Werner Hamacher: Keinmaleins – Texte zu Celan

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Werner Hamacher: Keinmaleins – Texte zu Celan

Hamacher-Keinmaleins – Texte zu Celan

HÄM

– Ein Gedicht Celans mit Motiven Benjamins. –

AUS DEM MOORBODEN ins
Ohnebild steigen,
ein Häm
im Flintenlauf Hoffnung,
das Ziel, wie Ungeduld mündig,
darin.

Dorfluft, rue Tournefort.

Gedichte erheben sich aus ihrer Geschichte und erheben sich gegen sie. Keins, das nicht diese doppelte Bewegung beschriebe, keins, das sich nicht von der Geschichte, die es aufnimmt und trägt, absetzte und deshalb noch absetzte von sich selbst. Was in es einging, bleibt hinter ihm, dem Gedicht, das darüber hinausgeht, zurück. Wenn Gedichte in einem emphatischen Sinn geschichtlich sind, dann nicht nur, weil sie die Spuren des Vergangenen für die Zukunft bewahren, sondern zunächst weil sie Zukunft und damit eine andere als die gewesene Geschichte eröffnen: sie sind Bewegungen in einem Gelände, das von historischen Fakten und Ereignissen noch nicht besetzt ist und erst in diesen Bewegungen, in jeder von ihnen zum ersten Mal und allein in ihrer Weise, erschlossen wird. Es ist eine – mindestens eine – andere Geschichte, eine künftige, die sich in jedem Gedicht anbahnt, und mit dieser anderen Geschichte eine Gegengeschichte, eine, die noch keine Geschichte ist und nie eine gewesen sein wird. Wenn aber Geschichte sich in der Dimension des noch nicht und niemals Historischen bewegt; wenn sie immer auf dasjenige aus ist, was noch nicht historischer Bestand geworden und also noch nicht ist, dann ist alle Geschichte die Prähistorie des Künftigen und erschließt sich erst demjenigen Blick, der in ihr nicht das Gewordene und Fertiggewordene, sondern das Unabgeschlossene, Offene und Mögliche erkennt. Zur Geschichte des Gedichts gehört demnach zuerst und vor allem, was ihr noch nicht angehört, sondern sich ihr entzieht; was keinem bekannten Gesetz des Handelns oder der Erkenntnis gehorcht, sondern virtuell jedes außer Kraft setzt; was die überlieferten Akte nicht bestätigt, ohne sie durch Suspendierung zugleich offenzuhalten für weitere Überlieferungen. Zu seiner Geschichte verhält sich das Gedicht als zu einer Vorgeschichte, zu seiner Welt als einer Vorwelt. Von dieser Vorwelt und Vorgeschichte setzt sich das Gedicht ab, gegen sie erhebt es sich mit dem Anspruch – einem vielleicht verzweifelten, vielleicht ironischen Anspruch –, eine andere Geschichte oder anderes als Geschichte zu eröffnen.
Von einer „Vorwelt“ (S. 31) und ihren „Uranfängen“ (S. 28) spricht Walter Benjamin in dem großen Essay, den er 1934 unter dem Titel „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“ veröffentlicht hat.1 Um das Rätsel von Kafkas Schriften zu charakterisieren, verweist Benjamin auf die eigentümliche Konjunktion, in die Alltägliches darin mit Heroischem, Unscheinbares mit Monumentalem tritt, und besteht darauf, daß Kafka gezwungen war, nicht nur Zeitalter, sondern Weltalter im Schreiben zu bewegen – ein Größtes in einem Kleinsten (S. 28). Im zweiten Abschnitt des Essays zitiert er einen Satz aus Kafkas „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“:

Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.

Und er vermerkt im Anschluß an dies Zitat: Georg Lukács hat einmal gesagt: um heute einen anständigen Tisch zu bauen, muß einer das architektonische Genie von Michelangelo haben. Da aber Kafkas Arbeit für Benjamin über die Borniertheit der bloß innerhistorischen – und das heißt für ihn: der bloß historistischen – Perspektive hinausgeht, setzt er hinzu: Wie Lukács in Zeitaltern, so denkt Kafka in Weltaltern. Weltalter hat der Mann beim Tünchen zu bewegen. Und so noch in der unscheinbarsten Geste. Vielfach und oft aus sonderbarem Anlaß klatschen Kafkas Figuren in die Hände . Einmal jedoch wird beiläufig gesagt, daß diese Hände „eigentlich Dampfhämmer sind. (S. 10) Die unscheinbare, beiläufige Verschiebung der Optik, die in den Händen Hämmer entdeckt, stellt für Benjamin eine Bewegung nicht mehr bloß von Zeitaltern, sondern von Weltaltern vermutlich deshalb dar, weil diese Hämmer Dampfhämmer sind und mit den Elementarkräften, die sie mobilisieren, nicht nur dem Industriezeitalter, sondern zugleich dem vorgeschichtlichen Nebelstadium (S. 14) angehören. Die Spanne, die diese Hände und Hämmer durchmessen, ist die Spanne zwischen Geschichte und dem, was aller Geschichte vorausliegt. Wenn Kafka Weltalter im Schreiben bewegt hat und wenn diese Bewegung, wie es Benjamins Parallelformulierung andeutet, derjenigen gleicht, in der Weltalter […] beim Tünchen bewegt werden, dann wird jenes Schreiben zu einem Tünchen, einem Übermalen und Weißen, unter dem die geschichtlichen Ereignisse und ihre Epochen verschwinden und etwas anderes als Geschichte – ein Vor oder Nach der Geschichte – sich zeigt: sich unscheinbar zeigt und alles Zeigen unscheinbar macht im Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube. Die Hände des Schriftstellers, die dies Weißtünchen besorgen, sind aber, so legt Benjamin mit seiner Zitaten-Collage nahe, „eigentlich Dampfhämmer“, die gegen einander klatschen. Schreiben bewegt Weltalter und bewegt sich aus der geschichtlichen Welt und der Geschichte hinaus, indem es sich selbst löscht und, paradox, als Löschen schreibt, indem es an seiner äußersten Grenze und über sie hinaus, indem es sich aus-schreibt und entschreibt. Wenn es nicht Schwarz auf Weiß schreibt, sondern so, daß hinter sein Weiß alle geschichtlichen Epochen zurücktreten, erst dann bewegt das Schreiben für Kafka, wie ihn Benjamin liest, Welt und Geschichte, denn erst dann setzen die Weltalter in einer unscheinbaren epoché aus, auf deren vakantem Grund eine andere Geschichte oder etwas anderes als Geschichte beginnen kann. Für Benjamin bescheiden sich die Texte der Literatur nicht damit, historische Replikate von historischen Fakten und Konfigurationen zu sein, sie bewegen, verschieben und transformieren vielmehr historische Konfigurationen und diejenige Konfiguration, die Geschichte heißt, insgesamt und transformieren sie so, daß sie einem Nicht-Geschichtlichen, einem Vor- und Nach-Geschichtlichen Raum geben. Literatur, wie Benjamin sie in Kafkas Schriften liest, ist geschichtskritisch in dem eminenten Sinn, daß sie die Geschichte, wie sie ist und gewesen ist, um einer anderen Geschichte oder etwas anderem als Geschichte willen darangibt.
Es erleichtert und es erweitert das Verständnis von Celans „Aus dem Moorboden“,2 wenn man es im Kontext von Benjamins Kafka-Aufsatz liest.3

(…)

 

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Vor-Rede

1
Eine Rede für Dich, eine Rede an Dich – noch ein Mal, immer noch, denn es ist mir unmöglich, über Dich zu sprechen oder zu schreiben. Ich kann nur vor Dir stehen, und gleichsam sprachlos.
Du sagst, das Sprachlose sei Sprachoffenheit, Offenheit für Sprache und Offenheit der Sprache. Ich weiß. Es ist sogar eines Deiner Leitmotive.
Sofort höre ich Dich: „Oder Leidmotiv…“
– Ja sicher, denn nur durch die Unaussprechlichkeit des Leids kann eine Sprache wahr sein.4
Ich höre Dich noch nicht von den Schmerzen sprechen, die Dich überstiegen… Nicht nur nicht von den letzten, den überreißenden, auch von denen, die Dir eine lange Zeit vor Deinem Leiden und Deiner Klage – Krankheit oder verschiedene Pflichten – den Atem nahmen, Dich belasteten, die unveränderte Spannkraft Deines Körpers, Deiner Seele und Deines Denkens einschnürten Es gab niemals genug Zeit und Raum, nie genug Wörter, Blätter und Gesten, um zu sagen und zu tun, was über Dich eine erstaunliche Macht vollbringen wollte – erstaunlich ebenso durch seine Intensität wie durch sein immerwährendes Begehren, alle Kraft außer Gebrauch zu setzen. Das Wort Kraft5 begegnet bei Dir am häufigsten im Syntagma außer Kraft.6
Du suchtest, Deine eigene Kraft zu erschöpfen – auf zwei Weisen: sie rückhaltlos einsetzend, bis zum Ende und über die mögliche Ausübung der Sprache und des Denkens hinaus – aber auch sie verausgabend, um sie wie ausgeblutet und vernichtet zurückzulassen. So ist es, dass sich Dein eigenes Genie ausdrückte, welches das Objekt seiner Übung war, und das mir eines Tages nahegelegt hat, Deinen Namen buchstäblich zu nehmen – „Macher des Ha!“ – das heißt Denker und Schriftsteller eines definitiven und wiederholten Aus-rufs, wo sich außer Atem aus-setzte, was Du die exponierteste Sprache7 nennst. Du sprichst dann von Adornos Verdikt über die Dichtung nach Auschwitz und der Weise, wie Celan das gehört hat – oder noch besser von der Weise, in der Du dieses Hören in seiner Dichtung hörst.
Das ist, warum die Dichtung – singulär Celans, aber auch von anderen – ein bevorzugtes Objekt Deines Denkens gewesen sein wird. Und bevorzugt an dem Punkt, an dem es bei Dir kein Objekt mehr ist, sondern vielmehr – weder Objekt noch Subjekt – das Sein selbst oder das Tun, die Existenz und das Handeln eines Willens, zu sagen, was ihm seine Konsistenz im alles Sagen und alles Wollen raubt. Du sagst, dass es das ist, was Celans Dichtung will und dass es dieses Wollen ist, das Du deinerseits wollen willst, bis sich darin alles Wollen und alles Sagen erschöpft – aber in einer in Nichts nihilistischen Erschöpfung, denn sie sagt sich selbst, am Ende der Kräfte, am Ende des Sprechens: Sie sagt sich als das Gedicht selbst.
Du sagst: Das Gedicht in seiner größten Verdichtung ist das Gedicht dort, wo es als Platzhalter einer Pause, im Phänomen eines Nichtphänomenalen, an sich hält.8
Du sagst das in Celans Pause, im Intimsten seines Gedichts.

2
Werner Hamacher ist ein sehr mächtiger Riese, der sich über die Insekten beugt, die die schlanksten Gedichte Paul Celans sind, der sie auf empfindsame Weise zwischen seine Finger nimmt, ihre Gelenke, ihre Klauen, ihre Zellhäute untersucht, bevor er sie von neuem auf das Blatt legt, um sie sich bewegen zu sehen.
Werner Hamacher ist ein Denker, den die Worte Paul Celans aus seinem eigensten Denken denken machen, als wäre es in diesen Gedichten, dass es geboren würde, als war es, dieses Denken, nichts als die Resonanz des Gedichts. Nicht sein Kommentar, sondern sein Echo oder seine Verbreitung.
Werner Hamacher ist ein Brunnen, in den die tönenden Worte Paul Celans fallen wie in ihren eigenen Spiel- und Fallraum, derjenige, in dem sie ihre Sinn-Erscheinungen entblößen, um sich in der Stille-Verdickung unterhalb des Sprechens zu versenken.
Natürlich heißt das, dass man alles umdrehen muss, nicht gemäß einer Wechselseitigkeit, einer Symmetrie, jedoch gemäß den Spannungen, den Stößen, dem Gestalt-werden und -Auflösen im Kampf der Körper.
Celan ist einzig, ihm liegt nichts daran, auf seinem Weg einem Ausleger oder Übersetzer zu begegnen. Aber hier begegnet er sich selbst. Das heißt Unmöglichkeit, sich zu identifizieren, jene Unmöglichkeit, die das sich von sich trennt und es weitergehen lässt. Da, wo ausweglos entweicht, was nicht gesagt gewesen sein wird.
Celan ist ein verirrtes Insekt auf dem Blatt, das ein zuvorkommender Riese in seine Finger nimmt, um es empfindsam dort abzusetzen, wo es Schutz findet: unter dem Blatt, dort, wo die Worte nicht sagen wollen können, was sie sagen – ohne doch aufzuhören, sich zu sagen.
Celan ist auf die Rückseite gefallen, überraschtes Insekt, in einem Netz von Linien, von Werner gespannt. Natürlich ist es ein Netz, das sich selber spannt:

fall ich dir zu, fällst / du mir zu9
Du versus mir – oder besser Du für mich, Du zu mir10

… quälende Frage der Übersetzung des zu – selbst auf Deutsch, auf Deutsch selbst. Sie – Du und ich – sind einer dem anderen zugewendet, einer dem anderen zugeneigt, einer gegen den anderen gedreht.
Das lässt sie nur übereinstimmen zum Preis einer Nichtübereinstimmung, genau wie die Übereinstimmung der Gedicht-Verse den Bruch ihres Rhythmus’ herbeiführt. Auch der Celan-Leser – dieser Leser, der du mir zu liest – liest es nicht wahrhaft, wesenhaft als Bruch des Verses, als Bruch durch den Vers. Das, was dann zur Lektüre hinzukommt, ist das Nicht-Geschriebene. Hier ist das gesagt, was Werner bei Celan liest, durch Celan, einer im anderen und einer trotz des anderen.

3
Denn wenn die Geste von Werners Lektüre – nicht Kommentar, nicht Auslegung, nicht Interpretation, nicht Glosse, aber das alles vermischt und mitgenommen in eine andere Bewegung, die, wie man auf Französisch sagt, colle au texte (auf Deutsch vielleicht dicht am Gedicht liest…) – dazu neigt, sich von der Geste des Gedichts ununterscheidbar und aus dem Celan-Hamacher eine Art des „Selben“ zu machen, dann geschieht das nur nach dem Gesetz des Selben, dass sie sich einer dem anderen aussetzen.
(Welch ein Unterschied zu Heidegger und denen, die, wie er, aus dem Gedicht eine Wahrheit ziehen, wobei die Erscheinung des Gedichts als solchem unbeachtet bleibt! Hier und dort macht Werner darauf aufmerksam.)
Celan schreibt

Das
Selbe
hat uns
verloren, das
11

und Hamacher entfaltet die Selbigkeit des Selben in seiner eigenen Unterscheidung, seiner Trennung, seiner Teilung.
Denn das Selbe kommt vom Anderen und kann nur vom Anderen kommen, über ein Chaos und eine Kluft. Ein Abgrund trennt uns – uns, das heißt ihn und mich ebenso12 wie die Welt und uns. Das Gedicht ist das Erscheinen dessen: von der Welt zur Sprache gekommen und von der Sprache zur Welt, die ihr fremd bleibt. Geteilt aus der Teilung gekommen.
Aber da noch, kein Nihilismus und kein fruchtbares Nein, denn das, was das Zwischen-Beiden besetzt, das Intervall der Teilung, ist eine wandernde leere Mitte.13 Eine Mitte, die herumwandert, umherschweift, herumspaziert: nicht Nichts, kein Subjekt, aber eine Rührung, eine Aufregung, ein Anstoß.
Das ist so, wie es das Gedicht „À la pointe acérée“14 (Titel und Eigenschaft) zeigt, dass die Erze sich in ein Herzgewordenes wandeln.
Schlagendes Herz, Einer Anderer, du mir zu, Pause und Wiederaufnahme, Aufsagen der Verse, Hebung/Senkung, Sein und Denken, Poem und Noem, Paul und Werner.

Jean-Luc Nancy, September 2018, Vorwort
(Aus dem Französischen von Peter Trawny)

 

 

Inhalt

– Vor-Rede von Jean-Luc Nancy

– HÄM. Ein Gedicht Celans mit Motiven Benjamins

– Versäumnisse. Zwischen Theodor W. Adorno und Paul Celan

– WASEN. Um Celans Todtnauberg

– Epoché Gedicht, Celans Reimklammer um Husserls Klammern

– Tò autó, das Selbe, – –

– Suggestions des mèrrances

– Quellennachweis

 

Der 2017 verstorbene Werner Hamacher

genießt auch über die engeren Grenzen seines Faches hinaus einen legendären Ruf. Durch seine Verbindung von solidester germanistischer Philologie und deutsch-französischer Philosophie hat er sich in seinen Texten eine einzigartige, international gehörte Stimme gegeben. Eine überaus entwickelte Selbstkritik hat ihn zu Lebzeiten davon abgehalten, seiner Bedeutung mit einer angemessenen Anzahl von Publikationen Nachdruck zu verschaffen.
Keinmaleins enthält Hamachers Texte zur Dichtung Paul Celans; einer Dichtung, die Hamacher zeit seines Lebens erstaunlich intensiv interpretierte. Der Band wird von einem Vorwort des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy eingeleitet.

Verlag Vittorio Klostermann, Klappentext, 2019

 

Literaturanalyse im Kontext am Beispiel von Paul Celan

Werner Hamacher (1948–2017) war Literaturtheoretiker und Übersetzer. Er lehrte als Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Hamacher war Schüler von Jacques Derrida und beschäftigte sich mit dessen Konzept der Dekonstruktion.
Der Verlag Vittorio Klostermann gibt in diesem Band der Roten Reihe sechs Aufsätze Hamachers zu Paul Celan (1920–1970) heraus. Bei fünf Aufsätzen steht jeweils ein Gedicht von Celan im Vordergrund. Der Aufsatz „Versäumnisse“ widmet sich dem Briefwechsel zwischen Celan und Adorno.
Die Arbeitsweise Hamachers ist einerseits literaturwissenschaftlich präzise und seziert das Gedicht in jeglicher sprachlicher Hinsicht. Andererseits steht das Gedicht in einem persönlichen, kommunikativen und eventuell sogar philosophischen und historischen Kontext.
Exemplarisch wird in dieser Rezension der Aufsatz Werner Hamachers zum Gedicht „Todtnauberg“ (1968) näher betrachtet. Werner Hamacher stellt das Gedicht in den Zusammenhang mit dem (weiteren) Austausch Paul Celans mit Martin Heidegger (1889–1976).
Werner Hamacher berichtet über eine Vorgeschichte in Bezug auf die missbräuchliche Nennung des Namens „Celan“ in der Gratulantenliste der Heidegger-Festschrift zu dessen 70. Geburtstag 1959. Im Anschluss an eine Lesung in Freiburg einige Jahre später wurde Paul Celan nach einem gemeinsamen Abendessen vom emeritierten Philosophen, der sich als Anhänger der Dichtung Celans bezeichnete, zu einem Tagesausflug auf seiner Berghütte in Todtnauberg eingeladen. Paul Celan selbst war wohl als Kenner der Philosophie Heideggers an einer Begegnung mit dem Philosophen interessiert. Die Einladung zur Wanderung ins Hochmoor soll er jedoch „widerstrebend“ angenommen haben. Um die Rektoratsrede wissend hat er in der persönlichen Begegnung auf ein „kommendes Wort“ zur Distanzierung gegenüber Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus gewartet. Diese Erwartung wurde bei diesem ersten Besuch bei Heidegger und auch danach offensichtlich enttäuscht. Werner Hamacher zitiert in diesem Zusammenhang den Eintrag Celans ins dortige Gästebuch, in dem er neben dem Dank auch seine enttäuschte Erwartung ausgedrückt hat.
Das Gedicht „Todtnauberg“ das der Dichter sofort nach Erscheinen im Jahr 1968 Heidegger in der Druckfassung einer Schmuckausgabe hat zusenden lassen, hat dieser selbst als „Ermunterung und Mahnung“ (S. 138) aufgefasst. Werner Hamacher hingegen stellt die Auffassungen Heideggers und Celans von Dichtung gegeneinander. Während für Heidegger Dichtung eine Zuarbeit des Denkens ist und ein Wahrheitszeugnis, stellt Celan Brüche und Dissonanzen heraus.
Werner Hamacher resümiert diesen literarischen Konflikt folgendermaßen:

Celan hat ein Gedicht, ein sehr großes, geschrieben, das mehr als nur spricht, er hat es zunächst durch den Einzeldruck, dann durch die Aufnahme in Lichtzwang zu einem öffentlichen und in jedem Sinn offenen Brief gemacht, adressiert nicht nur an einen, sondern an einen Jeden und in einem Jeden an Niemand. Heidegger hat das Geschenk, das ihm damit gemacht war, nicht verstanden, nicht aufgenommen und nicht beantwortet. Die Worte, mit denen er es charakterisiert, sind genau diejenigen, die von diesem Gedicht dementiert werden. (S. 140)

Wenn ich mich im Überblick über die fünfzigseitige Gedichtinterpretation frage, woher Werner Hamacher dieses schroffe Urteil nimmt, so ist natürlich zunächst an die literarische Interpretation zu denken: Die Strophen des Gedichts bilden einen unvollständigen Satz ohne Subjekt und Prädikat in parataktischer Fügung (Aneinanderreihung, d. Rez.). Auf die Eintragung ins Gästebuch wird rekurriert, ohne ein vollständiges Zitat zu liefern. Was in diesem Gedicht noch Zitat ist, ist Interpretation. Darauf deuten akzentuierte Variationen, Syntagmata, die auf eine Zusammensetzung konkreter Bezüge deuten, was ja auch durch die Überschrift angedeutet wird.
Doch beziehen sich die Anspielungen nur auf das Erlebnis des Spazierganges und die Gespräche in der Hütte, oder sind zugleich indirekte Anspielungen auf Heideggers Schriften anzunehmen, die Werner Hamacher gleich reihenweise findet?
Spielen die Würgelaute in den aneinandergereihten Worten ein Rolle, um ein Gefühl auszudrücken? Sind „Wasen“ mehr als nur Feuchtwiesen, Anspielungen auf Kadaverbeerdigungen und somit auf Friedhöfe? Ist es gar eine Abwandlung des von Heidegger so geliebten Begriffes „Wesen“, eine Paronomasie?
In vielen phonetischen Andeutungen liest Werner Hamacher verwandte Begriffe heraus, die er als Subtext bezeichnet. So wird aus dem doppelten Wort „Orchis“ gleich ein Orkus, ein Name des Todes wie er auch im Ortsnamen „Todtnauberg“ anspielt.
Interessant ist die Frage der Topologie. Wäre nach Heidegger die Sprache Topos des Seins, so wäre in diesem Gedicht die Abkehr von Tropen und Metaphern ein Blick auf die zwischen dem Dichter und dem Denker stehenden Ereignisse des Nationalsozialismus.
Doch warum besuchte Paul Celan Heidegger dann überhaupt? Wäre etwa das Gespräch im Auto, mit dem Heidegger Celan aus Freiburg abgeholt hat, eine Gelegenheit gewesen, einander etwas zu sagen, was diese Situation bereinigt hätte, und bot stattdessen nur „krudes“ Gerede? Doch warum dann zugleich auf der Symbolebene nach dem Fährmann als Bild des Todes zu fragen.
Doch was ist wirklich „Subtext“, also bewusst vom Dichter so gesetzt, und was ist Interpretation? Werner Hamacher beweist in diesem Fall schon eine Nähe zur Dekonstruktion, indem er hier die Frage nach einer objektiven Interpretation gar nicht zulässt, sondern aufzeigt, in welche inhaltlichen, sprachlichen und assoziativen Ebenen dieses Gedicht führt. Es grenzt nicht ein, indem es Wahrheit definiert, sondern öffnet und lädt zur Auseinandersetzung ein.
Um zur Lektüre gerade einzuladen und sie nicht gänzlich vorwegzunehmen, soll zum Schluss ein Zitat stehen, dass aber auch hier im Aufsatz nicht am Ende steht:

Celans Dichtung ist nicht einfach ‚unterwegs zur Sprache‘, sie ist unterwegs zur Sprache dessen, was keine hat, und zu dem, was in keinem Sinn eine ist. Sie ist aber auch unterwegs zu der Stummheit derer, denen es die Sprache verschlagen hat. Und zum Schweigen derjenigen, die über diese Stummheiten und dieses Schweigen, auch wenn es sie würgt, sprechen müssten. (S. 130)

Christoph Fleischer, amazon.de, 16.3.2019

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Tillmann Reik: Werner Hamacher: Keinmaleins. Ma(h)(l)-Nehmen: Aparté to autom
fichue, 17.4.2019

Vincent Sauer: Ein großer Philologe liest einen großen Dichter
fixpoetry.com, 21.2.2019

 

Audioaufzeichnung der Veranstaltung A Coming Word: Werner Hamacher, Paul Celan am 10.10.2019 am NYU Center for the Humanities

 

„Am Rande seiner selbst“

– Paul Celan und das Ende der modernen Poesie. –

1
Paul Celan gilt vielen inzwischen als ein Fall von kulturgeschichtlicher Relevanz: Ein verfolgter osteuropäischer Jude, der nach dem Holocaust, dem auch seine Eltern zum Opfer fielen, nach Westeuropa floh, von Bukarest über Wien nach Paris; der als Emigrant in Frankreich lebte, aber deutsch schrieb, obwohl er mit den Deutschen zerfallen war; der schwer erkrankte und mehrmals psychiatrisch behandelt werden musste; und der sich schließlich, noch vor seinem 50. Geburtstag, das Leben nahm. Sein Tod wurde oft mit seiner Verfolgung in Verbindung gebracht und als Freitod eines Überlebenden gedeutet, der mit der Last des Überlebens und der Angst vor neuer Verfolgung und Krankheit nicht mehr existieren konnte.
Am Beispiel Celans ist seither viel verhandelt worden, nicht zuletzt der Antisemitismus in der jungen Bundesrepublik. Gleichwohl ist Celan zunächst ein literaturgeschichtlicher Fall: ein moderner Dichter, der als Dichter zu würdigen ist. über seine Literatur statt über sein Leben zu sprechen, heißt nicht, sein Leiden zu missachten. Es ist in seine Gedichte eingegangen, manchmal deutlich, manchmal nicht gleich erkennbar, aber immer künstlerisch bearbeitet, mitunter verschlüsselt.
Dass er sich auf Ereignisse seines Lebens literarisch verfremdet und eher in Anspielungen bezog, gehört wesentlich zur Eigenart des Dichters Celan. In einem emphatischen Sinn verstand er sich als Künstler. „Der Meridian“, seine Rede zur Verleihung des Büchnerpreises, handelt, vom ersten Satz an, von nichts anderem als der Kunst, ohne sie jedoch, wie bei dem Anlass naheliegend, einfach zu feiern. Die Poetik, die Celan, ausgehend von Büchner, entwirft, betont, dass Kunst durchaus „etwas Unheimliches“15 habe (Gesammelte Werke, Band III, S. 192). Das trifft auch auf seine eigene Lyrik zu, nicht nur auf die „Todesfuge“, auch etwa auf einige der auf sein Leben bezogenen Verse in Fadensonnen.
Bereits bei Büchner, diesem „Dichter der Kreatur“, entdeckte Celan eine „im eigentlichen Sinne radikale In-Frage-Stellung der Kunst“ (Gesammelte Werke, Band III, S. 192f.), „eine In-Frage-Stellung, zu der alle heutige Dichtung zurück muß, wenn sie weiterfragen will“:

Dürfen wir, wie es jetzt vielerorts geschieht, von der Kunst als von einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden ausgehen, sollen wir, um es ganz konkret auszudrücken, vor allem – sagen wir – Mallarmé konsequent zu Ende denken?

 

(Gesammelte Werke, Band III, S. 193)

Man hat diesen radikalen Ansatz oft als Reaktion auf den Holocaust verstanden: auf die von Adorno behauptete Problematik von Gedichten nach Auschwitz.16 Davon ist aber im „Meridian“ nicht ausdrücklich, allenfalls in der Anspielung auf den von Celan zitierten „20. Jänner“ (III, 194), der auch das Datum der Wannsee-Konferenz ist, die Rede. Der Name Mallarmé steht vielmehr für einen Prozess der modernen Poesie, der für Celan etwa „Schwierigkeiten der Wortwahl“, das „Gefälle der Syntax“ und den „wacheren Sinn für die Ellipse“ (Gesammelte Werke, Band III, S. 197) hervorgebracht hat. Es ist der Weg des extremen Experiments, das der Sprache alles Selbstverständliche nimmt und sie an ihre Grenzen führt:

das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen

 

(Gesammelte Werke, Band III, S. 197)

Für Celan ist damit die prekäre Situation der modernen Poesie bezeichnet, ohne dass er sich ganz in die Nachfolge Mallarmés stellen würde:

das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst

 

(Gesammelte Werke, Band III, S. 197)

Jenseits aller Themen und Motive hat Celan mit diesem Satz den literarhistorischen Ort seiner Lyrik angegeben: die im fortgesetzten, immer radikaleren Traditionsbruch auch vor dem Hintergrund der Geschichte der Judenverfolgung zu Ende gedachte und geschriebene Poesie der Moderne.

2
In seiner Büchnerpreis-Rede hat Celan das Gedicht als „gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen“ (Gesammelte Werke, Band III, S. 197f.) bezeichnet. Auch er hat auf eigene Weise Sprache gestaltet, und zwar fast ausschließlich poetisch. Er war vor allem Lyriker, daneben Übersetzer, eher nebenbei auch Prosaist. Er hat nur einen Text veröffentlicht, den man als erzählend bezeichnen kann, „Das Gespräch im Gebirg“, und nur eine bedeutende, poetologische Rede gehalten, „Der Meridian“. Ansonsten ist seine Prosa zu einem großen Teil fragmentarisch geblieben.17 Celan ist damit ausschließlicher Lyriker als jeder andere bedeutende Autor seiner Generation, etwa ein Günter Grass, ein Hans Magnus Enzensberger oder ein Peter Rühmkorf. So reichhaltig und bedeutend auch sein übersetzerisches Werk ist – als Lyriker hat Celan Ruhm erlangt, als Lyriker ist er in erster Linie zu würdigen.
Für viele ist er vor allem ein jüdischer Dichter.18 Dafür steht sein bekanntestes Gedicht „Todesfuge“.19 Dafür stehen auch zahlreiche andere Gedichte, die sich mit dem Judentum beschäftigen, etwa an jüdische Schriftsteller von Heinrich Heine über Franz Kafka bis zu Ossip Mandelstam anschließen, schließlich biblische Motive und Figuren aufgreifen. Gleichwohl weisen große Teile seines Werkes keinen manifesten Bezug zum Judentum auf. Auch sie hat man, in einem tieferen, versteckten oder verborgenen Sinn, als jüdisch, mitunter auch als insgeheim kabbalistisch verstehen wollen. Doch ist kaum zu übersehen, dass Celan, trotz des vom Vater gewünschten Besuchs einer hebräischen Grundschule, durch das assimilierte deutschsprachige Judentum seiner Geburtsstadt Czernowitz geprägt war. Noch in dem Nelly Sachs gewidmeten Gedicht „Zürich, Zum Storchen“ hat er seinen Atheismus betont:

Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort.

 

(Gesammelte Werke, Band I, S. 214)

Schon früh hat Celan mehr literarisches als religiöses Interesse gezeigt und bevorzugt nicht-jüdische Schriftsteller wie Arthur Rimbaud und Stéphane Mallarmé gelesen, nicht zuletzt auch Rainer Maria Rilke, der eine poetische Orientierungsfigur für ihn blieb. Celan steht erkennbar in einer Tradition moderner Lyriker.
Viele von ihnen hat er übertragen: außer Rimbaud und Mallarmé auch einige, ungefähr eine Generation ältere Dichter wie Jules Supervielle, Guillaume Apollinaire und Henri Michaux, ferner Alexander Blok, Sergej Jessenin und Ossip Mandelstam. Celans Tradition schließt auch deutschsprachige Autoren der Moderne ein, neben Rilke vor allem Georg Trakl. Deutlich ist dagegen sein Abstand zu Bertolt Brecht und Gottfried Benn, den beiden großen Referenzfiguren der avancierten westdeutschen Lyrik nach 1945.
Marie Luise Kaschnitz hat in ihrer Laudatio zur Verleihung des Büchnerpreises von Celan gesagt, dass er an der „Bildung eines neuen Stils“20 gearbeitet habe, „der sowohl natürlich wie künstlich, sowohl persönlich wie überpersönlich ist“.21 Sie hat damit die eigentümliche Mischung benannt, die Celans Sprache ausmacht, als individuelle und zugleich typisch moderne, die sich der Tradition des Traditionsbruchs, des Neu-Machens und Neu-Sagens verpflichtet weiß und auf eigene Weise noch einmal über sie hinauszugehen versucht.
Celans Gedichte22 sind, von wenigen Ausnahmen wie dem Zyklus „Engführung“ abgesehen, oftmals kurz, nicht selten nur vier, fünf oder sechs Zeilen lang, wie nicht wenige etwa in Schneepart. Zumeist hat Celan freie Verse gewählt, auch sie sind oft kurz, mitunter bestehen sie, zumal am Gedichtende, bloß aus einem Wort oder Wortteil, so etwa in „LARGO“: „Meta- / stasen.“ (Gesammelte Werke, Band III, S. 356) Die freie Versgestaltung hat er immer wieder benutzt, um einzelne Ausdrücke hervorzuheben, was er „Begegnungen mit / vereinzelten Wörtern“ nannte (Gesammelte Werke, Band I, S. 192).
Einige Merkmale seiner lyrischen Sprache fallen auch linguistisch sogleich auf. Zu ihr gehören elliptische Sätze wie „Der Stein.“ (Gesammelte Werke, Band I, S. 164); Wortwiederholungen wie „Sprach, sprach. War, war.“ (Gesammelte Werke, Band I, 202); seltene Wörter, so etwa in „NIEDRIGWASSER“ Ausdrücke wie „Seepocken“, „Napfschnecken“, „Kriechfurchen“ (Gesammelte Werke, Band I, S. 193); schließlich kühne Metaphern, von denen nur die bekannteste die „schwarze Milch der Frühe“ ist. Viele Wörter, die Celan verwendet, sind erlesen im doppelten Sinn: entweder wenig gebräuchlich oder übernommen von anderen Autoren. Nicht selten hat er, an sie anschließend, sie umkreisend, seine Gedichte geschrieben. Erkennbar ist dabei seine Suche nach dem unverbrauchten, durch früheren und anderen als dichterischen Gebrauch unbelasteten Wort.
Celans Bemühung um Verknappung und Verdichtung, die er etwa kurz vor Abschluss der Arbeit an Atemwende in einem Brief an seine Frau vom 8. März 1967 bekannte,23 ist ebenso unübersehbar. Ihr verdanken sich unvollständige, Bezüge offen lassende Sätze und gewichtige Wörter, die eine Fülle von Referenzen und Assoziationen eröffnen. Beides gilt etwa für

COAGULA
Auch deine
Wunde, Rosa.

 

Und das Hörnerlicht deiner
rumänischen Büffel
an Sternes Statt überm
Sandbett, im
redenden, rot-
in aschengewaltigen Kolben.

 

(Gesammelte Werke, Band II, S. 83)

Das kurze Gedicht besteht aus zwei elliptischen Sätzen ohne Prädikate. Schon der grammatische Status von „Wunde“ und „Hörnerlicht“ bleibt ungeklärt. Unentscheidbar ist, ob sie im Nominativ oder im Akkusativ stehen, also Subjekt oder Objekt sind. Mehrdeutig ist auch das Wort „Rosa“. Es bezieht sich in diesem Gedicht zunächst auf Rosa Luxemburg und deren berühmten Brief über geschundene rumänische Büffel, die sie im Frauengefängnis von Breslau erlebte.24 Es bezieht sich aber auch auf die Beschreibung der Wunde des kranken Jungen in Franz Kafkas Erzählung Ein Landarzt, in dem die Magd des Mediziners gleichfalls Rosa heißt – ebenso wie eine Jugendfreundin Celans.25 Ein solches literarisch und biographisch anspielungsreiches Verfahren entzieht seine Gedichte einem schnellen Verstehen.
Auffällig an Celans lyrischer Sprache ist schließlich mehr als das für die Gattung typische Ich – das Du-Sagen – das auch eine Form des Sprechens „in eines Anderen Sache“ (Gesammelte Werke, Band III, S. 196) darstellt, von dem in „Der Meridian“ die Rede ist. Dialogisch sind nicht nur an andere gerichtete Gedichte wie „Zürich, Zum Storchen“ oder „Grabschrift für François“. Im Gespräch mit Dichtern hat Celan immer wieder geschrieben, am bekanntesten ist seine Hölderlin-Hommage in „Tübingen, Jänner“ geworden, noch vor seinen an Brecht gerichteten Versen in „EIN BLATT“.
Celans Lyrik ist nicht selten artistisch verschlossen, schwer verständlich, hermetisch – auch wenn er das bestritten hat. Ihre Eigenart zeigt sich schon in ihrem zweideutigen Realitätsbezug. Einerseits beziehen sich seine Gedichte auf Dinge, Menschen und Ereignisse der Wirklichkeit, die sie schon mit Titeln wie „Assisi“ oder „In Prag“ avisieren. Sie referieren dabei nicht nur auf Privates, sondern ebenso auf Zeitgeschichtliches, zu dem auch, aber nicht allein die Vernichtung der europäischen Juden etwa in „Chymisch“ gehört.
Andererseits sprechen die Gedichte Celans über die Realität nicht in üblicher, auch nicht in literarisch üblicher Weise. Sie stellen insbesondere keine Erlebnislyrik dar – selbst wenn sie, wie Peter Szondi für das Berlin-Gedicht „Du liegst im großen Gelausche“ aus Schneepart nachgewiesen hat, immer wieder auf „reale Erfahrungen“26 zurückgehen.

DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.

 

Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –

 

Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –

 

Der Mann ward zum Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –

 

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.

 

(Gesammelte Werke, Band II, S. 334)

Szondi hat die Berliner Erlebnisse Celans rekonstruiert, die in dieses Gedicht eingegangen sind. Seine Analyse mag einen paradoxen Effekt gehabt haben: Was vorher ganz verschlüsselt erschien, ohne Realitätsbezug, wirkt nun auf einmal allzu deutlich referenziell. Allerdings hat Szondi zu bedenken gegeben, ob sogar in einem solchen auf konkrete Erfahrungen bezogenen Gedicht „der Fremdbestimmung, den realen Bezügen, nicht eine Selbstbestimmung die Waage hält“.27 Diese „Selbstbestimmung“ besteht wesentlich in der Aufhebung realer durch poetische Bezüge. In diesem Sinn poetisch ist etwa die kühne Motivverknüpfung, die das Doppelmotiv der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts und der Hinrichtung der Verschwörer des 20. Juli mit dem Weihnachtsmotiv zusammenbringt.28 Diese Motive werden nicht, wie es bei einem Erlebnisgedicht der Fall wäre, in der Geschehensfolge chronologisch, sondern assoziativ verknüpft: Der objektive Zusammenhang wird durch einen subjektiv poetischen überformt.
Das Gedicht beginnt mit einem Gegensatz, dem zwischen der Ruhe des Liegens in der ersten und der Bewegung des Gehens in der zweiten Versgruppe. In ihr schon folgt es dann den verborgenen Doppeldeutigkeiten einiger Wörter. Das sind zum einen Wörter, die sich auf den ersten Blick als semantisch konträr darstellen, wie „Fleischerhaken“ und „Äppelstaken“, aber bei näherem Hinsehen geheime Entsprechungen aufweisen – wenn man nämlich bedenkt, dass die „Äppelstaken“ auch Pfähle sind.29 Das sind zum andern Wörter, die zunächst verwandt erscheinen, wie (Weihnachts-)„Gaben“ und „Eden“, dann jedoch ihre Gegensätzlichkeit zeigen – wenn man nämlich mit „Eden“ nicht den Paradiesgarten, sondern das Hotel meint, in das Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vor ihrer Ermordung gebracht wurden. Indem die Assoziationen immer mehr den Wortbedeutungen folgen und zwischen ihnen Verbindungen herstellen, lassen sie, bei allem Realitätsbezug, eine realistische Rede-Weise gar nicht erst entstehen. Sie wird vollends unmöglich angesichts kühner Metaphern wie „Du liegst im großen Gelausche“ oder „Es kommt der Tisch mit den Gaben, / er biegt um ein Eden“ (Gesammelte Werke, Band II, S. 334).
Diese Verfremdung geht in den späten Gedichten so weit, dass der noch immer intendierte Realitätsbezug ohne gezielte Hinweise kaum noch zu entschlüsseln ist. Celan stilisiert die Wirklichkeit nicht nur unablässig mit Hilfe mythischer, biblischer oder poetischer Zitate und Anspielungen,30 er mag sie nicht nur Mal um Mal auf verblüffende Weise theologisch interpretieren31 – er transzendiert sie auch zusehends. Selbst wenn er von Wirklichkeit spricht, meint er nicht unbedingt Fakten, sondern die „Wahrheit“ (Gesammelte Werke, Band II, S. 138). Wahrheit ist aber für Celan kein logischer oder empirischer, sondern ein sprachmystischer Begriff.32 Die Suche nach der Wahrheit führt seine Gedichte, je länger, umso mehr, an die Grenzen der Sprache – weniger (wenngleich auch) in dem Sinn, dass sie sie zum Verstummen brächte, zum Verstummen vor dem Grauen der Juden-Vernichtung oder angesichts der Aporien poetischen Sprechens über diese Katastrophe in der Sprache ihrer Organisatoren. Die Suche nach der Wahrheit führt die lyrische Rede Celans vielmehr an eine neue Sprache heran, die ihm Ziel, Erfüllung und möglicherweise sogar Ende allen Sprechens ist. Man kann sie utopisch-messianisch nennen, weil sie – noch – keinen Ort in unserer Wirklichkeit hat,33 nur im Schreiben dieses Autors. Man kann sie aber auch, ohne theologische Akzente, eine neue Sprache nennen, die durch Dichtung geschaffen werden soll.
Diesem Sprechen nähert sich Celan poetisch vor allem im „Namen“-Geben, das ihm als ein Nennen jenseits des „Gesagten“ (Gesammelte Werke, Band II, S. 38) gilt. Zu diesem „Namen“Geben gehört das in freien Versen wirkungsvoll gestaltbare Lallen, Stammeln oder Stottern, das er schon in „Tübingen, Jänner“ nicht nur postuliert, sondern auch praktiziert hat: „Käme, / käme ein Mensch“, heißt es da am Ende,

käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der Patriarchen: er dürfte,
spräche er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen,
immer-, immer-
zuzu.

 

(„Pallaksch. Pallaksch.“)

 

(Gesammelte Werke, Band I, S. 226)34

Dieses Stammeln und Stottern ist nur vorderhand ein defizientes Sprechen. Tatsächlich ist es Glossolalie, Rede eines Erleuchteten, der die Wahrheit, auch die Wahrheit über die Wirklichkeit „dieser Zeit“ (Gesammelte Werke, Band II, S. 323), auf konventionelle Weise nicht mehr ausdrücken kann.35 Nicht zufällig ist es das Stammeln eines Dichters.
Zum „Namen“-Geben gehört weiter, als seine vielleicht wichtigste Form, das metaphorische Sprechen, zumal das Sprechen in kühnen Metaphern. Kennzeichnend für sie sind neben der Dominanz bestimmter Bildbereiche – etwa geologischer, mineralischer, botanischer, anatomischer, optischer und astrologischer wie Schnee, Stein, Blume, Herz, Auge, Stern36 – einerseits die Verschränkung konkreter und abstrakter Lexeme, oft in zwei- oder dreigliedrigen Komposita wie „Lichtton“, „Wortmond“, „Zeitenschrunde“, „Lebensgehöft“, „Engholztag“ oder „Beilschwärme“ (Gesammelte Werke, Band II, S. 26, 29, 31, 42, 46, 250), und andrerseits Negationen wie „Niemandsrose“, „Niemandes Wurzel“ oder „Nimmermenschtag“ (Gesammelte Werke, Band I, S. 225, 239, 275).
Solche Ausdrücke mögen an die Metaphern Rilkes erinnern.37 Vor allem an dessen Spätwerk hat Celan auf mannigfache, stets eigenständige Weise angeknüpft – stilistisch etwa in der Anlehnung an den pathetischen Ton der Duineser Elegien, dem er jedoch die hymnischen Obertöne nahm, oder thematisch in der Reflexion Rilke’scher Gedanken wie zum Beispiel in dem nicht vollendeten Zyklus „Eingedunkelt“, der sich auf die fünfte Duineser Elegie bezieht. Die Nähe der Bildersprache Celans zu der Rilkes zeigt sich nicht nur in der Übernahme einiger zentraler Motive wie des Atem-, des Rosen- oder des Herzmotivs. Sie manifestiert sich noch deutlicher in einer Verknüpfung dieser Motive, die nicht selten schon bei Rilke vorgeprägt ist. So gehen beispielsweise Celan’sche Verse wie

Schlüsselgeräusche oben,
im Atem –
Baum über euch:
das letzte
Wort, das euch ansah
soll jetzt bei sich sein und bleiben

 

(Gesammelte Werke, Band I, S. 245)

offensichtlich auf die Metapher vom Atem als „Rinde, / Rundung und Blatt meiner Worte“38 aus dem ersten der Sonette an Orpheus des zweiten Teils zurück. Ebenso hat Celans berühmtes Bild der „Niemandsrose“ seinen Vorläufer unübersehbar in Rilkes Wort von der Rose als „Niemandes Schlaf“.39
Die kühnen Bilder scheinen bei Celan, ähnlich wie bei Rilke, ein Mittel zu sein, das Gerade-noch-Sagbare zu sagen. Anders aber als Rilke, der in der neunten Duineser Elegie programmatisch das Sagbare preist, drängt Celan in seiner Lyrik darüber hinaus. Schon bei einem Ausdruck wie „Niemandsrose“, dem die veranschaulichende Funktion auch der kühnen Metaphern Rilkes fehlt, mag es zweifelhaft sein, ob und wieweit er überhaupt noch referenzialisierbar – und metaphorisch ist. Ähnlich wie die Bilder Trakls kennen viele Ausdrücke Celans nur mehr einen semantischen Bezug auf „die in Wörtern vertretenen Vorstellungskomplexe, aber nicht auf die sonst den Vorstellungskomplexen zuzuordnenden Dinge und Sachverhalte“.40
Mehr aber noch als die Sprache Trakls wird die Celans immer esoterischer im ursprünglichen Sinn des Wortes – am deutlichsten wohl in den beiden posthum veröffentlichten Gedichtbänden Lichtzwang und Schneepart. In ihnen verwendet er die Wörter vollends unkonventionell, ja gegen die Konvention, als eine „Sprache gegen die Sprache“,41 die die herkömmlichen Wortbedeutungen negiert. Typisch für diese späte Lyrik ist ein Gedicht wie das folgende aus Lichtzwang das allgemein als programmatisch gilt:

FAHLSTIMMIG, aus
der Tiefe geschunden:
kein Wort, kein Ding,
und beider einziger Name,

 

fallgerecht in dir,
fluggerecht in dir,

 

wunder Gewinn
einer Welt.

 

(Gesammelte Werke, Band II, S. 307)

Solche Verse sind rätselhaft in mehr als einer Hinsicht. Was sie meinen, ist ebensowenig präzise zu explizieren wie das, was sie sagen, weil es so, wie sie es sagen, in keine andere Sprache mehr zu übersetzen ist. Zwar mag es um Sprache und im näheren um eine Sprache der „Namen“ in diesen Zeilen gehen; zwar mag es auch semantische Beziehungen zwischen einzelnen Wörtern geben: etwa zwischen „fahlstimmig“, „Wort“ und „Name“, zwischen „Tiefe“, „fallgerecht“ und „fluggerecht“. Doch ist die Aussage der Verse mit letzter Sicherheit nicht zu bestimmen. Das Gedicht benutzt zum Teil noch konventionelle Wörter, aber es benutzt sie nicht mehr auf konventionelle Weise. Es hat offensichtlich seine eigene Semantik und seine eigene Syntax, was sich etwa an dem „und“ der vierten Zeile zeigt. Deshalb muss auch unentschieden bleiben, was hier logisch und was unlogisch, was metaphorisch und was nicht-metaphorisch ist. Nicht nur die Bedeutung, auch der Sinn solcher Rede scheint kaum aufhellbar dunkel.
Bernhard Böschenstein hat, ausgehend von diesem Gedicht, festgestellt, dass im Spätwerk Celans kein Bezug mehr zwischen der Sprache der Gedichte und den Gegenständen der empirischen Welt besteht: Die Wörter der Gedichte nennen keine Dinge mehr, und für die Dinge gibt es in ihnen keine Wörter mehr. „An beider Stelle tritt“, so Böschenstein, „der Name, der diesen Bezug gerade ausschließt: aus dem Namen läßt sich das Wesen des Benannten gerade nicht herauslesen“.42 Diese Feststellung gilt vor allem in der Negation. Allein was die Namen, von denen Celan zuletzt spricht, nicht leisten, scheint klar zu sein; sie sollen auf herkömmliche Weise keine Gegenstände der empirischen Realität mehr bezeichnen. Was sie hingegen positiv leisten, ob sie nicht etwa doch etwas über das Wesen des Benannten verraten, muss offen bleiben. Denn es macht gerade die Eigenart solcher „Namen“ aus, dass sie zu einer Art zu sprechen gehören, die mit den Konventionen unseres Redens und Denkens gebrochen hat.
Dass „noch Lieder zu singen“ sind „jenseits / der Menschen“ (Gesammelte Werke, Band II, S. 26), mag Celan tatsächlich angenommen haben. Die beiden Zeilen „komm mit mir zu Atem / und drüber hinaus“ (Gesammelte Werke, Band III, S. 149) aus „Eingedunkelt“ nennen ein weiteres Schlüsselwort: darüber hinaus. Celans späte Gedichte sind in ihrem fortschreitenden Verzicht auf empirische Referenzialisierbarkeit als äußerster Vorgriff auf das neue Sprechen gemeint, dessen Ort in den Nachlass-Gedichten den Namen „Jerusalem“ trägt.43 Sie sind im konventionellen Sinn notwendig unverständlich, hermetisch. Ihre Sprache ist in der Tat ,absolut‘ – so ,absolut‘ wenigstens, wie Rede überhaupt nur sein kann: ohne Bezug auf die uns bekannte Welt, ohne Bezug auch auf die üblicherweise in den Wörtern repräsentierten Vorstellungen. Was sie sagt, ist für den Außenstehenden kaum zu bestimmen. So ist die späte Lyrik Celans mitunter auch kaum noch wissenschaftlich zu interpretieren, allenfalls zu kommentieren: als lyrische Rede am äußersten Rand ihrer Möglichkeiten.
Allerdings mögen Gedichte wie „DIE LIEBE“, „ZUR NACHTORDNUNG“, „ICH SCHREITE“, „AN DIE HALTLOSIGKEITEN“ oder „DAS NICHTS“ auch den Autor am Rand seiner selbst zeigen. In seiner Bemühung um ein neues, nur durch Dichtung gewährleistetes Sprechen findet eine experimentelle Anstrengung der modernen Poesie ihren Abschluss, die bei Celan mit der radikalen Abkehr von einer konventionellen, historisch belasteten Verwendung des Deutschen als Sprache der Täter zusammenfällt, schließlich auch mit der eigenen existenziellen Krise.

3
Die Gedichte Celans sind nicht alle gleichermaßen sprachlich radikal. Auch wenn sich viele nicht nur einem schnellen Verstehen verschließen, sind ihm doch auch immer wieder Verse gelungen, die von unmittelbarer Eindringlichkeit sind. Zu ihnen gehört in Atemwende

EIN DRÖHNEN: es ist
die Wahrheit selbst
unter die Menschen
getreten,
mitten ins
Metapherngestöber.

 

(Gesammelte Werke, Band II, S. 89)

Man muss den vermutlichen Anlass des Gedichts – den Frankfurter Auschwitzprozess – nicht kennen,44 um den Worten, selbst der kühnen Metapher vom „Metapherngestöber“, eine Bedeutung abgewinnen zu können: Das Aussprechen der Wahrheit als ein machtvoll-klärendes Geschehen. Nicht zuletzt in seiner Kürze bewahrt das Gedicht etwas von solcher Wucht. In seiner Lakonie zeugt es von einer Kraft der Konzision, die immer wieder sich dem Gedächtnis fast unauslöschlich einprägende Sätze wie „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ und andere hervorgebracht hat. Solche Gedichte dürfen letztlich für die Frage nach dem Rang Celans wichtiger sein als die Suche nach Missglücktem und ästhetisch Zweifelhaftem, das es in seinem Werk auch gibt.45

4
Paul Celan war nie ein Autor für das große Publikum. Nur eines seiner Gedichte ist weithin bekannt und berühmt geworden, die „Todesfuge“, dank der eindringlichen Bilder, die es für seinen Gegenstand gefunden hat. Keinem anderen Gedicht Celans war und ist solche Popularität vergönnt gewesen. Das gilt für die meisten anderen Lyriker der Moderne ähnlich; ihre Poesie war, je avancierter, umso mehr, meist nur von Interesse für eine Minderheit, nicht selten für eine sehr kleine.46 Die Schwierigkeiten, die moderne Poesie ihren Lesern bereitet, kennzeichnen auch die Lyrik Celans: das Misstrauen gegen jede sprachliche Konvention, das ständige Innovation verlangt; ein bis zur Erschöpfung des sprachlichen Materials gehendes Experimentieren; eine Radikalität des Sprachgebrauchs, die Verstehen erschwert. Celan ist zudem ein Autor, der aus einer eigenen, keineswegs nur jüdischen, heute weitgehend historisch gewordenen Bildungswelt heraus schreibt. Seine hermetische Lyrik zu verstehen, verlangt deshalb mehr Wissen, als die meisten Leser inzwischen haben und haben können. Sie zu erschließen, bedarf es der Philologie, die sich Celans Werk schon früh zugewandt hat. Der unmittelbare Zugang zu ihm scheint meist versperrt.
Das alles mag, mehr oder weniger, auch für andere avancierte Lyrik der Moderne gelten. Hinzu kommt jedoch eine Besonderheit Celans, die schon Marie Luise Kaschnitz erkannt hat. In ihrer Laudatio erwähnt sie seine „eigentümliche Fähigkeit, den Vorgängen seines Inneren Welt anschließen zu lassen, wo und wann immer er will“.47 Man kann das, wenn es gelingt und in seinem Gelingen überzeugt, als poetische Souveränität loben. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass Celan, so Kaschnitz, „durch alle Stilwandlungen hindurch“ die „innere, nicht die äußere Welt“48 beschwöre. Vom Weltverlust vor allem der späten Lyrik Celans, als anderer Seite auch ihrer Spracherneuerung, ist schon früh gesprochen worden.49 Dieser Weltverlust ist ein Problem nicht nur für den Leser: Er wirft den Dichter auf sein Ich zurück, dessen Krise sich mitunter als kaum mehr kommunizierbare Einsamkeit mitteilt. Sie ist nicht allein, aber bei Celan auch und zunehmend eine schwerer Krankheit, in der das Du mehr und mehr verloren geht.
Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod ist Paul Celan historisch geworden, auch in literarischer Hinsicht gehört er einer anderen Epoche an. Die Tradition der Moderne, nicht bloß seine spezielle, ist den Lesern von heute noch weniger gegenwärtig, als sie es schon zu seiner Zeit war. Mit ihm vor allem endet weniger die deutsch-jüdische Literatur, wie seinerzeit oft verkündet wurde, als vielmehr die moderne deutsche Lyrik,50 nicht einmal ein Jahrhundert nach ihrem Beginn. Schon zu Lebzeiten setzte eine neue, zunächst postmodern genannte ein, deren wichtigster Vertreter Rolf Dieter Brinkmann wurde. Sie steht mehr als in einer europäischen in einer amerikanischen Tradition, die wesentlich auf die kurzen realistischen Gedichte eines William Carlos Williams zurückgeht. Ihre Themen sind meist der alltäglichen Wirklichkeit entnommen, sie ist programmatisch welt- und lebenszugewandt, ihre Sprache ist nah an der Umgangssprache, durch den Verzicht auf komplizierte Syntax und künstliche Metaphorik auch nicht schwer verständlich.
Diese Lyrik versteht sich als Teil einer die zeitgenössische Erlebniswelt – auch des Konsums – abschreibenden Pop-Literatur.51 Trotz ihrer Subjektivität, die vor allem eine der Perspektive ist, hält sie sich von komplexen existenziellen ebenso wie von großen politischen oder historischen Themen zumeist fern. Neben einer lektüregesättigten Artistik ist solche Alltagslyrik, als neue Form von Erlebnisdichtung, heute dominant. Ihr Abstand zu der Lyrik eines Paul Celan ist groß, für Leser von heute scheint er nur schwer noch überbrückbar zu sein.

Dieter Lamping, aus Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa (Hrsg.): Freipass. Paul Celan – Streitkultur – Deutsche Einheit, Ch. Links Verlag, 2020

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv + KalliopeInternet Archive

 

 

 

Paul Celan: Dichter ist, wer menschlich spricht. Ein Film von Ulrich H. Kasten und Hans-Dieter Schütt mit Eric Celan und Bertrand Badiou.

 

Gerhart Baumann hielt seinen Vortrag Paul Celan: Um-Wege zu sich und die offene Frage des Gedichts auf der Tagung Vom Sinn moderner Lyrik am 23. Januar 1971 im Haus der Katholischen Akademie in Freiburg.

 

 

Niemand zeugt für den Zeugen. 100 Jahre Paul Celan. Literarische Soirée am 30.9.2020 im Haus am Dom Limburg.

 

„wir wissen ja nicht, was gilt“ – Paul Celan zum 100. Geburtstag

 

Ein Abend zu Paul Celan am 18.5.2020 im Literaturhaus Berlin mit Hans-Peter Kunisch und Thomas Sparr. Es moderiert Eveline Goodman-Thau.

 

Paul Celan, Czernowitz & die „Todesfuge“. Helmut Böttiger berichtet.

 

Erreichbar, nah und unverloren. Reisen zu Paul Celan. Teil 1. Gespräch mit Helmut Böttiger.

 

Todesfuge – Biographie eines Gedichts. Alexander Suckel im Gespräch mit Thomas Sparr am 17.4.2020 im Literaturhaus Halle.

 

„Ästhetik und politische Dimension der Dichtung Paul Celans“. Mit Helmut Böttiger, Thomas Sparr und Monika Rinck; Moderation: Dieter Stolz am 23.11.2020 im Literaturforum im Brecht Haus.

 

Paul Celan in Europa – Videogespräch am 22.9.2020 im Rahmen der trilateralen Forschungskonferenzen 2020–2023 in der Villa Vigoni.

 

Paul Celan übersetzen – Gabriel Horatiu Decuble im Gespräch mit Ton Naaijkens und Alexandru Bulucz, Moderation Ernest Wichner am 6.11.2021 im Literaturhaus Halle im Rahmen der Tagung „Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden“.

 

Clément Fradin, Julia Maas und Michael Woll stellen Paul Celans Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor.

 

„Die Todesfuge. Zur Biographie eines Gedichts im Archiv“ – Thomas Sparr im Gespräch mit Jan Bürger, Kai Uwe Peter und Michael Woll

 

Michael Woll stellt Paul Celans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor. Im Mittelpunkt stehen dabei die Hölderlin-Bezüge in Celans Texten.

Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan

Zwischen „Grabschändern“ und „Linksnibelungen“. Wolfgang Emmerich im Gespräch mit Michael Braun über Paul Celans Verhältnis zu Deutschland und seinen deutschen Kritikern.

Carolin Callies, Ann Cotten, Daniela Danz, Aris Fioretos, Norbert Hummelt und Rainer René Mueller kommentieren Paul Celans Gedicht „Was es an Sternen bedarf“.

 

 

Paul Celan liest Gedichte in Jerusalem am 9.10.1969

Zum 50. Todestag von Paul Celan:

Daniel Jurjew / Klaus Reichert: Paul Celan: Ich sehe seine Hellsichtigkeit, bei anderem denke ich einfach: er übertreibt
Frankfurter Rundschau, 19.4.2020

Gregor Dotzauer: Das Eigene und das Andere
Der Tagesspiegel, 19.4.2020

Susanne Ayoub: Es ist Zeit, dass es Zeit ist
Der Standart, 19.4.2020

Sandro Zanetti: Akute Dichtung: Celans Zumutungen
Geschichte der Gegenwart, 19.4.2020

Friederike Invernizzi: Sprechen zwischen Wunde und Narbe
Forschung & Lehre, 19.4.2020

Frank Trende: Die bewegende Geschichte der Todesfuge
shz.de, 19.4.2020

Dunja Welke: Paul Celan – Ein zerrissener Dichter
RBB, 18.4.2020

Stefan Lüddemann: Paul Celan, Dichter des Holocaust, starb vor 50 Jahren
Neue Osnabrücker Zeitung, 19.4.2020

Shmuel Thomas Huppert: Erinnerungen an Paul Celan
SR 2, 26.2.2020

Christoph Bartmann: Ein Riss, der nicht zu heilen war
Süddeutsche Zeitung, 20.4.2020

Christine Richard: Ein Leben, immer nahe am Untergang
Tages-Anzeiger, 20.4.2020

Anton Thuswaldner: „Die Welt ist gegen mich losgezogen“
Salzburger Nachrichten, 19.4.2020

Klaus Reichert im Gespräch mit Niels Beintker: Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche mit Paul Celan
BR24, 20.4.2020

Rüdiger Görner: Asche atmen: Zu Paul Celan
Die Presse, 23.4.2020

Marko Martin: Paul Celan und die „Linksnibelungen“
Welt, 27.4.2020

Evelyne Polt-Heinzl: Paul Celan Ein Migrant in Wien
Die Furche, 8.4.2020

 

 

Zum 100. Geburtstag von Paul Celan:

Björn Hayer: Herzhell leuchten die Toten

Andreas Wirthensohn: Todesklage für die Überlebenden
Wiener Zeitung, 21.11.2020

Klaus Demus: „Eine sehr große Freundschaft“
literaturoutdoors.com, 22.11.2020

Claus Löser: Fünf Filme für Paul Celan
Berliner Zeitung, 21.11.2020

Krisha Kops: Paul Celan: Dichter, Überlebender, Heimatloser
Deutsche Welle, 22.11.2020

Ulf Heise: Lyrik als Flaschenpost
Freie Presse, 22.11.2020

Susanne Ayoub: Paul Celan: Verlust der Heimat, Trauer um die Eltern
Der Standart, 22.11.2020

Wolf Scheller: Was nicht gesagt, nur angedeutet werden kann
Der Standart, 23.11.2020

Andreas Montag: Dichter Paul Celan – Der Schleier des Herbstes
Mitteldeutsche Zeitung, 23.11.2020

Andreas Müller: Paul Celan – zum 100. Geburtstag
Wiesbadener Kurier, 23.11.2020

Stefan Kister: Unter die Deutschen gefallen
Stuttgarter Zeitung, 22.11.2020

Paul Jandl: Vielleicht war Paul Celan einmal ganz er selbst. Da spielte er die Dürrenmatts beim Tischtennis in Grund und Boden
Neue Zürcher Zeitung, 23.11.2020

Sabine Glaubitz: Er schrieb das Unsagbare auf: Nachkriegsdichter Paul Celan wäre heute 100 Jahre alt geworden
stern, 23.11.2020

Volker Weidermann: Ein Grab in den Lüften
Der Spiegel, 20.11.2020

Jochen Hieber: Im Höhenrausch mit Ingeborg Bachmann
Der Spiegel, 23.11.2020

Stefan Brams: Interview mit Thomas Sparr – Paul Celan stiftet zur Erinnerung an
Neue Westfälische, 23.11.2020

Helmut Böttiger: Die graue Sprache
Süddeutsche Zeitung, 22.11.2020

Helmut Böttiger: Auf der Suche nach einer graueren Sprache
Jüdische Allgemeine, 21.11.2020

Albrecht Dümling: Die Todesfuge in Tönen
Deutschlandfunk Kultur, 20.11.2020

Nikolaus Halmer im Gespräch mit Barbara Wiedemann: Paul Celan: „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“
Die Furche, 11.11.2020

Harald Seubert: Lieder jenseits der Menschen und kodierte Zeit: Paul Celan (1920–1970). Zum Gedenken
youtube.com, 15.6.2020

Celebrating Paul Celan: An Evening with Pierre Joris and Paul Auster
youtube.com, 21.11.2020

Stadtführung „Auf den Spuren von Paul Celan“
youtube.com, 10.9.2020

Paul-Celan-Literaturtage 2020. Videopräsentation vom Paul Celan Literaturzentrum Czernowitz

Ausstellung Paul Celan 100 – Unter den Wörtern

Online-Begleitprogramm zur Ausstellung Paul Celan – Meine Gedichte sind meine Vita

 

 

West-östliche Konstellationen. Internationale Tagung als hybride Veranstaltung im Lyrik Kabinett, München, sowie online.
Tagungskonzeption und -organisation: Prof. Markus May und PD Dr. Erik Schilling (Institut für deutsche Philologie der LMU München)
8.–9.10.2020

Eröffnung

 

Ambivalente Topographien. Rilkes Dritte Duineser Elegie und Celans „Walliser Elegie“

 

„West-östliche“ Lesarten im Jahrhundert nach Celan

 

Das Schweigen über Brücken. Orte Celans bei Robert Schindel

 

Abendvortrag: Todesfuge. Biographie eines Gedichts

 

„Wortaufschüttung“. Materialität als Indexikalität bei Paul Celan

 

Betreten. Zum Anfang von Engführung

 

Celans Draußen. Über reale und sprachliche Räume in seiner Dichtung

 

„Stimmen vom Galgenbaum“. Celans west-östliches Rotwelsch

 

Fakten und Vermutungen zu Paul Celan + Instagram + ÖMIMDb +
KLGPCLZ + PCLZKanal + Archiv 1 & 2 + Internet Archive +
Kalliope + Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Nachrufe auf Paul Celan: Neue Literatur ✝︎ NZN



Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.

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Falls der Affe Phallen stahl, hat er falsche Last im Stall.

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