Bert Papenfuß & Antonio Saura: Die Mauer

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bert Papenfuß & Antonio Saura: Die Mauer

Papenfuß/Saura-Die Mauer

WACHABLÖSUNG 20111

aaaaaaaaaaNeunzehn Winter,
neunzehn Banner verschlungen über’m Acker,
auf dem sich der gute Fitzliputzli grämt;
dieses ist Ostberlin! /„Dieses ist die neue Welt!“
Nicht die heutige, die schon / Europäisieret abwelkt
aaaaa–“2;
niedergeschlagene Heerscharen, von verzweifelten
aaaaaFrauen getrennt,
spreizen ihre Flügel unterm Herbstlaub, das blakend brennt.

aaaaaaaaaaDas Glück kreischt,
ich kroch aus der Deckung, runter zum Kollwitzplatz;
Händler und Diebe, gierig nach Macht – mein großer Wurf in’ Arsch,
aus und vorbei mit Sengen und Morden randalierender Horden.
Sie roch süß wie die Pfeife, in der man sie rauchen konnte,
in der Walpurgisnacht, Neunzehnhundertzweiundneunzig.
Und die Jahre darauf vor den Schotten der Kommandantur.

aaaaaaaaaaDer kaltblütige Mond,
der Käppen hat die Feierlichkeiten im Griff, denkt er bei sich,
und sinnlos inbrünstig an seine flüchtige Angebetete −
Freies Fluten bricht sich Bahn, Kaiser’s steht in Flammen,
Zivilbullen jagen Kleingewerbetreibende um den Teutoburger.
Jenseits von gut und blond erstrahlt ein tiefschwarzes Gesicht,
der Käppen glaubt immer noch an die Vergeltung seiner Liebe.

aaaaaaaaaaSie rasierten ihren Kopf,
sie war hin- und hergerissen zwischen Staat und Unstaat,
Marstall und Saustall, Korvettenkäppen und Pirat −
der Kradmelder brachte einen toten Sprosser, spreizte sich kurz,
und hatte die Qual der Wahl zwischen Wand und Strang.
Dann sah ich sie noch kurz auf der Treppe, und konnte nicht anders;
ich folgte ihr runter zum Alex, wo sie ihre Burka zerfetzten.

aaaaaaaaaaStaatshörige Arschlöcher,
die Buben und Damen haben den Reichstag verlassen,
zweiundfünfzig Schlawiner defilieren an den Wachen vorbei.
Dort, wo einst Luschen und Ässer die Sau rausließen,
wird jetzt Berliner Luft eingewickelt. Hauptsache,
die Touristen amüsieren sich und machen keinen Krach,
und koksen uns nicht das ganze Strychnin weg.

aaaaaaaaaaIch riß mich zusammen,
fuhr an den Eigentumswohnungen vorbei nach Weißensee,
raus nach Hohenschönhausen, von Seemannsgräbeern zusammengehalten,
hätte ums Verderben gern abtrünnige Priester getroffen, meinetwegen
auch trügerische junge Hexen, szenetypische Päckchen verkaufend,
die ich dir doch ausreichend gegeben hatte. Pustekuchen,
baden sind wir gegangen und zurückgefahren.

aaaaaaaaaaDer Palast des Volkes,
geschliffen von Volksvertretern und dem Volke selber,
durch verkehrsberuhigte Straßen gellt Glockengeheul;
leere Plätze schützen die Erinnerung an Nonkonformismus.
Den Seelen vergangener Zeiten wird Der Produktionsprocess
des Kapitals eingeflüstert, Der Circulationsprocess des Kapitals
und überdies Der Gesammtprocess der kapitalistischen Produktion
bzw. Der Unfug des Sterbens, Der Unfug des Lebens und natürlich
Das Ende Unfugs in der freien Bearbeitung von Sir Galahad.

aaaaaaaaaaSie weckt ihn nach
zweiundsiebzig Stunden, die Sonne knallt runter
auf zerbrochene Ketten, Löwenzahn und Berliner Pilsner.
Sie möchte wissen, welche Maßnahmen er jetzt ergreifen wird,
er zieht sie runter und sie krallt sich in seine Unnatur, seine Bärenhaut
− die ihm schon in Kindergarten, Schule, Lehre, Armee und Strafvollzug
gute Dienste geleistet hatte – und in seine langen verfilzten Locken.

aaaaaaaaaa„,Aha, Vogel‘, sprach er,
,treff ich dich hier? Du hast mich gehabt, jetzt hab ich dich‘,
ließ geschwind den Deckel fallen, schürte das Feuer und legte noch frisch zu.“3
Ich bauche eure Organisation nicht, ich hab eure Botten gewichst,
hab eure Berge versetzt, Brücken gebaut und Karten gezeichnet;
aber Pankow brennt, entweder werdet ihr in den Boden gestampft,
oder aber eure Herzen müssen den Mut zur Wachablösung haben.

aaaaaaaaaaWenn Blut dicker als Wasser ist
und „Freiheit wichtiger als Verwandtschaft“4,
dann ist Freiheit die Wahl zwischen Wasser und keinem Wasser.
Und da wir keine Frösche sind, nehmen wir kein Wasser in den Mund.
„A fine little girl she waits for me / Me catch a ship for cross the sea.
Me sail that ship all alone / Me never think how I make it home […]
Ah, on that ship I dream she there / I smell the rose, ah, in her hair.“5

aaaaaaaaaaIlmarinen,
das gestohlene Glück6ist der Segen der Menschheit,
mehr Erleuchtung als das Nordlicht verdienen wir nicht.
„Me see Pohjola, ah, moon above. It won’t be long, me see me love.
Take her in my arms again, I got her; I’ll never leave again.
Ah, Louhi, Louie, Louie. Sampo, sayin’ me gotta go.
I said we gotta go now, let’s get on outta here.“7

aaaaaaaaaaWenn der Frieden kommt
mit Schnickschnack und Brimborium auf Feuerrädern,
wird er uns nichts bringen als Kehrdreck, den anderen jedoch
die Schleifung ihrer Götzen, grausame Kapitualition,
Verblüffung und Erschrecken: Herz Neun und Pik Zehn
werden die Königin und den König der Schwerter
in die Tasche stecken und ihrer Wege gehen.

 

 

  

Entwicklungslyrikband, der:

Im Gegensatz zu Best of-Alben – die sturkturlos, z.B. chronologisch, alphabetisch usw., die Greatest Hits eines Lyrikers versammeln – das ausgeklügelte Konglomerat einer (oft notgedrungenen bzw. -ersehnten) sog. Lebenslüge (siehe Autobiographie, S. 59), das eine vorgebliche „Entwicklung“ eines Dichters darstellt. Lyriker neigen dazu, jeweilige kreative Phasen ihres Schaffens (unter Auslassung aller Aus-Zeiten, s. S. 56) als bahnbrechend evolutionär auszugeben. Geborene Arschlöcher (oft prädestinierte Entwicklungslyriker, s. S. 232 – Beispiele gibt’s noch und nöcher), hingegen gestehen hin und wieder, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, räumen Entgleisungen ein, beißen sich ins Bein, wollen dabei sein und scheren aus, über die Stränge von Erwartungen zu schlagen, die kaum den Richtigen (s.  S. 667) treffen; manchmal jedoch ihr Publikum finden. Das Entwicklungsprinzip verlangt, vom Urpsrung auszugehen und nach Irrungen, Scheinlösungen und alternativen ouroboroid zu ihm zurückzukehren. Als mißlungene Versuche gelten alle bisherigen. Als halbwegs gelungenes Beispiel gilt Die Mauer von Bert Papenfuß (ex-Gorek, ex-Papenfuß-Gorek; s. S. 506), ein Konvolut, das konkordial durch die Bildkunst von Antonio Sauruas Mauerzyklus (s. S. 402) getragen wird. – „Hauptsach’, es rockt der Band und steht wie eine Wand“, wirft beschwichtigend der Volksmund ein.

Eintrag aus: Diktatorenkollektiv (Hg.). Lohn und Sanktion. Wie wir sprachen – was wir wurden. Lexikon und Idiotikon der Prenzlauer Berg-Untertagesprache. Gesamtverlag Staatssekreatriat für ostdeutsche Antworten, Berlin, 2013, S. 233

Mauerzyklus, der:

Mehr oder weniger beholfene Serie von Reaktionen auf physisches und psychisches Eingesperrt- bzw. Unwohlsein, künstlerisch oder (direkt) persönlich (also handgreiflich – „er/sie/es hat seinen Mauerzyklus“) ausgedrückt. Nach 1933 in Deutschland literarisch ungelungen. In der bildenden Kunst stellt Cornelia Schleimes sog. „Stasi-Serie“ Bis auf weitere gute Zusammenarbeit, Nr. 7284/85 von 1993 eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Der große Wurf gelang jedoch dem spanischen Maler Antonio Saura (1930–1998) mit einem 1985 in Westberlin entstandenen Zyklus von Zeichnungen und Fotoübermalungen unter dem Titel Die Mauer.

 

Editorische Vorbemerkung

1985 organisierte das Kunstamt Wedding (Berlin) eine Ausstellung der Arbeiten auf Papier von Antonio Saura. Der Künstler wurde bereits ein Jahr zuvor gebeten, sich mit der Berliner Mauer zu befassen. Er nahm diese Herausforderung an und so entstanden zwei Zyklen, Die Mauer 1 und Die Mauer 2, mit insgesamt 59 Übermalungen von Fotografien, acht eigenständige Arbeiten auf Papier sowie einer Handvoll übermalten Postkarten.
Der Dichter Bert Papenfuß (Berliner) hat sich bereit erklärt, diese von Saura übermalte Mauer mit eigenen Texten zu begleiten. Daraus entstand das vorliegende, durch und durch glücklich und zyklisch gefügte Buch.

Bernard Dieterle, Vorwort

 

Inhalt

Künstlerische und poetische Auseinandersetzung mit dokumentarischen Fotografien zur Berliner Mauer.
Vier Jahre vor ihrem Fall setzte sich der spanische Künstler Antonio Saura (1930–1998) mit der Berliner Mauer auseinander. 1985 entstanden zwei Zyklen aus 62 Übermalungen von überwiegend schwarz-weißen und wenigen farbigen Fotografien, 8 eigenständigen Arbeiten auf Papier und einer Handvoll übermalter Postkarten. Der Lyriker Bert Papenfuß (*1956 in Stavenhagen) stellt diesen Werken jetzt Gedichte, Aphorismen und Prosastücke gegenüber. Seine teils geschichtsbezogenen Texte reflektieren einerseits die fotografischen Spuren des Kalten Kriegs, die durch Sauras partielle Übermalungen der Fotos nur umso prägnanter hervorstechen, und behandeln andererseits das Mauerthema in einem übergreifenden Sinne. Während Papenfuß mit Worten ein Schriftbild „malt“, „spricht“ Saura in Farbe, Form und Komposition, sodass in doppelter Hinsicht ein radikal ästhetisches Zeitdokument über die Berliner Mauer entsteht.

Hatje Cantz, Ankündigung

 

Bert Papenfuß / Antonio Saura – Die Mauer

Irgendwo auf Pjotr Kropotkin (Der Anarchismus) sitzt und zwischen Alfred Jary (König Ubu) und Ernst Jandl (Laut und Luise) schreibt Bert Papenfuß, bis 1990 Underground-Arbeiter für Sprache und Musik im Prenzlauer Berg der DDR. Schreibt sich in seinen Wortdschungel hinein oder heraus, an dessen Wort-Schlingpflanzen wir uns empor oder herunter hangeln, auch gleiten lassen können mit der vagen Aussicht, das obere oder untere Ende, gar den Ausgang zu finden, zu erwischen. So bleiben wir öfter einmal hängen, schauen uns um, verstehen dies, jenes nicht, glauben verstanden zu haben, erkennen uns, eine Situation wieder, bewegen uns in expressionistisch gegründetem, anarchisch-anarchistischem Textgestrüpp ein wenig verloren, auch ratlos. Die Lehrerfrage: Was sagt uns der Dichter? hilft nicht weiter und wir verstehen nun Sitzenbleiber, die, sich bemühend, doch zu wenig verstanden haben. Liegt das an uns, am Autor? Eine Interpretation dieser Texte? Verweigert. Frustration? Dann nicht, wenn wir uns von Papenfuß’ (meist in Kleinstverlagen oder von Galerien publizierten) Texten, Wortbildern aus den zwanzig letzten Jahren hin- und herwerfen lassen, sie annehmen, dabei diesen Notanker immer im Kopf: Wir werden nicht alles verstehen.
Denn auch dieser Wortkünstler versteht nicht alles und will eines gar nicht verstehen: Die Realitäten der Deutschen Demokratischen und Bundes-Republik mit ihren Normen, Ordnungen, Grenzen, ja Mauern. Er schreibt dagegen an, entwirft Gegenbilder, provoziert mit der Anti-Realität seiner subjektiven Normen die als Herausforderung verstandene normative Kraft des Faktischen (in beiden Republiken), so wie alle Boheme vor ihm und, in diesem Buch, Antonio Saura mit ihm: auch dessen, dafür nur ein Beispiel, an Dalis Schnurrbart erinnernder amorpher schwarzer Farbtupfer mitten über dem schräg von oben farbig fotografierten eingemauerten Brandenburger Tor sprengt die Mauer-Grenze, erkennt sie nicht an und siehe da: Es gibt sie gar nicht, kann sie gar nicht geben, und sie wird, was sie immer auch war, unwirklich. So entsteht hier jener Seh-Raum von und für Entgrenzungen, in dem Reales und Irreales als nicht mehr voneinander getrennt sondern miteinander verbunden verstanden werden können: Ein Lehrstück und, mit Papenfuß’ Texten zu Sauras 59 optisch-visuellen Übermalungen meist schwarz-weißer Mauer-Fotografien, eine gelungene doppelte Symbiose. Für etablierte Anarchisten ein Tea-Table-Buch. Und ein Buch für all jene, die überzeugend gestaltetes künstlerisch Subversives, Provokatives, auch Unvollendetes, reizt.

Rückblick:
Berlin-West 1985, Beginn der Hochzeit der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Mauer. Die hier 2012 vorliegenden 59 übermalten Mauer-Fotografien Antonio Sauras werden erstmals publiziert (Antonio Saura. Arbeiten auf Papier aus dreißig Jahren / Berlin-Serie, herausgegeben vom Kunstamt Wedding/Galerie Stadler, Paris. Berlin 1985; Deutsch-Französische Gesellschaft Berlin e.V., 121 Seiten; 650 Exemplare; Ausstellungskatalog) und im Haus seines Auftraggebers, dem Kunstamt Wedding, ausgestellt. Im gleichen Jahr veröffentlicht Bert Papenfuß (mit Sascha Anderson und Stefan Döring) „15 deutsche Sonette“ unter dem mehrdeutigen Titel ich fühle mich in grenzen wohl (Berlin-Kreuzberg, Mariannen-Presse; 230 Exemplare).

Wolfgang Schmidt, kunstbuchanzeiger.de, 25.9.2012

Buchempfehlung

Ein Buch, das Unglück, Gräuel, Hässlichkeit verführerisch schön und geistreich ins Kunstwerk transformiert: die übermalten Fotografien und Postkarten des spanischen Künstlers Antonio Saura zeigen die Berliner Mauer als schwarztintige Goya-Gegend in jäher Zäsur neben den Freiheitslichtern Westberlins, am schönsten die Luftnummer des Dädalus hoch über dem bleiernen Todesstreifen. Daneben in Einklang und Widerspruch mit dem 1998 verstorbenen Maler die Gedichte und Prosa des Ostberliner Lyrikers Bert Papenfuß, der die Fahne der Anarchie hochhält, vor und erst recht nach dem Fall der Mauer.

Sibylle Cramer, SWR, 24.5.2013

„Anarchistische Sprachakrobatik“

Klein- und Kleinstverlage sind das Biotop des Kneipenkapitäns und Autors Bert Papenfuß, der schon zu Zeiten der demokratischen Republik als Anarchist gelebt haben soll. In der Nachwendezeit begann dann seine öffentliche Phase mit dem Publizieren von Kleinbüchern. Seinem Publikum vermittelte Papenfuß das Gefühl, der Umfang seiner einzelnen Werke sei aus reiner Menschenliebe gering gehalten, denn mehr als ein paar Seiten einsturzgefährdeter Sprachakrobatik und granatengenialen Rumpöbelns erträgt schließlich auch der Wessi nicht. Nun aber ist es mit der Rücksicht vorbei, und Papenfuß fällt den Lesern mit einer Best-of-Papenfuß-Schwarte in den Rücken, kugelsicheres Hardcover bei Hatje Cantz inklusive, Titel: „Die Mauer“. Die Hälfte der Attacke überlässt er – ein Akt der Gnade – Antonio Saura, dem Bruder des Filmemachers Carlos Saura, der 1985 Fotos der Berliner Mauer in seinem typischen Graustufenstil übermalt hatte. Mauerposten werden da durch Farbkleckse in den Tod gestürzt, Alienköpfe auf S-Bahnfahrer gesetzt oder der Himmel über Berlin melasseartig ins Niemandsland gekippt. Eines haben der fratzenspezialisierte, kunstbetriebkompatible Spanier und der Berliner Dauerallergiker (neben der Diktaturerfahrung) dabei gemeinsam: Sie rhythmisieren ihr Material mit sogartiger Treffsicherheit. „Wer daran will löten, / bange um seine Klöten.“

Astrid Kaminski, Berliner Zeitung 9.2.2013

 

Die Prenzlauer Berg Connection: Die machen alle weiter

– Interview mit Bert Papenfuß (Literat, Mitbetreiber der Kulturspelunke Rumbalotte Continua). –

Anne Seeck: Wann war denn die Geburtsstunde der Prenzlauer-Berg-Szene und seit wann warst du dabei? Wie entwickelte sich die PB-Szene?

Bert Papenfuß: Der Begriff Prenzlauer Berg Connection ist relativ spät entstanden. So ’82, ’83. Er stammt von Adolf Endler, der auf einer Auslandsreise war und uns als Prenzlauer Berg Connection, bezeichnet hat. Das westdeutsche Feuilleton hat das dankend aufgenommen. Die Leute der Prenzlauer Berg Connection, die Literaten und Künstler meiner Generation, wir haben uns Ende der siebziger Jahre kennengelernt. Da gab es ab ’77 ungefähr einen Jugendclub in der Bödicker Straße. Dort fanden Konzerte, Performances, auch Lesungen statt. Den Club gab es nicht lange, vielleicht ein, zwei Jahre. Der Kulturdirektion war aufgefallen, dass der Club ein Ort abweichender Kultur war. Aus irgendwelchen, wahrscheinlich vorgeschobenen sanitären Gründen haben sie ihn dann geschlossen. In Prenzlauer Berg gab es tägliche Treffpunkte, Kneipen. Das Wiener Café in der Schönhauser Allee, Mosaik in der Prenzlauer Allee, Fengler in der Lychener Straße. Natürlich sind wir auch in normale Eckkneipen, da wo wir gewohnt haben.
Zuvor in den siebziger Jahren spielte das Kaffee Burger eine große Rolle. Die Techniker der nahe gelegenen Volksbühne kamen ins Kaffee Burger. Das war ein typischer Subkulturjob. am Theater zu arbeiten, als Bühnenarbeiter, Beleuchter. Dort war ich auch jahrelang, Tontechniker und Beleuchter. Autoren wie Adolf Endler, Thomas Brasch und Klaus Schlesinger gingen ins Kaffee Burger. Das war keine klassische Szenekneipe, sondern eine normale offene Kneipe, wo dann auch Künstler und Intellektuelle rumsaßen. War ganz interessant.

Seeck: Wie drückte sich euer „Anderssein“ in dem Staat aus? Wie habt ihr den Ausstieg aus dem System praktiziert?

Papenfuß: Das begann schon damit, dass manche von uns gar nicht erst in das System eingestiegen sind. Es gab natürlich einige, die ihren Weg gegangen sind, den normal vorgezeichneten sozialistischen Weg. Die Berufsausbildung oder Abitur gemacht haben. Studiert haben. Zur Armee gegangen sind. Und dann mit Mitte 20 ein kritisches Bewusstsein entwickelt haben. Es gab andere, die gar nicht erst den vorgezeichneten Weg eingeschlagen haben. Ich bin zum Beispiel schon von der Oberschule geflogen, nach der zehnten Klasse, durfte kein Abitur machen. Und habe dann eine Lehre gemacht. Da war schon irgendwie klar, dass…

Seeck: Du warst ja auch Bausoldat.

Papenfuß: Ich wollte mit dem System nichts zu tun haben. Die Ablehnung dem System gegenüber war aber selten eine totale. Es gab ein Grundverständnis für das sozialistische Modell, aber es wurde schlecht praktiziert. Das ist kein Sozialismus. Das ist die Diktatur einer Parteibürokratie. Es wurden verschiedene Analysen diskutiert, aber meistens lief es auf eine Parteidiktatur hinaus, die völlig unflexibel war. Selbst wenn man den Funktionären eingesteht, dass sie eine schwierige Kindheit hatten, im Dritten Reich aktiv gegen die Nazis gekämpft hatten, im KZ, Gefängnis oder Exil waren, trotzdem hatten die eine Hacke und waren unflexibel gegenüber einer Jugendkultur. Dieses Aufbegehren der Jugend war das Aufbrechen einer Generation, das fand weltweit im Osten und Westen statt. Natürlich spielten dabei Kunst, Musik, Literatur eine große Rolle. Es gab Parameter, über die man sich verständigen konnte, die sich an kulturellen Sachen orientierten.

Seeck: Und wie seid ihr mit dem System kollidiert?

Papenfuß: Das begann schon damit, dass man Ärger mit den Bullen auf der Straße hatte. Erst waren es die langen Haare, später die kurzen Haare, erst der Parka, dann die Lederjacke. So Äußerlichkeiten. Despektierliches Verhalten gegenüber staatlichen Symbolen. Oder man hat sich zu nah an Grenzgebiete getraut. Da wurde man kontrolliert. Eine patzige Antwort und man saß eine Nacht im Knast. Solche Erfahrungen haben alle nach und nach gemacht. Das staute sich dann über die Jahre als Unmut an und da versucht man, andere Modelle zu entwickeln. Die Hippiekultur der siebziger Jahre fächerte sich im Westen später breit zur Alternativkultur auf. So war es hier ähnlich. So gab es hier die ganzen Friedensheinis, die sogenannten Bürgerbewegten, mit denen wir uns nicht so toll verstanden haben. Die hatten kein Herz für Avantgardekultur, für Hardrock, für Punkrock. Sie waren eben Peacer, christlich zum Teil.

Seeck: Ihr habt euch eine subkulturelle Infrastruktur geschaffen, wie Galerien, Leseabende usw. Hatte das nicht auch etwas mit dem Verfall der Altbausubstanz in Prenzlauer Berg zu tun, wo die Subkultur sich Freiräume eroberte und der Staat den Überblick verlor?

Papenfuß: Das war schon seit den fünfziger Jahren so. Die Generation vor uns, Adolf Endler und so. Die sind hierher gezogen. Weil hier relativ viele Wohnungen leer standen. Es war viel zerstört. Es war ein Arbeiterbezirk. Es herrschte überall Wohnungsmangel aber hier gab es welche. Die Kommunale Wohnungsverwaltung (KWV) in dem Bezirk war ein bisschen schlampig und man konnte Wohnungen besetzen. Das fing schon bei der Generation vor uns an. Wir haben das in den siebziger Jahren weitergemacht, manchmal auch Wohnungen von Älteren übernommen. Zum Teil wohnten die Etablierten wie Karl Mickel oder Heiner Müller im Grünen oder in „schicken“ Neubauwohnungen. Und da zog dann eine Generation nach. Ein Teil der bildenden Künstler war auch im Verband Bildender Künstler. Damit hatten sie ein Anrecht auf ein Atelier, die wurden dann für Veranstaltungen, Lesungen, Konzerte usw. genutzt. Es gab auch eine Verbindung der Künstler untereinander. Wenn ein Maler ausstellt, wird auch ein Dichter und eine Band eingeladen.

Seeck: Es ist viel in Wohnungen abgelaufen. Aber in Kirchen doch auch.

Papenfuß: In größeren Wohnungen und vorzugsweise in größeren Ateliers. Und teilweise in kirchlichen Räumen. Es gab die evangelische Studentengemeinde. Es gab Diakone, die sehr mutig waren – auch gegenüber ihren vorgesetzten Kirchenheinis – und viel durchgesetzt haben für Randgruppen, z.B. Punks, Künstler, Behinderte, Alkoholiker. Die Kirche hat teilweise die Räume für solche Zusammenhänge geöffnet und es fanden dort Veranstaltungen statt. Es gab hin und wieder Komplikationen, man durfte in der Kirche nicht rauchen, man sollte nicht trinken. Es war ein bisschen unheimlich und steif. Oft wurden Gebete gesprochen, so wurden Veranstaltungen als Gottesdienste getarnt usw. Aber dennoch gab’s das.

Seeck: Wart ihr unpolitisch, wie manchmal behauptet wird? Oder habt ihr euch als Staatsfeinde gesehen? Wird ja unterschiedlich gewesen sein.

Papenfuß: Das war sehr unterschiedlich. Wir haben viel darüber gesprochen. Es gab schon Leute, die im westdeutschen Modell die Alternative gesehen haben. Die hatten sozialdemokratische Positionen inne. Und es gab Leute, die sich als wahre Kommunisten bezeichnet haben, im Gegensatz zur Perversion in der Sowjetunion und realen Existenz der Deutschen Demokratischen Republik. Und es gab auch klassische Staatsfeinde, die alles abgelehnt haben. Und es gab Leute, die sich als Anarchisten bezeichnet haben.

Seeck: Ihr hattet doch bestimmt auch mit repressiven Maßnahmen vonseiten des Staates zu tun?

Papenfuß: Ab und zu gab es mal eine Verhaftung und ein paar auf die Fresse. Dann waren die eine Weile weg. Das konnte relativ schnell passieren. Wir haben zum Beispiel Veranstaltungen im öffentlichen Raum gemacht. Da drüben am Wasserturm, auf der Wiese. Da haben wir uns getroffen im Sommer. Jeden Mittwoch um acht. Das hat sich rumgesprochen und die Stasi hat das mitbekommen. Dann bekam man eine Vorladung von der Polizei, zur Klärung eines Sachverhaltes. Da saß ein Mitarbeiter von der Stasi und hat darauf hingewiesen, dass es eine nicht angemeldete Veranstaltung sei, das es verboten sei und nie wieder stattfinden dürfe.

Seeck: Ihr ward ja offiziell nicht als Künstler anerkannt. Wovon habt ihr denn gelebt. Hattet ihr mit dem Asozialengesetz zu tun?

Papenfuß: Hatten wir immer mal wieder. Es gab dann aber Wege, sich da herumzumogeln. Indem man sich pro forma anstellen ließ. Bei Selbständigen. Zum Beispiel Wilfriede Maaß war Keramikerin und hatte fünf oder sechs Angestellte. 1980 bin ich freischaffend geworden. Da brauchte ich der Arbeitspflicht nicht mehr nachkommen, weil ich selbstständig tätig war als Schriftsteller. Das war normalerweise damit verbunden, dass man im Künstler-, in meinem Fall im Schriftstellerverband, war. Ich habe mich auch beworben, die haben mich natürlich nicht aufgenommen. Aber ich war freischaffend.

Seeck: Du musstest keine Einnahmen nachweisen?

Papenfuß: Doch, gegenüber dem Finanzamt. Es gab auch einen Mindestverdienst. Man musste im Jahr mindestens 3.000 Mark verdienen. Das habe ich nie geschafft.

Seeck: Ging aber trotzdem durch?

Papenfuß: Nee, eigentlich nicht. Sie haben das natürlich der Stasi mitgeteilt. Die haben dafür gesorgt, dass der Freischaffendenstatus nicht verlängert wurde. 1984 wurde mir das aberkannt. Später habe ich mich pro forma bei Elke Erb als Sekretär anstellen lassen. Sie war freischaffend. War auch mal im Verband, wurde dann aber wieder rausgeschmissen. Jeder Freischaffende hatte die Möglichkeit, ein bis zwei Angestellte zu haben. Ich war Sekretär bei Elke Erb bis ’89. Bildhauer, Maler hatten pro forma Ateliergehilfen. Das war eine Möglichkeit, um die Arbeitspflicht herumzukommen.

Seeck: Mussten aber nicht auch Leute zum ABV wegen Asozialität?

Papenfuß: Ja, doch, hin und wieder. Die kamen normalerweise vorbei. Oder man musste zur Klärung eines Sachverhaltes hin. Mehr oder weniger witzig. In den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren sind ja noch Leute wegen Asozialität in den Knast gekommen. Diese extreme Bedrohung haben wir so nicht mehr gespürt. Wir haben uns schon manchmal unwohl gefühlt, aber bedroht, Angst vorm Gefängnis deswegen hatten wir nicht.

Seeck: Welche Rolle spielten IM in der Szene? Zum Beispiel Sascha Anderson. Konnten die IM diese Szene nachhaltig beeinflussen?

Papenfuß: Ja, nach der Aktenlage, aus meinen Akten und von Freunden. Sascha hat sehr eifrig alles berichtet, zum großen Teil über Aktionen, die er selbst veranstaltet hat. Direkten Einfluss nicht, sie haben eher Sachen verhindert. Zum Beispiel Schedlinski. Es ging darum, Texte in Westberlin zu veröffentlichen. Das hat Schedlinski gepetzt. Der Herausgeber wurde an der Grenze so gefilzt, dass das Material gefunden wurde. Das passierte schon. Sascha wird vorgeworfen, dass er in Erfurt viel verhindert hat. Leute in bedrohliche Situationen gebracht hat. Für Berlin kann ich das so nicht sagen. In Berlin gibt es diese Anschuldigungen nicht, weder gegenüber ihm noch gegenüber anderen in unserer Szene. Okay. Sie haben gepetzt und dann fanden bestimmte Sachen nicht statt. – Sascha hat ja immer alles mitgeschnitten und teilweise später auch gefilmt. Diese ganzen Dokumente hat er bei der Stasi abgeliefert. Das ganze Bild- und Tonmaterial war noch gar nicht aufgearbeitet, als ich Anfang der neunziger meine Akten gesehen habe. Dürfte noch einiges geben, wäre mal interessant.

Seeck: Ihr ward ja die inoffizielle Kulturszene, gab es nicht auch Schnittmengen zwischen offizieller und inoffizieller Kunst und Kultur?

Papenfuß: Es gab Kontakte zur ganz normalen DDR-Kultur. Wir alle haben uns irgendwann mal an Verlage, an Zeitschriften gewandt, Texte eingesandt, um sie zu publizieren. Wir haben dann Leute kennengelernt, Lektoren, Mentoren usw. Es gab auch eine Poetenbewegung, junge Dichter. Viele sind da eingestiegen, Lutz Rathenow, Stefan Döring. Bei mir war das anders, mit 17, 18 war ich schräg drauf. Dennoch habe ich meine Manuskripte eingeschickt an den Verlag Neues Leben, die hatten eine Reihe Poesiealbum. ’76, ’77 wurde die neue Literaturzeitschrift Temperamente gegründet, die haben ein paar Sachen von mir veröffentlicht. Der damalige Herausgeber Richard Pietraß wurde daraufhin gefeuert. Karl Mickel hat mich unterstützt, war mein Bürge für die Aufnahme in den Schriftstellerverband. Ich wurde aber trotzdem nicht aufgenommen. Christa und Gerhard Wolf haben mich unterstützt. Alle hatten Kontakte zu bekannten mehr oder weniger kritischen Autoren. Heiner Müller hat sich um die jungen Leute gekümmert. Die kamen zu unseren Lesungen und wir sind zu ihren Lesungen gegangen. Elke Erb hat viele neue junge Talente entdeckt.

Seeck: In der DDR gab es ja viel Weltliteratur, auch Druckgenehmigungen für kritische Literatur. Weshalb durftet ihr nicht veröffentlichen? Was war die Begründung?

Papenfuß: Unterschiedlich. In den siebziger Jahren gab es noch den Formalismusvorwurf, der aus den Fünfzigern stammte. Das ist Avantgardekrempel, der passt nicht zu unserer sozialistischen Jugend. Stimmt ja auch. Und dann haben sie immer Stellen in den Texten gesucht, von denen sie dachten, das sei eine verdeckte Kritik am System. Zum Beispiel, dass man nicht ausreisen durfte. Die Stellen waren mehr oder weniger überall zu finden. Aber trotzdem sind Sachen erschienen. Hin und wieder in Zeitschriften wie Sinn und Form. Die auch sehr eifrig diskutiert wurden. War ein Teil unserer kulturellen Diskussion, wir haben uns auch mit den offiziellen Autoren auseinandergesetzt.

Seeck: Ihr wart ja schon relativ früh vor ’89 im Westen bekannt. Kamen da nicht schon Sammler und begann da nicht schon die Vermarktung?

Papenfuß: Das war noch keine Vermarktung. In den achtziger Jahren war es schon so, dass Sammler kamen. Die Präsentation der Prenzlauer-Berg-Szene setzte vor der Wende ein, die Ausschlachtung begann 1990 und endete 1991. Wir hatten relativ früh Reisepässe, ’87, ’88. Fuhren zu Lesungen nach Westdeutschland und in andere westliche Länder. Da gab es schon eine Aufmerksamkeit des westdeutschen Feuilletons. Das setzte sich nach der Wende fort. So ein Jahr lang wurde die Szene verhätschelt, in die Goethe-Institute überall auf der Welt geschickt. Dann kam die Stasi-Enthüllung. Im Prenzlauer Berg betraf es Sascha Anderson und Rainer Schedlinski und ein paar andere. Dann war es vorbei.

Seeck: War der Zerfallsprozess der Prenzlauer-Berg-Szene nicht schon vor ’89?

Papenfuß: Kann man so nicht sagen. Mit der Wende ’89 entstanden neue Treffpunkte, neue Veranstaltungsorte. Es blühte ja kurz auf, bevor es dann ’91 eigentlich komplett einbrach. 1993 haben wir uns dann hingesetzt, was ist jetzt eigentlich, wer arbeitet woran. Wie positioniert sich der Einzelne jetzt zu den Stasimitarbeitern. Was hat das für einen Einfluss gehabt. War schon eine große Irritation. Dann haben wir eine neue Zeitschrift gegründet, die Sklaven. Heute ist das der Gegner.

Seeck: Aber sind vor ’89 nicht viele ausgereist?

Papenfuß: Jede Szene lebt von Fluktuation. Es gab schon deprimierende Phasen, ’82, ’83, ’84, ’85. In den Jahren sind viele Leute ausgereist, aber dann kamen neue Leute hinzu. Auch die, die im Westen waren, verloren ihren Einfluss nicht. Wir haben uns weiterhin mit denen getroffen. Sie durften zwar offiziell nicht einreisen, aber wir haben uns in Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarn getroffen. Die waren nicht wirklich aus der Welt.

Seeck: Wie hast du das mit dem Eingesperrtsein empfunden, als du noch keinen Reisepass hattest?

Papenfuß: Kann man schlecht beschreiben. Ich habe immer verstanden, wenn jemand gesagt hat: Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich will was anderes sehen. Ich habe dann immer gesagt, ja verstehe ich. Du bist Musiker, du musst mal die richtigen Leute sehen. Für mich selber habe ich das nicht so gesehen. Ich hatte das Gefühl, ich setze mich mit Problemen auseinander, die sind hier gewachsen. Ich kann nicht irgendwohin gehen und mir einen angenehmeren Kampfplatz suchen. Ich hatte damals das Gefühl, ich kann nicht den Platz verlassen, auf den ich mich zurecht gestellt fühle.

Seeck: Du wolltest immer in der DDR bleiben?

Papenfuß: Ja, ja. Aber irgendwann hatte ich auch mal die Schnauze voll und habe einen Ausreiseantrag gestellt. Das hatte aber private Gründe. Dann habe ich aber gemerkt, dass das Quatsch ist, habe den wieder zurückgezogen und war total erleichtert. ’86 gab es dann ein Kulturabkommen zwischen der DDR und BRD mit dem Ergebnis, dass auch kritische Autoren zu Lesungen in den Westen kommen konnten. Ich bin ’87 zum ersten Mal in den Westen, zuerst Holland und dann Westdeutschland. Ich hatte einen Reisepass. Eingesperrt, man hat das nicht so als ewig gesehen.

Seeck: Hattest du nicht das Gefühl dass du was versäumst?

Papenfuß: Nee. Für unsere Amüsementsbedürfnisse hatten wir genug zu tun. Da hätte nicht noch mehr sein müssen. Na klar, da spielt im Westen die Band, da würde ich auch mal gern hingehen. Als ich ’87, ’88 in Westberlin war, habe ich meine Kumpels getroffen. Die hatten gar kein Geld, um zu den Konzerten zu gehen.

Seeck: Apropos Musik. Du hast ja auch in der Punkband Rosa Extra gespielt.

Papenfuß: Ich habe Gitarre gespielt. Und gesungen. Konnte aber den Rhythmus nicht halten. Als ich dann ausgestiegen bin, habe ich Texte für sie geschrieben und bearbeitet. Oder die haben meine Texte genommen. Oder wir sind zusammen aufgetreten, ich habe gelesen und sie haben gespielt. Die Verbindung war immer da. Wir haben zusammen gelebt und zusammen gearbeitet. Das war 79 so und geht bis heute, wir arbeiten immer noch zusammen.

Seeck: Und wann begann dann deine Literaturbegeisterung? Gab es Schnittmengen zwischen der Punk- und Prenzlauer-Berg-Szene?

Papenfuß: Ich habe Anfang der siebziger Jahre begonnen zu schreiben. Das hatte auch mit Musik zu tun. MC5, Ton Steine Scherben. Ab ’80, ’81 waren immer Punkbands bei Lesungen, Veranstaltungen mit dabei. Sie gehörten zur Boheme oder zum Umfeld der Boheme. Teilweise waren es auch die Kinder, zum Beispiel die Kinder der Fotografin Helga Paris.

Seeck: Zu DDR-Zeiten war der Prenzlauer Berg eine Insel der Unordnung. Wie siehst du den Prenzlauer Berg heute?

Papenfuß: Siehst du ja selber. Ich will dazu nichts mehr sagen. Ich wohne nicht mehr hier. Aber es wohnen noch 200, 300 aus unserem Umfeld hier. Deshalb hat es Sinn, hier eine Kneipe zu machen. Im Kaffee Burger hat uns die Kommerzialisierung überrollt. Da habe ich jahrelang mitgespielt, aber dann konnte ich nicht mehr, bin ausgestiegen und habe diesen Laden aufgemacht.

Seeck: Wie hat sich die Rolle des Künstlers verändert zu damals? Was macht die Szene aktuell?

Papenfuß: Der Anspruch im Osten war, sowohl auf der offiziellen und inoffiziellen Seite, mit Kunst in den gesellschaftlichen Prozess einzugreifen. Ich glaube, das ist heute noch so bei vielen Autoren, die ich kenne. Mit zunehmend geringerem Einfluss. Die Gespräche, die ich ’87, ’88 im Westen führte, die kamen mir vor wie Feuilletongewäsch. Das Feuilleton ist eine eigene Welt, in der du dich einrichten und von der du gut leben kannst. Ich habe es nie gewollt. Viele Freunde sehen das ähnlich. Natürlich mosern einige heute rum, ich bin völlig vergessen und habe kein Geld mehr, Hartz IV und so. Die sind für den Anpassungsprozess und den westlichen Kulturbetrieb nicht gemacht. Es gibt natürlich einige, die sich darauf eingelassen haben. Wir reden mit denen. Guck dir Rammstein an. Das ist eine andere Welt. Nur wenige haben sich ganz zurückgezogen. Es gibt diverse Zeitschriften, Lesereihen, Galerien, ein Punkarchiv usw. Die machen alle weiter.

Aus Anne Seeck (Hrsg.): Das Begehren, anders zu sein, UNRAST-Verlag, 2012

 

 

Mark Chaet & Tom Franke sprechen mit Bert Papenfuß im Sommer 2020 und ein Auftritt mit Herbst in Peking beim MEUTERLAND no 16 | 1.5.2019, im JAZ Rostock

 

Kismet Radio :: TJ White Rabbit presents Bertz68BirthdaySession_110124_part 2

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Lorenz Jäger: ich such das meuterland
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.1.2016

Zeitansage 10 – Papenfuß Rebell
Jutta Voigt: Stierblut-Jahre, 2016

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Thomas Hartmann: Kalenderblatt
MDR, 11.1.2021

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Einladungskarte zur Beerdigung von Bert Papenfuß

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Nachrufe auf Bert Papenfuß: FAZ ✝︎ taz 1 & 2 ✝︎ BZ 1, 2 & 3 ✝︎
Tagesspiegel ✝︎ LVZ ✝︎ telegraph ✝︎ lyrikkritik 1 & 2 ✝︎ NDR ✝︎
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artour ✝︎ Fotos

 

 

 

Nachruf auf Bert Papenfuß bei Kulturzeit auf 3sat am 28.8.2023 ab Minute 27:59

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Papenfuß-Gorek“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Bert Papenfuß

 

Bert Papenfuß liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.

 

Bert Papenfuß, einer der damals dabei war und immer noch ein Teil der „Prenzlauer Berg-Connection“ ist, spricht 2009 über die literarische Subkultur der ’80er Jahre in Ostberlin.

 

Bert Papenfuß, erzählt am 14.8.2022 in der Brotfabrik Berlin aus seinem Leben und liest Halluzinogenes aus TrakTat zum Aber.

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