Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie
Teil 9 siehe hier …
Venus, Eva, Apoll, Prometheus, Ikarus, Goliath und viele andere mythische Gestalten, dazu historisch fassbare Helden, Herrscher, Heerführer oder Päpste – sie sind das geläufige Personal der Bilddichtung, doch sie werden, ebenso geläufig, ergänzt durch namenlose Figuren, die emblematisch für immaterielle Phänomene einstehen, etwa für den Tag, die Nacht, den Frühling, die Sehnsucht, die Einsamkeit, den Krieg, die Pest, den Tod.
Der Tod als klischeehaft wiederkehrender Knochenmann, Dürers «Melencolia», Botticellis «Primavera», Böcklins «Pest», Munchs «Angst» oder «Pubertät» und häufig wiederkehrende Figuren wie Amor (für Liebe), Psyche (für Seele), Nike (für Sieg) sind beispielhaft dafür.
Im europäischen Bildgedicht haben derartige abstrakte Figuren ihren festen Platz, nicht nur als konkrete (konkretisierte) Gestalten, auch als körperlich veranschaulichte Ideen oder Vorstellungen – Fantasiegebilde sind sie allemal. Hier, exemplarisch dafür, ein Vierzeiler von Giovanni Strozzi «Auf die Nacht des Buonarroti», abgefasst 1545 in gereimten Versen, bezogen auf Michelangelos Grabskulptur «La Notte» (1526) in San Lorenzo, verdeutscht von Rainer Maria Rilke:
Die Nacht, die du hier siehst im Gleichgewicht
des schönen Schlafes, bildete im Stein
ein Engel. Schlaf heisst ihr Lebendigsein.
Wenn du’s nicht glaubst, so weck sie auf: sie spricht.
Michelangelo Buonarroti hat im selben Jahr 1545 auf Strozzis Verse geantwortet, ebenfalls in Versen – sicherlich ein singulärer Vorgang: Der Schöpfer des Bildwerks repliziert auf ein darauf bezogenes Bildgedicht wiederum mit einem Gedicht («Die Antwort», deutsch von Rilke), das die Motive Stein und Schlaf noch einmal aufnimmt, dies aber aus der Sicht der Skulptur selbst tut, die eigentlich gar nicht besprochen – und dadurch «geweckt» – werden möchte; sie will und soll ein Objekt der Anschauung, nicht der Analyse sein:
Schlaf ist mir lieb, doch über alles preise
ich, Stein zu sein. Währt Schande und Zerstören,
nenn ich es Glück, nicht sehen und nicht hören.
Drum wage nicht zu wecken. Ach, sprich leise!
In einem davon unabhängigen Sonett wendet sich Michelangelo an die Nacht als solche, er spricht sie mit «du» an, assoziiert sie mit Schwärze, Schatten, Trauer und Tod, rühmt sie aber auch als Quelle von Ruhe, Frieden, Hoffnung und als Garant der Versöhnung («An die Nacht», deutsch von Edwin Redslob):
O NACHT, trotz Deiner Schwärze süße Zeit,
Die alles Tun zum Ziel des Friedens führt,
Gut sieht, wer Dein erhabnes Sein verspürt,
Gut denkt, wer Deinem Ruhm die Stimme leiht.
Du löst des Denkens tiefe Müdigkeit,
Dein Schatten spendet Ruhe, mild und kühl.
So hebst Du mich aus irdischem Gewühl
Empor, wo Traumes Hoffnung mich befreit.
Du Schattenbild des Todes, vor Dir endet
Der Erde Qual und alles, was uns Feind,
Du machst dem Traurigen die Schmerzen linde,
Du bist’s, die krankem Leib Gesundheit spendet,
Du stillst die Tränen, die der Kummer weint,
Daß des Gerechten Zorn Versöhnung finde.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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