Torsten Hoffmann: Rainer Maria Rilke

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Torsten Hoffmann: Rainer Maria Rilke

Hoffmann-Rainer Maria Rilke

RILKE. BESITZLOS DICHTEN

Rainer Maria Rilke wollte besitzlos dichten. Zeitlebens besaß er kein Haus und keine Wohnung. Abgesehen von den ersten elf und den letzten fünf Jahren seines Lebens hat er kaum einmal länger als ein oder zwei Jahre am selben Ort gewohnt. Allein in Paris, der Hauptstadt der Moderne, die ihn anzog wie keine andere Stadt und in der er zwischen 1902 und 1925 immer wieder für mehrere Monate lebte, wohnte er in einem Dutzend unterschiedlichen Unterkünften. Nur wenige Dinge begleiteten ihn auf seiner nomadischen Existenz. Schon früh verschenkte er selbst seine Lieblingsbücher gerne an Freunde. Fünf Jahre vor seinem Tod nach einem Detail seiner Neuen Gedichte gefragt, konnte Rilke sich nur grob erinnern, da er seine Bücher „nie zur Hand habe“ (B 2, S. 155).
Als er nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Paris nicht besuchen konnte, wurden im April 1915 seine dort zurückgelassenen Habseligkeiten versteigert, um die Mietschulden zu begleichen (einiges hat er 1925 zurückerhalten, anderes tauchte erst nach seinem Tod bei einer Berliner Auktion wieder auf). Rilke reagierte gelassen. Da er nun „ungefähr alles, was ich besaß, wirklich verloren habe“, sei seine unbehauste Lebenssituation „gewissermaßen noch wahrer geworden“ (Rilke/Thurn und Taxis 1986, Bd. 1, S. 438). Weiter heißt es in dem Brief an seine wohlhabende Freundin und Gönnerin Marie von Thurn und Taxis:

Sie wissen, daß ich das nicht schwer nehme, längst war ich geneigt, alles, was sich in den zwölf Jahren in Paris um mich angesetzt hatte, als Nachlaß des M. L. Brigge anzusehen (ebd.).

Rilkes einziger Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge war 1910 erschienen und gilt als erster moderner Roman der deutschsprachigen Literatur. Wenn der Autor den versteigerten Pariser Hausrat als Eigentum seiner Romanfigur Malte Laurids Brigge bezeichnet, ist das symptomatisch für die in Rilkes Fall äußerst enge Verbindung zwischen Dichtung und Leben, zwischen Poetik und Existenzentwurf. Was der nach Paris gezogene Malte über sein Leben sagt, gilt im Wesentlichen auch für Rilke:

Und man hat niemand und nichts und fährt in der Welt herum mit einem Koffer und mit einer Bücherkiste und eigentlich ohne Neugierde. Was für ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne Hunde. (KA 3, S. 464)

 

„Komposite Heimat“

Immer wieder schreibt der in Prag geborene (und Hunde liebende) Autor von seiner „haltlosen Heimatlosigkeit“ (B, S. 143). Allenfalls für Russland, das er auf zwei längeren Reisen 1899 und 1900 besucht hatte, empfand er so etwas wie Heimatgefühle – allerdings für ein von Rilke (wie von vielen seiner Zeitgenossen) stark idealisiertes Russland, das wenig mit den damaligen Lebensrealitäten zu tun hatte. Bis zu seinem Tod 1926 hat er es nicht wiedergesehen, und auch seine Geburtsstadt besuchte er nach 1897 nur selten und kurz, ab 1911 gar nicht mehr. In optimistischeren Momenten spricht er von seiner „kompositen Heimat“, seinen „Wahlheimaten“, die er sich „gewissermaßen über den Ländern“ (Rilke 1937a, S. 399) erworben habe.
Obwohl er längere Zeit in München, Berlin und Worpswede (in der Nähe von Bremen) gelebt hatte, empfand er sich (so schreibt er 1915 und öfter) „in keiner Weise“ als Deutscher – und „im Österreichischen ein Zuhause zu haben, ist mir rein undenkbar und unausfühlbar!“ (B, S. 504) Als er 1921 im Schweizerischen Wallis einen kargen mittelalterlichen Wohnturm bezog, den ein Freund ihm zur Verfügung stellte, lobte er die Landschaft, weil sie ihn zugleich an das spanische Bergland und an die französische Provence erinnerte, also mehrere Regionen und Nationen in sich vereinigte. Rilke lebte von nun an bis zu seinem Tod am Übergang von der französisch- zur deutschsprachigen Schweiz. Hatte er zuvor einzelne Gedichte auf Russisch und Italienisch geschrieben, verfasste er in seinen letzten Lebensjahren vor allem französischsprachige Lyrik. Selbst an deutschsprachige Freunde schrieb er seine Briefe nun bisweilen auf Französisch. Er übersetzte – zum Teil umfangreiche – literarische Texte aus acht Sprachen (Französisch, Italienisch, Russisch, Englisch, Dänisch, Schwedisch, Lateinisch, Flämisch und Mittelhochdeutsch), zudem sprach er seit seiner Schulzeit etwas Tschechisch.
Das kosmopolitische Leben hat Rilkes Schreiben tief geprägt. Sein zu Lebzeiten erfolgreichster Gedichtband, Das Stunden-Buch von 1905, ist aus der Perspektive eines russischen Mönchs verfasst, zahlreiche der Neuen Gedichte – darunter das bekannte „Der Panther“ – weisen im Untertitel auf Paris als Entstehungsort hin (wo ihn der Bildhauer Auguste Rodin tief beeindruckte), Malte Laurids Brigge stammt aus einer dänischen Familie, und noch in den späten Duineser Elegien haben Rilkes Aufenthalte in Ägypten, Italien und Spanien markante Spuren hinterlassen; entstanden sind die zehn Elegien in fünf Ländern (Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Schweiz). Wer Rilke liest, ist immer unterwegs.

 

Heimat- und Besitzlosigkeit als grundlegender Zug in Rilkes Werk

Dass sein Schreiben keinen festen Ort hat, gilt aber auch im übertragenen Sinn. Eine soziale, emotionale und intellektuelle Heimat- und Besitzlosigkeit ist die weltanschauliche Konstante seines Werks. „Geistig sowohl wie vielfach körperlich ist mir vorderhand alle Stütze weggenommen, ich halte mich, sozusagen, im Unmöglichen“ (B, S. 504), konstatiert er kurz vor seinem 40. Geburtstag. Rilke hing fast immer in der Luft. Mit traditionellen und kollektiven Identitätsangeboten konnte und wollte er nichts anfangen.
Aus der katholischen Kirche trat er früh aus, und politischen Heilsversprechungen gegenüber blieb er skeptisch (was ihn allerdings nicht davon abhielt, sowohl mit der sozialistischen Münchner Räterepublik als auch kurzfristig mit dem italienischen Faschisten Benito Mussolini zu sympathisieren). Den 1901 begonnenen Versuch, zusammen mit der überstürzt geheirateten Bildhauerin Clara Westhoff (und der sieben Monate später geborenen Tochter) eine bürgerliche Familienexistenz zu begründen, gab er nach gut einem Jahr wieder auf. Sein Kind sah er danach nur noch selten, so wie auch Rilkes Eltern sich früh voneinander und von ihrem Sohn gelöst hatten. Die Familie fiel damit als psychisch-sozialer Stabilisator aus. Zwar stürzte sich Rilke in Dutzende Liebesaffären, ertrug aber auch diese – bisweilen verzweifelt gesuchte – Nähe kaum einmal länger als ein paar Wochen. Stattdessen sympathisierte er mit einer ,intransitiven‘ Liebe: einem intensiven Liebesgefühl, das ohne ein konkretes Liebesobjekt auskommt. Noch der autornahe Ich-Erzähler des späten Prosatextes „Das Testament“ entwirft das Ideal einer Liebe, „die nie in Besitz“ nimmt, und rechnet sich nicht „zu denen, die durch Liebe tröstbar sind“ (KA 4, S. 717, 731). Freundschaften mit Männern fielen Rilke noch schwerer, zumal ihm Männlichkeit ein überholtes Identifikationsangebot zu sein schien. „O Lou“, schreibt er 1903 an die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé, die wichtigste Person seines Lebens, „in einem Gedicht, das mir gelinge, ist viel mehr Wirklichkeit als in jeder Beziehung oder Zuneigung, die ich fühle; wo ich schaffe bin ich wahr“ (R/AS, S. 97). 1912 konstatiert er:

ich habe kein Fenster auf die Menschen, endgültigerweise. (B, S. 318)

Das Schreiben war für Rilke deshalb von existenzieller Bedeutung.

 

Das Prinzip Umdeutung

Der mit Rilke in lockerem Kontakt stehende Hugo von Hofmannsthal bemerkte einmal, dass in Rilkes Persönlichkeit irgendetwas fehle. Es hat in der Tat den Anschein, dass sich Rilkes Werk einem vielseitigen Mangel an Bindungsfähigkeiten verdankt – und der Entscheidung, die damit einhergehende Autonomie literarisch so produktiv wie möglich zu machen. Anstatt sein Schreiben als fiktionale Gegenwelt, als Lebensflucht anzulegen, lotet es das Erkenntnispotenzial der existenziellen Verlassenheit und des Scheiterns aus. Als rhetorische wie psychologische Grundfigur diene dabei die Umdeutung. Gemeinhin negativ konnotierte Erfahrungen von Einsamkeit, Schwere, Angst oder Überforderung werden bei Rilke als Gewinn verbucht, weil sie „unsere tiefe schmerzhafte Neugierde“ (B, S. 804) wecken können und sich künstlerisch produktiv machen lassen. Sein Credo lautet, die „Traurigkeiten mit größerem Vertrauen [zu] ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes“ (KA 4, S. 539). Die Krise und das Leiden weder zu verdrängen noch zu verklären – darin besteht der Balanceakt von Rilkes Schreiben. Das eindrückliche Pathos vieler Rilke-Texte (seiner griechischen Herkunft nach bezeichnet der Begriff ,Pathos‘ wertneutral das Leiden), das auch im 21. Jahrhundert viele Lesende mitzureißen vermag, hat hier ebenso seinen Ursprung wie das insbesondere im Frühwerk anzutreffende Abgleiten ins Kitschige.

 

Leitidee Armut

Das Konzept der materiellen wie immateriellen Armut entwickelt sich in diesem Zusammenhang zu einer Leitidee. Die Verszeile, nach der Armut „ein großer Glanz aus Innen“ (KA 1, S. 244) sei, hat Rilke viel Spott eingebracht – nicht zu Unrecht, wenn man sie als Verherrlichung prekärer Lebensverhältnisse deutet. Als Anregung zu einer humanen Sozialpolitik eignet sich Rilkes frühe Lyrik sicher nicht. (Anders verhält es sich mit seinen heute weitgehend vergessenen und anfangs naturalistischen Theaterstücken, deren Protagonisten fast ausnahmslos der Unterschicht entstammen.) Im Rückblick kam sich Rilke bisweilen selbst „wie ein Hochstapler des Elends“ vor, da er „nie ganz jenes äußerste Elend durchgemacht“ (Rilke 1977, Bd. 1, S. 92) habe, mit dem er das Personal seiner Texte konfrontiere. Es gehört zu den Widersprüchen von Rilkes Leben, dass der „herrliche Dichter“ auch „ein herrischer Schnorrer“ (Raddatz 2017, S. 129) war, der bei seinen wohlhabenden Gönnerinnen eine gute Kaffeemaschine, ausgewählte Seifensorten und bestickte Taschentücher bestellte. Immer wieder fiel Rilkes Lebenspraxis hinter sein Lebensideal zurück.
Und doch blieb er davon überzeugt, dass das „maßlose Armsein“ die „entscheidende Aufgabe“ (R/AS, 238) seines Lebens darstelle. Materieller wie geistiger Besitz lasse den Menschen angepasst und unfrei werden. Insbesondere als Künstler habe man sich deshalb fernzuhalten von jeder Form des Besitzdenkens. So preist das „Requiem für eine Freundin“, ein für Rilkes Weltanschauung und Poetik besonders aufschlussreiches Langgedicht von 1908, die Selbstporträts der kurz zuvor gestorbenen Malerin Paula Modersohn-Becker. Das Schauen der Künstlerin auf sich selbst sei „so besitzlos, von so wahrer Armut, / daß es dich selbst nicht mehr begehrte: heilig.“ (KA 1, S. 416) Rilkes so positiver wie umfassender Begriff von ,Armut‘ steht für eine maximale Ungebundenheit und Bedürfnislosigkeit, die zu einer radikalen Offenheit gegenüber der Innen- und Außenwelt führt. Wer arm ist, ist ausgesetzt – nur so lassen sich in Rilkes Augen die Intensitäten der Empfindung und der Wahrnehmung bis zum Äußersten steigern. Auch dass Rilke über die bildende Kunst so viel schrieb wie kaum ein zweiter deutschsprachiger Künstler, passe ins Bild: Gerade das sprachlose, für den Schriftsteller fremde Medium begriff er als Herausforderung zum Sagen des eigentlich Unsagbaren.
Besitz dagegen lenkt ab und verstelle den Blick. Davon war Rilke so überzeuge, dass er die Duineser Elegien – in den Augen des Autors sein Hauptwerk – mit der bemerkenswerten Widmung versah:

Aus dem Besitz der Fürstin / Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe (KA 2, S. 200).

Wörtlich gelesen (was bei Rilkes Texten immer anzuraten ist) entledigt sich der Dichter damit auch seines poetischen Besitzes. Ohnehin vertrat er – wie auch der acht Jahre nach ihm ebenfalls in Prag geborene Franz Kafka, dem Rilke 1917 in München begegnete – eine radikale Inspirationspoetik, nach der sich die Entstehung von Kunstwerken der rationalen Kontrolle des Künstlers entzieht. Auch wenn ihm der Versbau leicht (und phasenweise allzu leicht) von der Hand ging, konnte Rilke über sein Schreiben nicht verfügen. Mehrfach gelang ihm über Jahre nichts, mit dem er zufrieden war. Das Warten auf günstige Schreibphasen war ein wesentlicher Bestandteil seines Schriftstellerdaseins. So blieb er von 1912 bis 1923 für das Publikum ein Autor ohne Werk: Abgesehen von wenigen in Zeitschriften veröffentlichten Gedichten und einigen Übersetzungen gab es nichts Neues von ihm zu lesen.

 

Schreiben als ,neues Sehen‘

Nicht von ungefähr ist es der besitzlose Malte Laurids Brigge, dem sich in der fremden Großstadt Paris ein ,neues Sehen‘ eröffnet. Malte ist ein ,Armer‘ vor allem deshalb, weil ihm alles Weltwissen in den entscheidenden Menschheitsfragen unzureichend erscheint.

Ist es möglich, […] daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? […]
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist?
[…]
Ja, es ist möglich.
(KA 3, S. 468f.)

Für Malte folge aus dieser Einsicht die Verpflichtung zu schreiben und sich dabei auf die Elementarkräfte des menschlichen Lebens zu konzentrieren. Seine Aufzeichnungen (und weite Teile von Rilkes Lyrik) kreisen um die Überwältigung und die Unzulänglichkeit in der Liebe, um metaphysische Ungewissheiten und um die Angst vor dem Tod. Sie zielen auf eine grundsätzliche Neuausrichtung des Verstehens. Dabei gehe es nicht darum, allgemeingültige Antworten auf die großen Fragen zu finden, sondern das enorme intellektuelle und emotionale Potenzial des Fragens auszuschöpfen. Malte gelangt zu der Überzeugung, dass die Furcht vor dem Übermächtigen (in Gestalt einer geliebten Person, Gottes oder des Todes) nicht von etwas Fremdem ausgelöst wird, sondern

unsere Kraft ist, alle unsere Kraft, die noch zu stark ist für uns. Es ist wahr, wir kennen sie nicht, aber ist es nicht gerade unser Eigenstes, wovon wir am wenigsten wissen? Manchmal denke ich mir, wie der Himmel entstanden ist und der Tod: dadurch, daß wir unser Kostbarstes von uns fortgerückt haben, weil noch so viel anderes zu tun war vorher und weil es bei uns Beschäftigten nicht in Sicherheit war. Nun sind Zeiten darüber vergangen, und wir haben uns an Geringeres gewöhnt. Wir erkennen unser Eigentum nicht mehr und entsetzen uns vor seiner äußersten Großheit. Kann das nicht sein? (KA 3, S. 571)

Malte teilt mit seinem Autor ein Misstrauen gegenüber den Welterklärungsmodellen der Wissenschaft, der Religion und der Politik, insofern sie gezwungen sind, die Unabsehbarkeit und die Komplexität der menschlichen Existenz zu reduzieren. Das emphatische Kunstverständnis Rilkes speist sich aus der Überzeugung, dass die poetische Sprache mit ihrer Kombination von Reflexion und Narration, Rhythmus und Bildlichkeit in der Lage ist, die Fülle des menschlichen Lebens nicht nur am besten auszudrücken, sondern den Schreibenden wie den Lesenden überhaupt erst bewusst zu machen.

 

Kunst und Leben

Anders als viele Zeitgenossen stand Rilke deshalb der selbstgenügsamen Kunst, dem Konzept einer l’art pour l’art, ablehnend gegenüber. Der Kerngedanke seiner anthropologischen, also am Menschen orientierten Ästhetik lautet, dass sich Kunst immer am Leben auszurichten habe oder wertlos sei. Gemeint ist damit allerdings ein Leben, das weit über die Grenzen des Offensichtlichen und Sichtbaren hinausreicht und auch den Tod umfasst – denn „wie der Mond, so hat gewiß das Leben eine uns dauernd abgewendete Seite, die nicht sein Gegenteil ist, sondern seine Ergänzung zur Vollkommenheit, zur Vollzähligkeit, zu der wirklichen heilen und vollen Sphäre und Kugel des Seins“ (B, S. 806f.). Kunst ist in Rilkes Augen die leistungsstärkste Lichtquelle, mit der sich diese unvertraute Gegend der menschlichen Existenz ausleuchten lässt. Insbesondere in der gedrängten Form eines Gedichtes sei es möglich, über „unser gebräuchliches Bewußtsein“ hinauszukommen in die „Tiefendimension unseres Inneren“ und vorzudringen bis in die „von Zeit und Raum unabhängigen Gegebenheiten des irdischen, des, im weitesten Begriffe, weltischen Daseins.“ (B, S. 871) Ob sich seine Texte auf Tiere oder Engel, auf Alltagsgegenstände, kulturell Überliefertes oder psychische Vorgänge beziehen, immer kommt es in ihnen darauf an, die Weltwahrnehmung zu erweitern und zu intensivieren. Rilkes Dichtung entwirft einen individuellen „Weltinnenraum“ (KA 2, S. 113), in dem sich Außen und Innen, Subjekt und Objekt, Sichtbares und Unsichtbares zu jener Einheit verbinden, die sie nach seiner Überzeugung in Wahrheit immer schon bilden – und aus der seine Texte entstehen.

 

Bezug statt Besitz

Da der Weltinnenraum sich pausenlos verwandelt, bedarf auch dessen Landkarte einer ständigen Überarbeitung. Zeugnis davon sind die Veränderungen in Rilkes Texten, deren Sprecher, Sprechgegenstände und Sprechweisen erheblich variieren. Was sie festhalten, gilt im nächsten Gedicht, spätestens im nächsten Gedichtband nicht mehr. Weil sich nur das leicht Fassliche vollständig begreifen lässt, betreibt Rilkes Dichtung einen unabschließbaren Prozess der Weltaneignung – „statt des Besitzes erlernt man den Bezug“ (B, S. 820). Anders als im Konzept des Besitzens ist beim labileren und zeitlich begrenzten Bezug der nahende Entzug bereits mitgedacht. Dass der Autor im Leben wie im Schreiben seine Besitzstände immer wieder zurücklassen musste oder wollte, ermöglichte und erzwang ein unentwegtes Neubeginnen. Wie Malte Laurids Brigge war auch Rilke zeitlebens „ein Anfänger in [s]einen eigenen Verhältnissen“ (KA 3, S. 505), der sich zumutete, „jeden Tag beinah wieder ganz von vorne anzufangen“ (Rilke/Thurn und Taxis 1986, Bd. 1, S. 91). Aus dieser Unbeständigkeit ist ein Werk entstanden, das heute zu den meistgelesenen, kurz: beständigsten Texten der klassischen Moderne gehört.

 

 

 

Inhalt

I. Rilke. Besitzlos dichten

II. Zeittafel

III. Leben und Werk
Grafik: Wichtige Punkte

IV. Werkaspekte

  1. Alles leben, alles schreiben. Anthropologische Ästhetik
  2. Vom Ding zum Kunstding. Bildende Kunst
  3. Einander lassen. Liebe
  4. Dem Offenen entgegen. Transzendenz
  5. Die andere Seite des Lebens. Tod

V. Dramen

VI. Prosa

  1. Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke
  2. Geschichten vom lieben Gott
  3. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

VII. Lyrik

  1. Das Buch der Bilder
  2. Das Stunden-Buch
  3. Neue Gedichte / Der Neuen Gedichte anderer Teil
  4. Duineser Elegien
  5. Die Sonette an Orpheus

VIII. Briefe

IX. Wirkung

X. Literatur

Abbildungsverzeichnis

 

 

 

 

Rainer Maria Rilke ist ein Autor,

der sich radikal der Dichtung verschreibt, um mit ihr die Grenzgebiete des Menschseins auszuleuchten – die Ungewissheiten der Liebe, der Transzendenz und des Todes. Von ihm stammen der erste moderne Roman der deutschsprachigen Literatur, die suggestivsten Klänge in der Lyrik der Jahrhundertwende und ein facettenreiches Briefwerk, das Künstlerinnen und Künstler bis heute inspiriert. Nach einer Einführung in Rilkes Poetik des besitzlosen Dichtens, in seine Biografie und in zentrale Werkaspekte stellt Torsten Hoffmann die wichtigsten Dramen, Prosatexte, Gedichtbände und Briefwechsel vor. Das abschließende Kapitel widmet sich der multimedialen Wirkungsgeschichte Rilkes, der so leidenschaftlich verehrt und verachtet wird wie kein anderer Autor der klassischen Moderne.

Tectum Verlag, Klappentext, 2020

 

Rilkes Gesetz

Lou Andreas-Salomé entdeckt in ihren um die Wende zum 20. Jahrhundert entstandenen „Gedanken zum Liebesproblem“ die Analogie der Liebe mit dem künstlerischen Schaffen. In der Liebe, mit der der Künstler sich den Dingen hingibt, kommen diese ihm in seiner eigenen Gestalt entgegen, und er macht die Erfahrung, daß sich sein eigenes Sein in ihnen auflöst. In der glückhaften Begegnung mit Rilke hat Lou damals nach früheren „unvollendeten Liebeserfahrungen“ den anderen gefunden, für den sie das „erstmals Wirkliche“ ist, und so erkennt sie mit einem unvergleichlichen mimetischen Einfühlungsvermögen in diesem jungen Lyriker den künftigen Dichter der „Elegien “ und in seiner Klage über sein „maßloses Armsein“, seinem Gefühl, in der Welt ein Fremder zu sein und keine Verwirklichung finden zu dürfen als im Werk, das Gesetz, das ihn bindet: das Liebesverbot.
Die seelenkundige Schriftstellerin und spätere Gesprächspartnerin Freuds entläßt den jungen Dichter, der immer schon „weg“ gewesen ist, auf dem Weg zum Werk, zur absoluten Kunst, aus ihrer Liebe, damit er seinem Gesetz folgen kann. Im Januar 1901 notiert sie in ihr Tagebuch:

Damit R. fortginge, ganz fort, wär ich zu einer Brutalität fähig. (Er muß fort!)

In ihrem „letzten Zuruf“ deutet sie ihm brieflich an, warum sie die Trennung für notwendig hält:

Ich gehorchte ohne es zu wissen dem großen Plan des Lebens (…) gehe denselben Weg deinem dunklen Gott entgegen!

Denn er hat einen Auftrag, den „Malte Laurids. Dieses schwere, schwere Buch“, das er „leisten“ muß, wie er in einem Brief an Lili Schalk schreibt, bereit, „über alle Dürre hin“ auf ihm zu bestehen, „weil doch alles Verwirklichte kaum noch der Anfang dessen war, an das man sich grenzenlos verpflichtet hielt.“ Dieses briefliche Geständnis öffnet den Zugang zum rätselhaften Schluß des Buches: Rilkes Aneignung der biblischen Parabel vom verlorenen Sohn, die er seltsamerweise Legende nennt, vielleicht weil er dabei an „jenes gespenstische Anderswerden “ Abelones denkt, der großen Liebenden seines „Malte“, die mit einem Lied aus dem Roman verschwindet. Mit einem Lied, das sie singt „wie etwas Notwendiges“. Was es damit auf sich hat, darüber vermag Malte nur zu spekulieren, aber er weiß, daß sie sich danach sehnte, „ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen“, weil der einzig mögliche Gegenstand ihrer Liebe Gott wäre, von dem „keine Gegenliebe zu fürchten war“.

Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte.

In dieser Legendengestalt tritt Malte, dem Alter ego des Autors, wie aus einem Spiegel „die innige Indifferenz seines Herzens“ entgegen. Denn er geht fort, weg von dem „ungefähren Leben“, das „alle im Hause“ ihm zuschreiben. In seinem 1925 an Witold von Hulewicz geschriebenen Brief geht Rilke ausführlich auf den historischen und autobiographischen Hintergrund seines Malte ein, „der alles, Gewesenes wie Künftiges, einfach für ,vorhanden‘ hielt (…), seine Notzeit und die große Notzeit der avignonesischen Päpste“. Daß der Dichter selbst eine solche phantasmagorische Ineinssetzung von innen und außen, des Künstlers mit seiner Gestalt, nicht für harmlos hält, verrät der Schluß des Briefes:

Dieses Buch ist hinzunehmen.

Und wir nehmen es auch hin, daß Rilke in den Hirtenjahren des verlorenen Sohnes seine Reise in die Provence wiederholt. „Ich war einen Tag in Les Baux“, schreibt er der Freundin, Lou Andreas-Salomé. Er sei da nur noch mit einem Hirten umgegangen, „der wenig sagte“.

Wir standen nebeneinander und schauten beide immerzu auf den Ort. Die Schafe weideten auseinander auf dem raren Boden. (23. Oktober 1909)

Es ist, so Rilke an Hulewicz, Maltes „Hirte, aufgerufen, hier, beim Theater von Orange (…) der mit seinen Herden, milde und zeitlos, wie ein Gewölk, über die noch erregten Stätten eines großen Verfalls zieht“. Einen solchen Hirten haben in den „Aufzeichnungen“ Fremde gesehen, auf der Akropolis oder in „Orange, an das ländliche Triumphtor geruht“, oder „im seelengewohnten Schatten der Alyscamps, wie sein Blick zwischen Gräbern, die offen sind wie die Gräber Auferstandener, eine Libelle verfolgt“. „Welche Kunst“, fragt sich Malte, „ist weit genug, zugleich seine schmale, vermantelte Gestalt hervorzurufen und den ganzen Überraum seiner riesigen Nächte“ – und denkt vielleicht an die mächtigen Gesänge eines dunklen Orpheus, den er schon einmal beschworen hat:

einen schlanken Mann im blauen Mantel, der stumm und ungeduldig vor sich aussah.

Die Legende läßt den Entfremdeten heimkehren mit dem Vorsatz, alles „Ungetane“ seines Lebens, allem voran seine Kindheit, „wirklich auf sich zu nehmen“ – Malte gebraucht dafür, wie sein Autor, den Ausdruck leisten –, offen aber bleibt, „ob er blieb“.

Wir wissen nicht, ob er blieb; wir wissen nur, daß er wiederkam.

Der seltsame Übergang in die erste Person Plural erinnert uns daran, daß die Legende eine mündliche Form ist, an der wir die stumme Arbeit der Geschichte entziffern können. Wir wissen also, daß er wiederkam. Als in Maltes „Aufzeichnungen“ erst die Hunde, dann alle im Haus den Zurückgekehrten erkennen und dieser von ihren gealterten Gesichtern die Verzeihung abliest und „mein Gott: die Liebe!“, schlägt die Legende, die er aus der Geschichte des verlorenen Sohnes hat machen wollen, um in die Antilegende vom Künstler, der nicht lieben darf – und nicht geliebt werden will, außer von einem, dem Nichtwiederliebenden. Vom Leben des Heimkehrers, erzählt Maltes Version, sei nur seine „unerhörte Gebärde“ überliefert:

die Gebärde des Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie beschwörend, daß sie ihn nicht liebten.

Die lebensgeschichtlich beglaubigte Identität von Rilke, Malte und dem verlorenen Sohn offenbart Rilkes „Testament“:

Genau wie in meiner Kindheit vor der gewaltsamen Liebe meines Vaters, so knie ich auch jetzt in der Welt und bitte die, die mich lieben, um Schonung. Ja, daß sie mich schonen! Daß sie mich nicht verbrauchen für ihr Glück, sondern mir beistehen, jenes tiefste einsamste Glück in mir zu entfalten, ohne dessen Große Beweise sie mich doch am Ende nicht würden geliebt haben.

Die Kunst, schreibt Rilke im Maltejahr 1910 an die Fürstin von Thurn und Taxis, „ist die leidenschaftlichste Inversion der Welt“. Der Künstler sieht die Dinge „aus dem Unendlichen“ sich entgegenkommen – „in ganzer Gestalt“ – und besteht auf ihrer Wirklichkeit im Werk. „Ja, aber“, fragt Rilke, weniger die Freundin als sich selbst, „wer ist man denn, daß man’s darf?“ „Die Gewaltsamkeit“, mit der er das „im Malte Laurids durchgesetzt habe“, „die konsequente Verzweiflung“, die ihn das Äußerste habe wagen lassen, „so daß nichts mehr möglich war“, erscheint ihm als Hochmut. Die seltsame Zweideutigkeit des Legendenschlusses, wo die Liebe zum Absoluten wird, worin Gott und der verlorene Sohn ineinander übergehen, verrät etwas von der Angst des Künstlers, in die gefährliche Zone der Hybris zu geraten – in Gottkonkurrenz, wie es Lou Andreas-Salomé nennt.
Die letzte Bedeutung der Gebärde des Weggehens beschreibt die „Siebte Elegie“:

Denn mein Anruf ist immer voller Hinweg; wider so starke
Strömung kannst du nicht schreiten. Wie ein gestreckter
Arm ist mein Rufen. Und seine zum Greifen
oben offene Hand bleibt vor dir
offen, wie Abwehr und Warnung,
Unfaßlicher, weitauf.

Abwehr und Warnung zugleich – das ist auch die Gebärde der Eleonora Duse, der Schauspielerin schlechthin, deren Namen Malte nicht zu nennen braucht.

Es kam dich an, ihnen den Arm verkürzt entgegenzustrecken mit dem Fingerzeichen gegen den bösen Blick. (…) Du fühltest, wie dein Herz sich unaufhaltsam steigerte zu einer immensen Wirklichkeit und, erschrocken, versuchtest du noch einmal die Blicke von dir abzunehmen wie lange Fäden Altweibersommers – :aber da brachen sie schon in Beifall aus in ihrer Angst vor dem Äußersten: wie um im letzten Moment etwas von sich abzuwenden, was sie zwingen würde, ihr Leben zu ändern.

Es ist die Unvergleichlichkeit dieser Schauspielerin, die, indem sie sich eine Dichtung im wörtlichen Sinn einverleibt, deren „immense Wirklichkeit“ erfahrbar macht: das Schöne „als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen“. „Und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören“, heißt es in der „Ersten Elegie“.
Fast zehn Jahre nach dem Abschluß der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge wiederholt Rilke die Legende in seiner Begegnung mit „Merline“, Baladine Klossowska, die er, vor der Beendigung seiner Arbeit an den Elegien als „ein grob zugreifendes Schicksal“ erfährt, eine „neue unerhörte Abwandlung“ des „unversöhnlichen Konflikts zwischen Leben und Arbeit“ (Brief vom 17. Februar 1921 an Marie von Thurn und Taxis). Gerade in dieser Beziehung fällt es ihm schwer, der Liebenden zu widerstehen – und der Liebe, die ihm im Recht, aber nicht erlaubt zu sein scheint.
In einem herzzerreißenden Brief, der zugleich Liebeserklärung und Abschied ist, bittet er die Geliebte nicht nur um Verständnis für die Entscheidung, seinem „Gesetz“ zu folgen, sondern, als kniete er vor seiner Schutzheiligen, um die Kraft dazu:

Wenn ich mein Gewissen befrage, so sehe ich darin nur ein Gesetz, ein erbarmungslos imperatives: mich auf mich selbst zu konzentrieren und in einem Zug diese Arbeit zu vollenden, die mir im innersten Herzen aufgetragen ist. Ich gehorche… (am 16. Dezember 1920 an Merline).

Doch dann beginnt der Liebesbrief, und mit der Stimme eines Engels der Verkündigung erinnert er die Geliebte an den ekstatischen Augenblick des „gebenedeiten“ Jahres ihrer Liebe, der sie ihm zur Heiligen gemacht hat:

Der Moment, wo du mich ansahst „als junges Mädchen.“ Auf einmal verlor dein Antlitz jeden Ausdruck (…) es wurde ganz dunkel, ganz leer (…) und es erschien darauf eine unbeschreibliche Klarheit. (…) Merline, ich habe das gesehen (…) dein von Liebe transfiguriertes Gesicht, ganz erfüllt von jener Jugend, jener Jungfräulichkeit, die sich in dir bewahrt hat, um eines Tages mich zu blenden.

Daß es sich um einen Abschiedsbrief handelt, trotz des verheißungsvollen au revoir am Schluß, verrät das Vergangenheitstempus in der herausgehobenen Koda der Transfiguration Merlines: ich habe das gesehen. Der Autor der Elegien vermag diesem Augenblick Wirklichkeit und Dauer zu verleihen. Aber er erkennt auch den Preis für die dichterische Verklärung: das Liebesverbot. – Orpheus „hat sich umgewendet “ und Eurydike endgültig verloren. Sein Vorgesang aber währt noch:

eine Welt aus Klage.

Den Abschied von Merline erfährt Rilke als „ein Mißlingen, einen grausamen, verwirrenden Verlust“; davon zeugen die losen Blätter, die er unter dem Titel „Das Testament“ nachträglich zusammengefaßt und kurz vor seinem Tod der Freundin seiner letzten Jahre übergeben hat. In einer seltsam überpersönlichen Vorbemerkung begründet und beglaubigt er seine fragmentarischen Aufzeichnungen, „weil mit diesen Einsichten in sein eigentümliches Verhängnis, ein Wille ausgesprochen ist, der sein letzter bleiben wird“. Auf den ersten Seiten dieses Testaments taucht die Erinnerung auf an ein Gedicht, geschrieben 1907, also wenige Jahre vor dem Malte, eine eigenwillige Aneignung der Legende des heiligen Georg, die Maltes Version des verlorenen Sohnes anzukündigen scheint. Jetzt aber, während der Niederschrift der Fragmente, geht Rilke die eigentliche Bedeutung seines Gedichts auf: Es spricht von einem Heiligen, der immer besteht – so wie er selbst sein gegenwärtiges Glück „schon überstanden “ haben möchte:

Mein Leben ist eine besondere Art Liebe, und sie ist schon gethan. Gleichwie das Lieben des heiligen Georg ein Drachentöten ist, eine währende Handlung, (…) so sind auch die Aufwände meines Herzens schon verwendet und verwandelt in ein endgültiges Geschehen. In

seine Mitte werd ich manchmal hineingehoben: ein Bild des Vollzugs. Der Platz der Prinzessin aber ist abseits. Sie betet, daß es gelänge. Sie kniet.

„Zuseiten seines Streites“, heißt es in diesem Gedicht, „stand, wie Türme stehen, ihr Gebet.“
Er versteht, daß er, seit seiner Kindheit, immer vor seinem eigenen inneren Gericht gestanden hat mit dem quälenden Selbstvorwurf, durch ein „unerlaubtes“ Liebeserlebnis in die „Abtrünnigkeit“ geraten zu sein und sich nicht mehr erkennen zu können „in seinem Schwersten“. Jetzt auf einmal geht ihm auch die Natur seines Zwiespalts auf: „Er klafft in meiner Liebe selbst, da ja, wie ich nun ein für alle Mal erfuhr, meine Arbeit Liebe ist“ – „alle Liebe“. Diese Arbeit fordert von ihm „eine leidenschaftliche Unterwerfung unter den Gegenstand, (…) dem, mit anderen Worten, meine Liebe gehört“ – und der Gestalt werden will: Werk.

Die Umkehr dieser Unterwerfung geschieht schließlich, mir selber unerwartet, in dem plötzlich in mir aufkommenden schöpferischen Akt.

Die Bedingung dafür ist freilich ein „Alleinsein“, in dem er „grenzenlos“ leben muß.
Gerade weil Baladine Klossowska, selber Künstlerin, dem Einsamkeitsbedürfnis des Geliebten bis zur Selbstverleugnung entgegenkommt, ist die Prüfung, die ihm durch diese Liebesbeziehung auferlegt wird, eine „der schwersten“.

Dürft ich Dich rufen…, aber gerade damit wäre ja mein letztes zerstört – dieses Gericht, an dem ich mich erkenne. Du hast es selbst geschrieben neulich, ich gehörte nicht zu denen, die durch Liebe tröstbar sind. So ist es. Denn was, am Ende, wäre mir unbrauchbarer, als ein getröstetes Leben?

Mit dieser abgründigen Frage bekennt sich „der Schreiber“ des „Testaments“ zu „einer einzigen unzurücknehmlichen Zustimmung“ zu seinem Gesetz, und sei es sein Untergang.

Christa Bürger, Sinn und Form, Heft 1, 2020

 

Hans Egon Holthusen: Der späte Rilke, Merkur, Heft 8, Februar 1948

Hans Egon Holthusen: Rilke-Finsternis? Gedanken anläßlich des 100. Geburtstages, Merkur, Heft 330, November 1975

Carl J. Burckhardt: Ein Brief über Rilke, Merkur, Heft 330, November 1975

 

 

 

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