Matthias Biskupek: Zu Steffen Menschings Gedicht „Tabula rasa“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Steffen Menschings Gedicht „Tabula rasa“ aus Steffen Mensching: Berliner Elegien. 

 

 

 

 

STEFFEN MENSCHING

Tabula rasa

Alles gleich. Gültig alles.
Auschwitz, Wandlitz, Austerlitz.
Ein Abwasch, ein Knopfdruck,
Hokuspokus. Ab in den Lokus.
Löscht die Festplatten.

Amnesie, Amnestie, Baum und Borke,
Vergasen, Vergessen, tertium
Non datar. Wer sich zum Fenster
Hinauslehnt, Jan Hus z.B.,
Muß sich nicht wundern, wenn ihm
Der Kopf etcetera, Häretiker,
Theoretiker, selber schuld, Pech gehabt.

Man nehme Dr. Oetker.
Warum schlägt niemand Dr. Oetker
Zum Nobelpreis vor?
Kein Taktiker, ein Praktiker.
Appetitlich, friedlich
Haben sich seine Rezepte
Zumindest bewährt. Eigner Herd
Und Nährwert, nix da
Mit Mehrwert.

Der Fetischcharakter der Ware,
Ausgelegt von Beate Uhse,
Ausgezeichnet. Proletarier
Aller Länder? Schwamm drüber.
Schlamm drüber. Planierraupen
Schieben die Gräber zusammen,
Vereinigt in der Entsorgung.

Ab in den Orkus. Glücklich ist,
Wer vergißt. Das Jahrtausend
Geht sauber über die Rampe.
Keiner kommt ungeschoren davon.
Heil Alzheimer. Dreimal Nullnull.
In Bad und WC alles okay.
Demnächst im Kino.
Sean Connery als Thomas von Aquino.

 

Der hohe und der laxe Ton

Steffen Mensching, am dritten Weihnachtstag 1958 geboren, ist ein Dichter ohne lyrisches Früh- und Hauptwerk, der weder unreife noch reife Gedichte vorzuweisen hat. Er schrieb gute und schlechte Texte und schmiss die schlechten vermutlich weg.
Seine erste feste Anstellung hatte er mit 49 Jahren als Intendant des Rudolstädter Theaters. Zuvor war er Schüler, Freizeitfußballer, Student, freischaffender Bühnenwerktätiger mit Wenzel, Preisträger, Radio-Reisender, Romanautor, Regisseur und immer Lyriker. Sein Debüt hieß Poesiealbum 146 (1979), später gab es die Erinnerung an eine Milchglasscheibe, Tuchfühlung und 1995 Berliner Elegien, in denen „Tabula rasa“ wohl erstmals gedruckt worden war.
Hier ist versammelt, was Mensching-Gedichte auszeichnet: Die Verschmelzung von hohem und laxem Ton, die Lust am Wortspiel wie am abwegigen oder verblüffend-einleuchtenden Gedanken. Der Dichter treibt Wörter vor sich her und lässt immer spüren, worauf es ihm ankommt: Auf den homo politicus, den sich selbst bestimmenden Menschen. Der Mann verbindet Wendungen auf abstruse Weise, so dass sie sich am Nebenwort reiben: Auschwitz, Wandlitz, Austerlitz. Wortklang ist sein Leibgericht – Dr. Oetker ist Taktiker und Praktiker, Schwamm und Schlamm überdecken gleichermaßen. Die Rampe ist bei Mensching, der im Theater eine Rampensau ist, immer auch jene Rampe, die mit dem schon zitierten Ort Auschwitz einhergeht. Man sollte bei derlei Lektüre Wissen parat haben, Häretiker, Jan Hus und Thomas von Aquino zumindest von Ferne kennen. Bibel-Kenntnis hilft bei Mensching-Unverständnis. Denn nichts hindert den Genuss solcher Lyrik mehr, als ein Kopf, darinnen das, was der Titel des Gedichts besagt: Tabula rasa.

Matthias Biskupekaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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