traumwelt oder in Pessimismus flüchtete. Ihre Vertreter waren Männer von ausgesprochen hoher Gesinnung, die letzten würdigen Persönlichkeiten einer dem Verfall preisgegebenen Adelsschicht – dem mittleren Adel. Einer von ihnen – Károly Kisfaludy – übernahm auch die agitatorische Rolle Kazinczys, doch schon mit dem Programm der Romantik. Im Werk Mihály Vörösmartys, der 1825, zu Anfang der zur Revolution führenden Reformzeit (dem ungarischen Vormärz), auftrat, wurde gewissermaßen all das zusammengefaßt und weiterentwickelt, was in den vorangegangenen fünfzig Jahren ungarischer Lyrik erreicht worden war. Seine außergewöhnlich bildhafte Phantasie, seine gewaltige sprachliche Kraft, sein politisch progressiver Eifer und seine Anteilnahme am öffentlichen Leben erhoben Vörösmarty zum typischsten Vertreter der nationalen Romantik. Man kann ihn am besten mit Mickiewicz vergleichen: Für beide ist eine gleichartige Humanität und Universalität in nationalen Belangen charakteristisch; eine tiefe Volksverbundenheit, der Hang zum Philosophischen, ein bewegtes Gefühlsleben und weltoffener Sinn zeichnen sie aus. Auch Vörösmartys Romantik war sehr stark der Wirklichkeit verhaftet, der Dichter kannte und liebte den Menschen, selbst die kleinsten Schönheiten des Lebens, seine Liebe war keusch und andauernd, seine Philosophie eine aktive Lebensphilosophie. Seine im wesentlichen ausgeglichene Natur entsprang dem Sinn für die Realität, allein seine Phantasie verlieh ihm Flügel, machte ihn zu einem echten Romantiker, ließ ihn in kosmischen Perspektiven denken. Und in der tiefsten Verzweiflung, in die ihn am Ende seines Lebens die Niederlage der Revolution und des Freiheitskampfes stürzte, überhäufte er ganze Welten mit seinen Verwünschungen.
Im dritten Stadium der Entwicklung, das sich über ein knappes Jahrzehnt – die vierziger Jahre – erstreckt, wird alles vom Genie eines Mannes überstrahlt: von Sander Petőfi. Zwei ideelle Triebkräfte beherrschen sein Werk: Demokratie und Revolution. Einerseits sichert er in seiner Lyrik die inspirierende Wirkung der Dichtung und zugleich das Recht des Volkes, zum anderen reiht er sich in das internationale Heer ein, das unter roten Fahnen für die „Weltfreiheit“ aufmarschiert. Vörösmarty hatte das Nationale mit dem Menschlichen in Einklang gebracht; Petőfi, der Plebejer, sah das Nationale in dem, was aus dem Volk kam, das Menschliche jedoch im revolutionären Internationalismus. Die radikalen Ideen der Französischen Revolution beflügelten ihn ebenso wie die der utopischen Sozialisten; sein kurzes Leben glich einer rastlosen Wanderung. Er zog zu Fuß durch das ganze Land, lernte jedes Detail im Leben des Volkes kennen, so auch sein Elend und die Entrechtung – denn in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts war die Leibeigenschaft in Ungarn noch immer nicht aufgehoben –, und erkannte die unabdingbare Notwendigkeit einer sozialen Veränderung. Die Augen wurden ihm geöffnet, als er das Volk im Alltag bei der Arbeit und bei seinen Feierstunden beobachtete. Der Tenor seiner Dichtung ist das Volksliedhafte; vor allem am Anfang seiner Laufbahn schrieb er viele Lieder, die das Volk aufnahm, weiterformte und noch heute singt; aber auch später, als seine Dichtung weit über die Formen der Volksdichtung hinausgeht, hält er Einfachheit, Anschaulichkeit und Natürlichkeit für die Leitprinzipien in der lyrischen Darstellung eines Themas oder Gegenstandes. Ein stürmischer und schwärmerischer Liebhaber, bleibt er selbst in seinen jauchzendsten Liebesgedichten im Grunde nüchtern. Jedes seiner Worte ist konkret, jedes Bild klar, jedes Gefühl allgemein menschlich. In seinen Werken kann man buchstäblich verfolgen, wie sich sein Leben und das Schicksal seiner Heimat von Tag zu Tag entwickeln. Wenn wir von lyrischem Realismus sprechen – in der Dichtung Petőfis wurde er verwirklicht. Dabei ist jedes seiner Gedichte – was den inneren Aufbau anbetrifft – ausgewogen und gut durchschaubar. Petőfi fiel auf dem Schlachtfeld, im Kampf gegen die Heere der Reaktion, mit sechsundzwanzig Jahren. Seine Gestalt wurde zu einem wahrhaften Symbol, in ihm verkörperte sich der ungarische nationale Dichter, und es gibt nicht einen einzigen Menschen ungarischer Zunge, der nicht wenigstens einige Zeilen der bedeutendsten Gedichte Petőfis zitieren könnte.
Mit Petőfis Tod fand auch der nationale Freiheitskampf sein Ende, dessen politische Ziele der Dichter in seiner volkstümlichen Lyrik darlegte. In den folgenden fünfzig Jahren wahrte die ungarische Dichtung das volkstümliche Stilerbe Petőfis und entwickelte es weiter – zumindest eine Zeitlang –, es tauchten jedoch auch neue Bestrebungen auf, die die Welt des Menschen um die Jahrhundertwende zum Ausdruck zu bringen suchten.
János Arany war es, der die volkstümliche Richtung als Stil vollendete und sanktionierte, ein Dichter mit vorwiegend epischen Neigungen, der kurz nach Petőfi begann, mit dem ihn persönliche wie auch geistige Freundschaft verband. Nach dem Tod des Freundes übernahm er dessen Rolle. Aranys Richtung bildete in den drei Jahrzehnten nach dem Freiheitskampf die Hauptlinie der ungarischen Dichtung. Unter seiner Hand wurde die volkstümliche Richtung „klassisch“, erreichte eine formelle Vollendung und entfaltete inhaltlich wie sprachlich ihren spezifisch nationalen Charakter. Leidenschaft und Nüchternheit eigenartig vereint, Wirklichkeitstreue und Widerspiegelung des historischen Schicksals seines Vaterlandes – das waren die lyrischen Grundsätze János Aranys, die in seinen epischen Werken ebenso realisiert wurden wie in seiner empfindsamen, zur Wehmut neigenden Lyrik. Ein hervorragender zeitgenössischer Kritiker sagte von Arany, daß er nicht allein auf der höchsten Bildungsstufe seiner Zeit stand, sondern auch alles das wußte was sich der ungarische Bauer aus der Erfahrung mit der Natur angeeignet hatte. Er kannte sich in den Volksbräuchen aus, in der Feldarbeit, in Denkweise und Lebensform des ungarischen Bauern. In seinen Balladen, die eigentlich psychologische Novellen mit tragischen Charakteren sind, offenbart sich seine tiefe, umfassende Menschenkenntnis. Er selbst stammte aus dem mit dem Bauerntum verschmolzenen niederen Adel. Doch nicht deshalb wirkte sein volkstümlicher Stil so glaubhaft. Die Volkstümlichkeit in seiner Dichtung hatte noch eine wichtige Funktion: ein Volk, eine Nation zur Wahrheit, Klugheit und Schönheit zu führen, entsprechend den Traditionen von 1848/49. In Dichterkreisen genießt Arany vermutlich noch immer das größte Ansehen, er ist der Meister, dessen Sprache, Reimkunst und Bilder noch heute als Maß gelten auf das man sich in strittigen Fragen der ungarischen Sprache und des Versbaus noch immer berufen kann. Er war auch der größte ungarische Interpret Shakespeares.
Das zentrale Erlebnis jener Zeit, der Freiheitskampf und die darauffolgenden Jahre der Willkürherrschaft, tauchten in der Dichtung in vielen Varianten auf. Bei Arany war es u.a. in schottische Balladenform gehüllte Unerbittlichkeit, bei Mihály Tompa von stiller Melancholie überdeckte Bitterkeit, bei Kálmán Tóth begeisterte in romantisches Licht getauchte Reminiszenz und bei János Vajda, einer starken Dichterpersönlichkeit, selbstquälerische Mahnung. Vajdas volkstümlicher Stil schloß sich gewissermaßen dem Thema an. Doch läßt sich in seiner Lyrik der Prozeß verfolgen, wie dieser Stil allmählich von inhaltlich komplizierteren, nicht natürlich-einfachen Gefühls- und Gedankenelementen durchtränkt wird und wie sich diese neuen Elemente dann mit der von Petőfi entwickelten und durch Arany weitergeformten Versstruktur verbinden. Die volkstümlich-klassischen Dichter fühlten und wußten sich so sehr eins mit dem Volk und der Nation, daß sie auch ihre persönlichen Eindrücke jederzeit mit einer allgemein menschlichen und allgemein ungarischen Gültigkeit darstellten. Die Volkslieder und Liebesgedichte Petőfis fanden bei einer ganzen Nation Widerhall, seine revolutionären Gedichte ließen die Erlebnisse einer ganzen Nation aufklingen. In der Beherrschung, der Besonnenheit, dem vertieften nationalen Charakter und der breiten kulturellen Orientierung Aranys sah ein ganzes Volk das Beispiel dafür, wie es seinen eigenen Weg finden konnte; es lernte gewissermaßen von Arany, dem stillen, kompromißlosen „Barden von Wales“, wie es zu leben hatte. Mit Vajda löste sich dieses selbstverständliche Kollektivbewußtsein auf. Nicht daß Vajda weniger Verantwortungsbewußtsein gehabt hätte. Im Gegenteil: er gehörte zu der Art von Menschen, die das Gewissen aufrütteln. Doch in seiner Aussage kam – wenn auch noch nicht dominierend – in weit größerem Maß als bei den volkstümlichen Klassikern das subjektive Element zur Geltung, die Hervorhebung der Persönlichkeit, und das hinterließ in seinen Liebesgedichten ebenso seine Spuren wie in seiner politischen Lyrik. Anstelle der männlich-festen Weltanschauung der volkstümlichen Klassiker gewann in Vajda von Zeit zu Zeit ein dunkler Pessimismus die Oberhand, das optimistische Lebensgefühl wechselte bei ihm mit einem Gefühl der Entsagung und Einsamkeit. Das brachte ihn langsam in einen Widerspruch zu seinen melodischen und regelmäßigen Formen, die auch er, getreu den Traditionen, noch verwandte. Diese Haltung ist auch für andere ungarische Dichter vom Ende des 19. Jahrhunderts typisch. Doch kamen neue Bestrebungen immer mehr zur Geltung. Gyula Reviczky und Jenő Komjáthy glichen Vajda in ihrer Subjektivität und in ihrem Pessimismus, doch sie lösten sich langsam vom volkstümlichen Stil, und besonders Komjáthy entwickelte eine überschwengliche philosophische Bildersprache, die mit dem volkstümlichen Stil nur noch wenig zu tun hatte. Ein anderer, mehr zeitgemäßer und schon entwickelter Formenschatz stand ihnen vorläufig nicht zur Verfügung. József Kiss hingegen kam, zumindest zu Beginn seiner Laufbahn, direkt von der Balladendichtung János Aranys her. Das Publikum seiner Zeit schätzte ihn vor allem aus diesem Grunde; wir aber haben ihn heute als einen Inspirator des modernen Internationalismus in der ungarischen Dichtung entdeckt. Endre Ady und der Kreis um die Zeitschrift Nyugat (Westen) machten der Herrschaft des veralteten volkstümlichen Stils ein Ende.
Endre Ady und der Kreis um den Nyugat – die Zeitschrift wurde 1908 gegründet – vertraten Jedoch längst nicht die gleiche Richtung, die gleiche Gedankenwelt. Der Nyugat war in sich selbst nicht einheitlich, sondern vielmehr ein llgemeiner Sammelplatz der anspruchsvollen literarischen Tendenzen dieser Zeit. Wohl trat das Blatt, nach der Gesinnung seiner Redakteure zu urteilen, vor allem durch seine liberale bürgerliche Ideologie hervor, und doch ermöglichte es gerade dieser Liberalismus – wenn auch nicht ohne gewisse Schranken und nach dem Sturz der Räterepublik 1919 überhaupt nicht mehr –, daß Schriftsteller der verschiedensten Weltanschauungen m der Zeitschrift zu Wort kamen. Den Namen Adys, des Erneuerers der ungarischen Lyrik, pflanzte der Nyugat – besonders am Anfang – gewissermaßen als „Fahne vor seine Exemplare. Doch als sich im Laufe der Jahre Adys plebejischer Demokratismus und das Revolutionäre deutlicher zeigten, traten die Gegensätze zwischen ihm und der Hauptrichtung der Zeitschrift immer mehr hervor. Obwohl für die frühe Dichtung Adys tatsächlich die Begeisterung für Paris charakteristisch ist und auch ihn, wie fast alle europäischen Dichter zu Anfang des 20. Jahrhunderts, die französischen Symbolisten inspirierten und obwohl in seiner frühen Lyrik auch das für die „décadence“ der Jahrhundertwende bezeichnende Todesmotiv auftauchte, die Pose des „poète maudit“ und der Nietzscheanische Rausch vom höheren Bewußtsein des Sehers, so wissen wir heute doch, daß er einen besonderen Weg ging. Das heißt: er ging den Hauptweg in der Entwicklung der ungarischen Dichtung. Petőfis Erbe übernahmen nicht die Epigonen der Volkstümler, die Ady heftig angriffen, sondern es war Ady, der dieses Erbe aufnahm und fortführte. Die sozialistische ungarische Lyrik und selbst Attila József gehen von Ady aus, stützen sich auf sein Werk.
Endre Ady war ein Erneuerer in jeder Hinsicht, und als solcher vereinigte er in sich die besten Traditionen. Seine Ahnen in der ungarischen Dichtung waren Csokonai, Petőfi und János Vajda. Wenn man seine Gedichte auch als spezifisch ungarische Symptome des Symbolismus bezeichnen muß, so fehlt doch gerade das in seiner Persönlichkeit und seiner Dichtung, was als eines der wichtigsten Merkmale des Symbolismus gilt: der Ästhetizismus. „Ich bin der Herr, das Gedicht ist nur ein aufgeputzter Diener“, schrieb er, und dieses „Herren-Ich“ schlug im heimatlichen Boden Wurzeln, im „ungarischen Brachland“, im „winterlichen Ungarn“, im Boden der armen Bauern auf den gräflichen und kirchlichen Besitztümern, die dort kümmerlich ihr Leben fristeten. Wen die soziale Frage – nicht infolge seiner Abstammung, sondern durch innere Überzeugung – so tief berührte, der konnte nicht um der bloßen „Schönheit“, der „Kunst“ willen seine Werke schaffen. Ady haßte das kapitalistische System in Ungarn, in dem auch die feudalen Überreste noch weiterlebten, und im Laufe seiner Entwicklung kam er der Arbeiterbewegung immer näher, schickte dem Proletariat seine „Bundeslade“. Seine Symbole entnahm er der ungarischen Mythologie, der Bibel und dem Wortschatz der revolutionären Dichtung. Er erneuerte die lyrische Sprache, er paßte die freien und unregelmäßigen Rhythmen seiner Muttersprache so an, daß sich in Sprachgewalt und Dichte kaum ein anderer ungarischer Lyriker mit ihm messen kann.
Der eigentliche Führer des Nyugat-Kreises war Mihály Babits, eine Persönlichkeit von großer Bildung, trotz zahlloser Anregungen aus der Weltliteratur voller Ursprünglichkeit; nach dem Tode Adys nahm er zwei Jahrzehnte hindurch eine führende Position in der ungarischen Lyrik ein. Dort, wo Ady an Petőfi erinnert, ähnelt Babits János Arany, und er gleicht ihm auch darin, daß er von der Dichtung vollendete Form und klaren Inhalt forderte. Babits begründete eine ganze „Schule“, er erzog Generationen von Dichtern dazu die Weltliteratur zu erforschen und ihre Werke in eine anspruchsvolle ungarische Form zu übertragen. In vieler Hinsicht sind seine Leistungen von bleibendem Wert. Von seinem bürgerlichen Liberalismus jedoch, den er zur Zeit der Gründung des Nyugat vertrat, wich er – besonders durch den Weißen Terror, der nach dem Sturz der Räterepublik einsetzte – langsam nach rechts ab und ging so manchen Kompromiß ein. Sich in den Elfenbeinturm seines vornehmen Ästhetizismus zurückziehend, verfolgte er stumm die politische und geistige Gewalt, die dem Volk eines Landes angetan wurde, das dem Faschismus entgegenzog. Gegen Ende seines Lebens, als er die Greueltaten des Faschismus erkannte, legte er in zerfleischender Selbstanklage Zeugnis gegen sich selbst ab:

Wer stumm unter Schuldigen bleibt, macht sich mitschuldig.

Babits nicht fern standen – was die dichterischen Prinzipien betrifft – seine beiden Mitstreiter, Dezső Kosztolányi und Árpád Tóth. Das Wirken dieses Dreigestirns brachte für die ungarische Lyrik eine neue Epoche der Formenbereicherung und -verfeinerung, die sich zu einer langwährenden Tradition entwickelte und ihre Wirkung auf einige – nicht unbedeutende – Lyriker noch heute nicht eingebüßt hat. Es ist daher üblich, von einer zweiten und dritten Generation des Nyugat zu sprechen und Namen wie Lőrinc Szabó und sogar – hauptsächlich wegen seiner Übersetzungen – Miklós Radnóti zu nennen. Denn die in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts geborene Dichtergeneration begann ihren Weg fast ausnahmslos im Nyugat, wohin immer er sie auch später führte. Gyula Juhász zum Beispiel gehörte – sowohl seinem persönlichen Weg wie auch seinen dichterischen Prinzipien nach – nie fest zum „Nyugat-Kreis; dennoch ist er ihm durch den Wohlklang, die Musikalität und den träumerischen Impressionismus seiner Bilder verbunden. Juhász, der gezwungen war, ideologische und politische Unterdrückung zu erdulden, war Anhänger und Nachfolger Endre Adys. Attila József, der nie die Unterstützung Babits’ erhielt, wurde von Juhász inspiriert; dieser gab dem kaum achtzehnjährigen Schüler den ersten Ansporn für seinen Weg. Zur Garde des Nyugat gehörte auch, obwohl er einen völlig eigenen Ton hatte, Milán Füst. Seine langen und nur durch ihren inneren Rhythmus zusammengehaltenen Verszeilen strafft der groteske Gegensatz von Realität und übersinnlichen Stimmungen. Sein Einfluß ist bei manchem Gedicht von Miklós Radnóti und bei dem jungen Gyula Illyés zu spüren. Auch Béla Balázs begann im Nyugat und machte sich eine Zeitlang die herrschenden ästhetischen Ideen der Zeitschrift zu eigen. Später entwickelte er sich zu einem weltbekannten Filmästhetiker und beachtenswerten sozialistischen Dichter. Mit seinen ersten poetischen Versuchen schloß sich Lajos Kassák ebenfalls dem Nyugat an, der unbeugsame Führer der lyrischen Avantgarde in Ungarn, dessen beide Zeitschriften Ma (Heute) und Tett (Tat) eine gewisse Bedeutung in der internationalen Geschichte der Avantgarde erlangten. Der erste Abschnitt des Nyugat – seine Glanzzeit – fand mit dem Sturz der Räterepublik ein Ende. Zum Verständnis dieses entscheidenden Ereignisses der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist es nötig, sich mit der Vorgeschichte bekannt zu machen.

Im Jahre 1867 verschaffte sich Ungarn mit dem sogenannten Ausgleich, der die Jahre der Zwangsherrschaft nach dem Freiheitskampf 1848/49 beendete, innerhalb der von den Habsburgern gelenkten Völkergemeinschaft die verfassungsmäßige Selbständigkeit. Kaiser Franz Joseph ließ sich zum König krönen, legte den Schwur auf die ungarische Verfassung ab. Das auf diese Weise mit dem österreichischen Kaiserreich durch eine Personalunion verbundene ungarische Königreich umfaßte das gesamte Karpatenbecken einschließlich Siebenbürgens, im Süden verlief die Grenze bei Belgrad entlang der Donau. Auf diesem Gebiet lebten im Jahre 1900 (zusammen mit Kroatien und Slawonien) nach einer Statistik 19.254559 Menschen, davon waren 8.742301 Ungarn und mehr als neun Millionen deutscher, slowakischer, serbischer, kroatischer, rumänischer und anderer Nationalität. Dennoch setzten sich in der Regierung des ungarischen Königtums nationalistische Gesichtspunkte durch, die herrschende Klasse verschloß sich hartnäckig der Tatsache des Vielvölkerstaates gegenüber, das System des Großgrundbesitzes blieb – wie bereits erwähnt – neben der allgemeinen Entfaltung des Kapitalismus erhalten. So lebten sechzig Prozent der Bevölkerung, das heißt mehr als dreizehn Millionen Menschen, von der Landwirtschaft, wenn man das Dahinvegetieren überhaupt Leben nennen kann, das den ungarischen und nichtungarischen Knechten und Tagelöhnern auf den Großgrundbesitzen beschieden war. Allein die zweieinhalb Millionen umfassende Arbeiterklasse verschiedener Nationalität stellte eine Kraft dar, mit der die herrschende Klasse bereits um die Jahrhundertwende zu rechnen hatte. Unter der Herrschaft der steinreichen Aristokratie, der Schicht von Verwaltungsbeamten, die die korrupte Lebensform des einstigen Adels – dem sie zum Teil auch entstammte – nachahmte, und des schnell anwachsenden wohlhabenden Bürgertums lebte der größere Teil der Bevölkerung in materieller und geistiger Unterdrückung. Nur eine radikale gesellschaftliche Veränderung hätte dem Land helfen können, wozu jedoch – statt des ständigen nationalen Partikularismus und Haders – der Zusammenschluß der in einer Gemeinschaft lebenden Völker notwendig gewesen wäre. Darauf wies auch Endre Ady immer wieder hin, am eindeutigsten in seinem „Lied des ungarischen Jakobiners“. Wenn man die historische Situation des Landes kennt, erhellt sich erst wirklich, wie sehr die Dichtung Endre Adys der Heimaterde entsproß und wie wenig die überholte Ungartümelei der gegen Ady auftretenden Epigonen der volkstümlichen Richtung sowie der Ästhetizismus der Führer des Nyugat im ungarischen Boden verwurzelt waren. Und so wird auch verständlich daß Ady und die Besten der ungarischen Intelligenz, die in ihm ihren geistigen Führer sahen, in der sich organisierenden Arbeiterklasse einen potentiellen Verbündeten erkannten, sowohl gegen die Land- und Geldaristokratie als auch gegen das zur Macht strebende Bürgertum. Die Annäherung und das Zusammenwirken der Arbeiterklasse und der fortschrittlichen Intelligenz hätte eine historische Aufgabe vorbereiten können: die Schaffung einer gerechten Ordnung für die Völkergemeinschaft des Königreichs. Eine Gelegenheit hierzu hatte sich mit der bürgerlichen „Astern“-Revolution nach Beendigung des ersten Weltkrieges im Oktober 1918 und – da diese Revolution ihrer Aufgabe nicht gerecht werden konnte – mit der im März 1919 ausgerufenen Ungarischen Räterepublik geboten.
Doch die historische Situation lenkte den Gang der Dinge in eine andere Richtung. Die Räterepublik hatte mit vielen inneren Schwierigkeiten zu kämpfen, ihre Führer waren sich nicht einig, und die Regierung war während der kurzen Zeit – drei Monate bestand die Räterepublik – nicht in der Lage, die politisch ungeschulten Massen der Bauern zu gewinnen und auf ihre Seite zu ziehen. Im völligen Chaos der zerfallenden Habsburgmonarchie gelang es den revolutionsfeindlichen Kräften, eine militärische Intervention gegen die Ungarische Räterepublik zu organisieren. Obgleich sich diese eine Zeitlang erfolgreich zur Wehr setzte, wobei ihr zeitweilig auch noch Bundesgenossen zur Seite standen wie die Slowakische Räterepublik, unterlag sie doch bald der Übermacht. Budapest wurde von Interventionstruppen eingenommen, und im Spätsommer setzte sich Miklós Horthy, k.u.k. Konteradmiral und Flottenbefehlshaber der Donaumonarchie, in seiner Marineuniform auf einen Schimmel und zog an der Spitze seiner Henkersknechte, des mit Kranichfedern geschmückten Offizierskorps, in Budapest ein. Im ganzen Land begann der Weiße Terror zu wüten, Tausende flohen ins Ausland oder verbluteten auf ungarischem Boden. Im Laufe der fünfundzwanzigjährigen Parvenü-Herrschaft Horthys, in der der Großgrundbesitz unangetastet blieb, lebten im damals neun Millionen zählenden Ungarn etwa drei Millionen Menschen vorwiegend arme Landbevölkerung, die kaum etwas zu essen hatten. Die Mehrheit der Arbeiterklasse jedoch lebte unter politischem Druck und in schlechten materiellen Verhältnissen. Horthy fürchtete sich so sehr vor jeder Veränderung, daß er sogar die Staatsform „Königreich“ beibehielt und – obwohl es keinen König mehr gab – als „Landesverweser“ im Namen der „Heiligen Krone“ antidemokratische Gesetze erließ. Die ungarische Dichtung ging – wie aus den geschilderten Umständen ersichtlich – durch krisenschwere Jahrzehnte, nur ein Teil der Dichter konnte seine Stimme im Lande selbst erheben.
Dem todkranken Endre Ady war es nicht mehr vergönnt, die Räterepublik zu erleben. Doch beruhte es wohl nicht zuletzt auf seiner persönlichen Wirkung, daß die Mehrheit der bürgerlich-liberalen Dichter des Nyugat für die neue Ordnung – die Räterepublik – Partei ergriff. Mihály Babits, der „poeta doctus“, erhielt eine Universitätsdozentur. Árpád Tóth schrieb eines seiner bedeutendsten Gedichte, „Der neue Gott“. Kosztolányi reagierte zaghaft, aber er verfolgte die Ereignisse mit Sympathie. Lőrinc Szabó war zu dieser Zeit noch Student, doch in den Gedichten von der revoltierenden Großstadt aus seiner ersten Periode ist die Erinnerung an die Räterepublik wachgehalten. Gyula Juhász begrüßte die Ereignisse, er übernahm die Intendanz des Theaters von Szeged, organisierte Aufführungen für Arbeiter, bis ihn die wiederauflebende Konterrevolution in der von Interventionstruppen besetzten Stadt zum Verstummen brachte. Béla Balázs war einer der leitenden Beamten im Volkskommissariat für Bildungswesen, nach dem Sturz der Räterepublik mußte er emigrieren.
Die Mehrzahl der Vertreter der fortschrittlichen Dichtung, die sich in jener revolutionären Zeit entfaltet hatte, wurde in die Emigration getrieben. Lajos Kassák verbrachte nach 1919 einige Jahre in Wien, bevor er nach Ungarn zurückkehren konnte. Andor Gábors Weg führte von Wien über Berlin in die Sowjetunion, von wo aus er erst 1945 mit den anderen sozialistischen Emigranten, wie József Révai, György Lukács und Béla Balázs, sich wieder in seine Heimat begeben konnte. Andor Gábor entwickelte sich in der Emigration zu einem kämpferischen sozialistischen Lyriker, der mit seiner Dichtung das Beispiel gab, wie die von der volkstümlichen Lyrik ererbten Formen mit sozialistischem Inhalt zu füllen sind. Aladár Komjáth, einer der Pioniere der ungarischen sozialistischen Lyrik, floh vor dem Faschismus nach Wien und Berlin und dann weiter nach Paris, wo ihn der Tod ereilte. Anfang der zwanziger Jahre fanden die ungarischen Emigrantenschriftsteller in Wien bald ihren eigenen Ton. Binnen kurzer Zeit schufen sie eine reichhaltige Publizistik in ungarischer Sprache, und um die Mitte des Jahrzehntes gingen sie außer nach Berlin und Moskau auch in die Tschechoslowakei nach Rumänien und Jugoslawien, nach Bratislava, Košice, Novi Sad und Cluj. Die ungarische Presse dieser Städte erfüllte fünfzehn Jahre hindurch eine wichtige Mission: Sie stellte rege Kontakte zu der ungarischen Literatur in der Heimat her und spielte auch eine vermittelnde Rolle zwischen Moskau, der Literatur der nebeneinander lebenden Völker, zwischen der deutschen sozialistischen Literatur und der ungarischen Literatur. In den Nachbarstaaten Ungarns entstand eine bedeutende ungarischsprachige Literatur und Publizistik.
Neben den Dichtern des Nyugat, die zum großen Teil in Ungarn geblieben waren und von denen einige die Rolle der geduldeten Opposition übernahmen, bildete sich in der Literatur Ungarns eine ausgesprochen rechtsstehende Richtung heraus, die dem System in jeder Beziehung ihre Dienste anbot: In den dreißiger Jahren jedoch organisierten sich die Volkstümler, eine Gruppe von Schriftstellern, die als ihre Basis das heterogene Bauerntum ansahen. So vertraten auch die „Volkstümler“ Ideologien verschiedener Schattierungen, von der dem Sozialismus nahestehenden Linken bis zur vielschichtigen Rechten. Von der Avantgarde kommend, schloß sich, schon seiner Abstammung nach Gyula Illyés der linken Richtung der „Volkstümler“ an. Nachdem der Weiße Terror jahrelang grausam gewütet hatte, ließ der politische Druck etwas nach; so konnte um die Mitte der zwanziger Jahre die sozialistische Lyrik – wenn auch vielfach nur in illegalen Druckerzeugnissen – wieder ihre Stimme innerhalb der Grenzen Ungarns erheben. Und all diese Traditionen und Tendenzen vereinigten sich – wie im 19. Jahrhundert bei Petőfi – in der Dichtung einer einzigen großen Persönlichkeit – in Attila József.
Petőfi war ein Sohn des Volkes, er trat in der Lyrik des adligen Ungarn für die ihrer Rechte beraubten Bauern auf. Ady, aus dem Kleinadel kommend fand in der Schule des Bürgertums zu seiner plebejischen Überzeugung. József kam aus dem „vierten Stand“, dem Industrieproletariat. Seine Kindheit hatte er in den Mietskasernen der Vorstädte verbracht und es war nur seiner außergewöhnlichen Begabung zu verdanken, daß er überhaupt lernen konnte. Und er lernte alles, in der Schule und anderswo. Er erreichte in seiner Dichtung die einstige Leichtigkeit der volkstümlichen Lyrik, er übertraf die Formenkenntnis des Nyugat und stand in seiner Ursprünglichkeit auch Ady nicht nach; er führte die geistigen Traditionen der sozialistischen Lyrik weiter und hob sie auf ein höheres Niveau. Nach einem Jahr Wien sprach er gut deutsch, und nach einem Jahr Paris schrieb er Gedichte in französischer Sprache. „Sohn der Straße und der Scholle“ nannte er sich, und er fühlte sich als Vertreter jedes armen Mannes. Sachverständig wählte er in der großen Dichtung der Weltliteratur, er war in jeder Epoche zu Hause und handhabte jede Lyrikgattung gleichermaßen meisterhaft. Zum spontanen politischen Scharfblick Adys kam bei Attila József noch hinzu, daß er ein geschulter Marxist war, jahrelang aktives Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei. Seine Lyrik war allumfassend in ihrer Thematik. Er verkündete die Liebe mit ebenso neuen materialistischen Begriffen, wie er die Vorstadt, die Massenbewegungen und den faschistischen Terror darstellte und die die Entwicklung vorantreibenden Kräfte veranschaulichte. In seiner patriotisch-politischen Dichtung griff er zurück auf die wertvollsten nationalen Traditionen und entwickelte sie zu einer neuen Qualität. Er lebte sechs Jahre länger als Petőfi, doch war es ihm nicht vergönnt, den Tod auf dem Schlachtfeld des Freiheitskampfes zu finden, sondern er warf sich – im Ungarn Horthys – unter die Räder eines Güterzuges.
Dennoch schied er nicht so erniedrigt aus dem Leben wie sein jüngerer Dichterkollege Miklós Radnóti, der in den letzten Monaten des Krieges, nachdem er die Hölle serbischer Bergwerke und verschiedener Zwangsarbeitslager kennengelernt hatte, durch Genickschuß endete. Jahre später stieß man auf seine Gebeine in einem Massengrab, zwischen Kleiderfetzen fanden sich seine letzten Gedichte, die von einer neuen, humanen Welt und vom Lebenswillen des Menschen in der Zeit der Vernichtung träumten.
Der zusammenbrechende Faschismus begrub unter sich auch die Überreste des alten Ungarn. Das neue Ungarn schickte sich an, eine lichte Zukunft zu schaffen.

Der Wiederaufbau des Landes ging mit einer gesellschaftlichen Umschichtung einher: dem werktätigen Volk eröffnete sich eine weite Perspektive. Gyula Illyés war es, der in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre dem neuen Lebensgefühl wohl beständigsten und dichterisch reifsten Ausdruck verlieh. Er, der früher die Armut und Unterdrückung der Landbevölkerung so ergreifend geschildert hatte, prägte jetzt dem Bewußtsein von Generationen die Gestalt des Bauern ein, der endlich seinen eigenen Boden pflügt; er gab dem Zimmermann Gestalt, der singend ein Dach ausbessert und mit seiner morgendlichen Fröhlichkeit das ganze Haus weckt; er besang die neu errichteten Mauern, die Drähte und Kabel im gesamten Land, die Menschen, die all dies schufen. Die Lyrik von Gyula Illyés umfaßte alle konstruktiven Momente des menschlichen Lebens; seine Dichtung erhob sich, vor allem in jüngster Zeit, in die Sphäre einer philosophischen Gedankenlyrik, die sich in erster Linie jedoch nicht im Begrifflichen, sondern in einer suggestiven Bilderfolge offenbart. Als der anerkannte Repräsentant der bewährten älteren wie auch der jüngeren Dichtergeneration Ungarns der letzten zwanzig Jahre vertritt er in diesem Band die lebendige Gegenwartslyrik, der, um ihrer Vielfalt gerecht zu werden, ein besonderer Auswahlband gebührte. Denn die Dichtung des sozialistischen Ungarn blieb ihrer großen Vergangenheit treu und erfüllte zugleich die Aufgaben des neuen historischen Zeitalters.
Es gehört zur Tradition der ungarischen Poesie nicht nur die Ereignisse der nationalen Entwicklung, sondern auch die Weltgeschichte zu verfolgen. Der engagierte ungarische Dichter fühlte sich in der jüngsten Vergangenheit besonders verpflichtet, Zeuge und Berichterstatter des großen Zeitenwandels zu sein. Gewiß tauchten mitunter beträchtliche Schwierigkeiten auf, es war nicht immer leicht, dieser Aufgabe zu entsprechen. Doch zeigt sich dem Beobachter von heute die Entwicklung der jungen Lyrik und der Literatur Ungarns überhaupt als ein kontinuierlicher Prozeß der die Entfaltung des Menschen in der sozialistischen Gesellschaft widerspiegelt. Vielversprechende literarische Talente aus dem städtischen Proletariat und aus bäuerlichen Schichten erhoben ihre Stimme sie traten in die Fußstapfen namhafter Vorgänger, und sie schlugen auch neue Wege ein. Die Literaturkritik der frühen fünfziger Jahre stellte den Lyrikern vor allem Petőfis Dichtung als maßgebendes Beispiel hin, selbst in bezug auf die Schaffensmethode. Der stärkste Initiator der ungarischen Gegenwartslyrik ist wohl Attila József, in dessen moderner Dichtung Petőfis Erbe am deutlichsten erkennbar wird. Dieses Erbe findet man aber ebenso in der neuesten ungarischen Poesie, bei der sich exakte Beobachtung der Realität mit intellektueller Schärfe paart, es stellt eine neue Form des lyrischen Realismus dar, der zusammen mit der Anteilnahme am öffentlichen Leben für die gesamte Entwicklung der ungarischen Lyrik charakteristisch ist.

Es besteht kein Zweifel, daß die Dichtung in der Geschichte Ungarns eine wesentlich wichtigere Rolle spielte als bei so manch größerer Nation, die im Verlauf ihrer Geschichte mehr Raum und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung besaß. Vielleicht resultiert auch der im allgemeinen ernste, manchmal feierliche Tenor der ungarischen Lyrik gerade aus dieser Tatsache. Nach wie vor besteht auch ein enges Wechselverhältnis zwischen Dichter und Öffentlichkeit: Petőfis Verse wurden seinerzeit nicht nur von literarischen Kreisen begeistert gelesen, auch der adelige Landtag nahm sie zur Kenntnis, das Volk hörte des Dichters mahnende Stimme. Vom Ende des 18. Jahrhunderts an war die Dichtung eine öffentliche Angelegenheit, ein Bestandteil des nationalen Lebens. Und so ist es auch heute noch.
Kaum eine andere „kleine“ Sprache hat eine so reiche und so hoch entwickelte Übersetzungsliteratur aufzuweisen wie das Ungarische. Nachdichten, die Schätze der Weltliteratur vermitteln – das wird gleichsam als nationale Pflicht des Dichters betrachtet, und die führenden ungarischen Lyriker haben Bedeutendes auf diesem Gebiet geleistet. Die Geschichte der Übersetzung ungarischer Dichtung in andere Sprachen ist weniger reich, vielleicht wegen der relativ großen Isoliertheit der Sprache, vielleicht auch, weil gerade Lyrik in eine andere Sprachtradition am schwersten zu übertragen ist. Doch das Werk der Größten durchbrach die Grenzen: Sander Petőfis Lyrik bereits vor hundert Jahren, die Attila Józsefs in jüngster Zeit, vor unseren Augen. In der Vermittlung und Verbreitung der ungarischen Literatur spielte die deutschsprachige Übersetzungskunst von jeher eine vornehme vielleicht sogar die wichtigste Rolle.
Der Dante-Übersetzer Mihály Babits schrieb einmal Nachdichten sei das höchste Opfer, das ein Dichter seinem Volke zu bringen imstande sei; eine Nachdichtung habe für kein Volk mehr Gültigkeit als für das eigene. Dabei ist aber jede Übersetzung auch ein Dienst an dem anderen Volk, eine Geste, welcher Erwiderung, Freundschaft und Dank gebührt.

György Mihály Vajda, Nachwort

 

Glänzende Perlen sind diese Gedichte,

Perlen ungarischer Poesie, die uns vergangene Jahrhunderte naherücken, den Blick weiten für das Sinnen und Trachten, für die Mentalität eines ganzen Volkes. Im Spiegel seiner Dichtung erscheinen Traditionen und Revolutionen, Tragik und Hoffnung, nationale Epochen und menschliche Schicksale. Balladen, Hymnen, Epigramme, Poeme und volksliedhafte Verse singen von der Liebe und von der Allmacht der Natur, klagen von Not und Tyrannei, zeugen von nie erlöschendem Freiheitsdrang, gleichen geschliffenen Klingen im Kampf für Würde und Recht. Mehr als zweihundert erlesene Gedichte von fast vierzig „Sängern der Nation“ führen uns durch die Zeiten, von der Renaissance bis in die Gegenwart. Das Buch birgt nicht nur einen poetischen Schatz, es ist auch, gemessen an seinem Umfang und seiner künstlerischen Wichte, eine einzigartige Auswahl ungarischer Lyrik in deutscher Sprache.

Aufbau Verlag, Klappentext, 1970

 

Fakten und Vermutungen zu György Mihály Vajda

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + ArchivKLGIMDb +
Internet Archive
Zum 75. Geburtstag von Stephan Hermlin: Sinn und Form 1 + 2 + 3
Nachrufe auf Stephan Hermlin: Der Spiegel ✝ Sinn und Form
Zum 100. Geburtstag von Stephan Hermlin: junge welt + der Freitag +
Kölner Stadt-Anzeiger
Zum 25. Todesstag von Stephan Hermlin: nd

 

„Welch eine Abendröte“ Stephan Hermlin – zum 100. Geburtstag eines spätbürgerlichen Kommunisten

 

Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Susanne SchleyerBrigitte Friedrich Autorenfotos +
deutsche FOTOTHEK

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Hermlin, der“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00