Christoph Buchwald & Kathrin Schmidt (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2011

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christoph Buchwald & Kathrin Schmidt (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2011

Buchwald & Schmidt-Jahrbuch der Lyrik 2011

MAPPA

was ist der wohnort? der wohnort ist
eine kreuzzehn. was ist die kreuzung?

in der verkorksten mundart der wälder
ist die kreuzung das wort baum. warum

spielen heimatländer in den lüften karten?
niemand hat die länder je nach hause gehn

sehn. ein baum im wald der nähesprache
ist im kartenspiel die zehn. aus seinem holz

werden auf der karte kreuze gemacht.
die länder tragen hier ihren wohnort ein,

dann legen sie die feder ins mäppchen
zurück. was ist ein mäppchen? zurück.

mit nelly sachs

Uljana Wolf

 

 

 

Nachbemerkungen

Da kann mir einer sagen, was er will: In Rom, wo ich zurzeit für ein Jahr lebe, spricht man anders Deutsch. Man ertappt sich zum Beispiel dabei, ein e an Endkonsonanten zu hängen:

Hättene Sie dasse gedachte?

Und es ist heiß hier im Sommer. Heißer, als ich es mir für Berlin hätte vorstellen können…
Für Anfang Juli 2010 waren die Einsendungen für das 28. Jahrbuch der Lyrik avisiert worden, auf Papier, was mir sehr recht war, denn am Bildschirm kann ich nicht lesen, und sie alle hier auszudrucken, hätte das Budget überreizt. Aber der Bote blieb aus, kam einfach nicht. Auf Nachfragen hieß es dann, die Post habe die Sendung nicht weiterbefördert, weil eine Angabe gefehlt habe auf dem Paketschein, das sei jetzt berichtigt, und bald treffe sie ein. Inzwischen war der Mittwoch der Monatsmitte erreicht, am darauffolgenden Montag wollte ich nach Berlin fliegen für wenige Tage, und gleichzeitig mit meiner Rückkehr nach Rom sollte dann Christoph Buchwald zum auswählenden Lektorat eintreffen. Ich sah meine Felle davonschwimmen. Am Donnerstag endlich kam ein großer Karton voller Papier, zu Stapeln geordnet und gut registriert. Ich verteilte die Stapel auf die verbleibenden vier Tage und begann zu lesen. Am Freitag dann der Schock: Ein zweiter Karton traf ein, größer und schwerer noch als der vorhergehende. Ich tauchte ab, dann auf und stürzte mich mit verbissen zu nennendem Eifer in die Lesearbeit, die Zahl der täglich zu schaffenden Stapel hatte sich schließlich auf einen Schlag mehr als verdoppelt. An die neuntausend Gedichte waren zu sichten, das machte zwei einvierteltausend pro Tag. Ich hörte auf zu essen. Das tat mir gut. Trank aber flaschenweise Mineralwasser, was mir offensichtlich noch viel besser tat. In meinem Atelier stehen zwei riesige leere Tische, ich hatte genügend Platz, die Ja-, Vielleicht- und Nein-Texte darauf zu platzieren. Zwischendurch musste registriert werden, was ich gelesen hatte. Wenn ich zehn Stunden am Tag arbeitete, würde ich zweihundertfünfundzwanzig Gedichte pro Stunde zu lesen haben. Den Minutensatz erspare ich mir an dieser Stelle. Es war die Hölle, die ich mir, wie gesagt, nirgendwo heißer hätte vorstellen können als in Rom.
Am Sonntagabend gab ich den (seit Tagen ungenutzten) Löffel nicht etwa ab, sondern konnte wieder zu essen beginnen: Ich hatte es tatsächlich geschafft.
Aber wie?
Mit der Menge der zu lesenden Gedichte wird zwar nichts einfacher, jedoch scheint sich das Hirn zu schärfen. Dachte ich jedenfalls. Schneller als zu Beginn hatte ich am Ende meine Entscheidungen gefällt, und dennoch fühlte ich mich dabei sicherer. Wie trügerisch das sein konnte, bewies mir Christoph Buchwald mit übersehenen Texten, die meine Aufmerksamkeit verdient hätten. Was mich tröstete, war, dass es ihm andersherum genauso ging. Hoffen wir also, dass sich das ausgeglichen hat und uns möglichst wenige Gedichte durch die berühmten Lappen gerutscht sind.
Freundinnen und Freunde hatten ebenso eingereicht wie Bekannte. Im Bemühen, das nicht zum Problem werden zu lassen, habe ich wirklich nur jene Texte ausgewählt, die mich überzeugten. Vielleicht habe ich es mir mit dem einen oder der anderen verdorben, aber (mich) nicht überzeugende Texte wären für die Autoren kein schönes Aushängeschild gewesen, fand ich. Zwar ist eine Ähnlichkeit meiner Person mit einer göttlicherseits installierten Messlatte einfach nicht vorhanden, aber wenn ich dieses Buch mitherausgeben soll, muss ich mich zumindest ein wenig ums Messlattenspiel scheren. Die Auswahl soll ja auch meine Handschrift tragen, durch meinen Filter mit all seinen Unwägbarkeiten und Fehlstellen so etwas wie einen persönlichen Einschlag erhalten. Und ein gutes Gedicht schreibt sich nicht alle Tage, manchmal nicht einmal alle Jahre!
Das weiß ich aus eigener Erfahrung nur zu gut und war in den letzten Jahren am Ende zumindest weder zu Tode betrübt noch stocksauer gewesen, wenn die vormaligen Herausgeber des Jahrbuchs der Lyrik wieder einmal keines meiner Gedichte ausgewählt hatten… Von mir auf Freunde und Bekannte zu schließen, kann ein Fauxpas sein, ich weiß. Es wird sich zeigen, wie weit der Mut mich trägt. Dass ich ihn erst einmal hatte, kann ich durchaus als eine neue Erfahrung gelten lassen.

Es gab schöne Entdeckungen. In nicht wenigen Stapeln mittelmäßiger Gedichte glänzte eines hervor. Sofort nach dem ersten Erlebnis dieser Art nahm ich mir vor, keinen Autor vor der letzten Seite seines eingereichten Manuskripts beiseitezulegen. Ich glaube, das habe ich durchgehalten. Mit dem Ergebnis, recht viele neue Namen ins Spiel gebracht zu haben. Das sollten wir zusammen zu Ende spielen: neugierig sein, wieder und wieder lesen, uns ärgern, aufhorchen, enttäuschte Miene machen, frohlocken – alles ist erlaubt. Wenn es nur die Spannung auf das Jahr danach erhält.
Oder, um es römisch-deutsch zu sagen:

Neuesse Spiele, neu esse Glücke…

Kathrin Schmidt, Nachwort

 

„Neuesse Spiele, neuesse Glücke“ – auch für das Jahrbuch als Anthologie zeitgenössischer Lyrik in Fortsetzung: Es ist von diesem achtundzwanzigsten Band an bei der Deutschen Verlags-Anstalt beheimatet, einem Verlag, dem die Lyrik vertrautes Terrain ist. Erscheinungsdatum wird jeweils zur Leipziger Buchmesse sein.
Durch die Umstellung der Gedichteinsendungen ausschließlich per E-Mail haben deutlich mehr Autoren eingeschickt als bei früheren Jahrbüchern, zu unserer Verblüffung jedoch nicht die unter Dreißig-, sondern die über Fünfzigjährigen. Das Gleiche lässt sich auch nach der endgültigen Auswahl der Gedichte konstatieren; von den 140 in diesem Jahrbuch der Lyrik vertretenen Autoren sind siebzehn 1980 oder später geboren (circa zwölf Prozent). Sagt uns das etwas über einen möglichen Zusammenhang von Alter und Gedichteschreiben, über das Interesse für Lyrik bei der Generation der nun circa Dreißigjährigen, das Reflexions- oder Ausdrucksbedürfnis der Älteren, oder spiegelt es einfach nur die Tatsache, die jeder Buchhändler bestätigt: die Käufer (und Leser?) von Gedichten sind eher älter als dreißig?
Zwischenfrage: Denken jüngere Leser bei Lyrik vor allem an Slam und Rap? Lesen Studenten noch den wunderbaren Rühmkorf? Studieren nur noch chinesische Gelmanisten Robert Gernhardts „Technik des Leimens“? Reagieren die Pastior-Leser „politisch korrekt“ und stellen die Lektüre ein? Wahr ist, widersprechen wir uns zugleich, dass Lyrikveranstaltungen (mit mehreren Auftretenden) vor allem ein junges Publikum haben – das den Büchertisch am Eingang jedoch kaum eines Blickes würdigt. Und wahr ist auch, dass sich in der Buchhandlung, sofern sie noch ein Lyrikregal hat, der gemischte Chor der großen Übersichtsanthologien (vom Mittelalter bis zur Gegenwart) besser verkauft als die zeitgenössische Einzelstimme. Diese Tendenz bestätigt sich beim Jahrbuch der Lyrik, es findet immer noch mehr Leser als die meisten neu erschienenen Einzelveröffentlichungen; das Jubiläumsjahrbuch (das fünfundzwanzigste: Die schönsten Gedichte aus 25 Jahren) hat seinerseits mehr Leser gefunden als das vierundzwanzigste oder das sechsundzwanzigste. „Als Mensch brauchst a Orientierung und a Übersicht“, meinte schon der Lyrikkenner Karl Valentin, „sonst finds’t den Viktualienmarkt nia!“

Jahrbuchleser und -autoren sind eine treue Spezies. All denen, die gemailt und geschrieben haben, das Jahrbuch der Lyrik möge doch bitte unter einem neuen Dach fortgesetzt werden, sei für Zuspruch und Ermunterung herzlich gedankt.
Das nächste Jahrbuch der Lyrik wird wieder bei der DVA erscheinen. Den Einsendetermin, Teilnahmebedingungen und -modalitäten entnehmen Sie bitte den Informationen der homepage der DVA unter www.dva.de
Und zum Schluss einen großen Blumenstrauß für die diesjährige Mitherausgeberin Kathrin Schmidt, die die Schlussredaktion unter deutlich erschwerten klimatischen Bedingungen (im Durchschnitt 39 Grad Celsius) absolvieren und zudem die Langsamkeit der Poste Italiane mit deutlich mehr Lesestunden pro Tag bezahlen musste. Dankbar bin ich ihr für zahlreiche Hinweise auf Autoren, die mir nicht aufgefallen waren, die jedoch eine zweite und dritte Lektüre verdient und so den Weg ins Jahrbuch der Lyrik gefunden haben.
Wer die zurückliegenden siebenundzwanzig Jahrbücher der Lyrik genauer ansieht, wird feststellen, dass die Zahl derer, die im Jahrbuch ihre ersten Gedichte veröffentlicht und sich später einen Namen gemacht haben, nicht eben klein ist. Möge es bei diesem 28. Jahrbuch der Lyrik ebenso sein. „Neuesse Glücke.“

Christoph Buchwald, Nachwort

 

„Der Anthologist

braucht ein weites Herz, aber die Richterskala der Qualität ist nur nach oben offen“, so einst Robert Gernhardt, und in diesem Sinne haben die Herausgeber Christoph Buchwald und Kathrin Schmidt die fast tausend Einsendungen für das Jahrbuch der Lyrik 2011 durchgesehen und die besten, erstaunlichsten und innovativsten Gedichte dieses Jahres zusammengestellt. Neben Werken von bekannten Autoren wie Marcel Beyer, Ulla Hahn, Michael Krüger, Herta Müller, Andre Rudolph und Lutz Seiler stehen zahlreiche Gedichte von jungen, unbekannten Autoren, die hier zum ersten mal veröffentlichen.
Die Gedichte sind so geordnet, dass sie miteinander in Dialog treten, sich ins Wort fallen, einander thematisch oder formal umkreisen. Die Lust an der Erkenntnis hat ebenso Raum wie die Sprachlogik oder das Spielerische. Auch die poetologischen Nachbemerkungen zeigen an, wie unterschiedlich die Zugänge zum Gedicht sein können, was seine unvergleichlichen Möglichkeiten und seine Gefährdungen sind. Allen ist jedoch ist eines gemein: das Nachdenken darüber, was das denn ist, ein erkenntnisschweres oder alles riskierendes oder welthaltiges oder einfach nur ein gelungenes Gedicht.
Das Jahrbuch der Lyrik 2011 – eine inspirierende Entdeckungsreise durch die poetischen Sprachwelten der Gegenwart!

Deutsche Verlagsanstalt, Klappentext, 2011

 

Beitrag zu diesem Buch:

Armin Steigenberger: Eine abenteuerliche Gewürzmischung…
poetenladen.de, 9.6.2011

 

 

Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa

Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr

Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009

Fakten und Vermutungen zum Jahrbuch der Lyrik

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Kathrin Schmidt

 

Kathrin Schmidt in der Sendung „typisch deutsch“.

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