22. Juni

Auf einem hohen, aus Holz gezimmerten Turm – Jägerhochsitz? Wachtturm? Aussichtsturm? – treffe ich auf Herrn Kläy oder Herrn Klaeui, der mir kurz auf die Schulter klopft, ohne mich anzusprechen oder auch nur meinen Namen zu nennen. Ich sitze in der vordersten Bankreihe links, das Publikum hat den Saal – Kirche? Auditorium? – bereits verlassen, schräg hinter mir sitzt nur noch (ich kann’s auf der Innenseite meines Brillenglases gespiegelt sehen) Erich Goedecke. Ich steh auf, geh langsam nach rechts durch die leere Sitzreihe und kehre durch die zweite ebenfalls leere Reihe zurück, um Goedecke zu begrüßen; er ist zusammen mit einem kleinen Jungen sitzengeblieben und scheint mich, etwas unruhig, zu erwarten. Der lebhafte kleine Kerl lutscht an einem Kraftstengel, an seinem Jackenkragen steht die Marke auf »8 Std«, das heißt, seine Ernährung ist so eingestellt, dass er verlässlich alle acht Stunden Stuhlgang hat. Ich sage mir … ich wünsche mir, dass mein eigener Kragen permanent auf »12 Std« eingestellt bliebe. Mit Erich muss ich dringend über das Lizentiat reden – ich möchte meine bereits eingereichte Habilitationsschrift als Lizentiatsarbeit einreichen und bei ihm das Rigorosum absolvieren. Lass uns draußen darüber reden! Als wir das Gebäude verlassen, treffen wir auf viele verängstigte Leute, die sich an die Hauswände drücken, Kapuzen übergezogen haben, zum Himmel schauen, wo gigantische Gewitterwolken sich türmen. Das Unwetter scheint vorbei zu sein, doch die öffentlichen Verkehrsmittel stehen noch immer still. Gehen wir zu dir? Goedecke zieht es vor, allein nach Haus zu gehen, also werde ich ihm meine Schrift auf dem Postweg übermitteln und einen Terminvorschlag für die mündliche Prüfung erbitten. Am Straßenrand warte ich auf den Bus. Heran fährt ein flacher schwarzgelber Sportwagen, zwei Frauen – eine ältere, eine junge – steigen aus, sie wollen Kläy abholen, um ihn nach Haus zu fahren. Klaeui kommt nicht, Kläy bleibt unentschuldigt aus. Wir reden ein wenig hin und her, die Frauen bieten mir an, statt Klaeui mich heimzubringen. Unterwegs versuche ich auf meinem Tablet eine Mail an Erich Goedecke abzusetzen, doch fehlt mir dessen elektronische Adresse. Die ältere der beiden Frauen reicht mir ein schweres Gerät, auf dem ich die Verbindung zum Server der ETHZ herstellen kann. Ich tippe irgendeine Fantasieadresse ein, die Frau beobachtet mich aufmerksam dabei, sie will offenbar sehen, was für eine Nachricht ich an wen eingebe. Die Jüngere zeigt sich von der Indiskretion irritiert, es kommt zu einem ärgerlichen Wortwechsel zwischen den beiden. Mir wird plötzlich klar, dass inzwischen alle Möglichkeiten verflogen, alle Termine überschritten, alle Hoffnungen enttäuscht sind. An Heimkehr ist nicht mehr zu denken. Denn dort erwarten mich nun alle Strafen. – Ich habe mir in diesen Tagen wieder einmal Joseph Roths ›Hiob‹ vorgenommen, mich eingelesen, mich eingelassen, und wieder muss ich mich – abgesehen von den ersten paar ungeschlachten Seiten des Romans – geschlagen geben und belohnt fühlen durch dieses Meisterwerk, in dem ich übrigens einen dezidierten erzählerischen Gegenzug zu Franz Kafkas Bürokratenprosa erkenne: ›Hiob‹ ist von durchaus vergleichbarer Kraft der Imagination und des Sagens wie ›Der Process‹. Das Glück künstlerischen Gelingens, das ich als Leser mitvollziehe, transzendiert den Autor, lässt dessen reales Unglück ebenso vergessen wie seinen desolaten Charakter. Je höher der Rang des Werks, desto mehr löst es sich vom Verfasser und behauptet sich selbst, bisweilen gegen den Willen und die Absicht dessen, der es geschaffen hat. Ich kann die unschlagbare, bald zynische, bald melancholische Intelligenz und die versonnene Erzählkunst dieses Autors nur bewundern – was Roth mit scheinbar leichter Hand und leichtem Atem gelingt, bleibt mir unerreichbar, und weil das so ist (und weil ich weiß, dass es so ist), bleibt mir auch jederzeit klar, dass ich, wo es um Prosa geht, etwas gänzlich anderes unternehmen und riskieren muss. Das ist das eine ; das andere ist, dass Joseph Roth in diversen Texten und Zeugnissen, vor allem in seinen neuerdings publizierten Korrespondenzen, das Charakterbild eines zutiefst antipathischen, wenn nicht bösartigen Menschen abgibt, der seiner tragischen Grundstimmung zum Trotz unentwegt seiner Eitelkeit Genüge tun muss und der nicht zögert, seine Haltlosigkeit, Ungepflegtheit, Dreistigkeit als eine Art von Überlegenheit auszuspielen. Dass sich Roth über Carl von Ossietzkys Inhaftierung im Konzentrationslager erfreut zeigen konnte, ist ein Indiz für seine tieftraurige Verkommenheit, vor der auch Stefan Zweig, sein tolerantester Gönner und Freund, nicht gefeit war. – Lew Schestows maximalistischer Freiheitsanspruch: Gegenüber Norm-, Moral-, Wahrheits-, Wissenschaftsansprüchen könne sich der Mensch sola fide frei machen, allein durch den Glauben an das Unmögliche, an das Wunder, an das ganz Andere im Gegenzug zur bequemen Knechtung durch Logik, Kausalität, Geschichte, Dogmen, Ideologie, Tradition usf. Schestow versucht die Macht des Wissens auszutreiben durch die Macht seines Wissens – wo er gegen Rationalität, gegen Logik, gegen Dialektik argumentiert, argumentiert er durchaus rational, logisch, dialektisch. Lässt sich aber philosophisches und wissenschaftliches Denken mit wissenschaftlicher und philosophischer Begrifflichkeit austreiben? Argumentativ dreht sich Schestow unentwegt im Kreis – mit der Macht des Zufalls hadert er ebenso wie mit der Notwendigkeit, mit der Spekulation, mit dem System- und Begriffsdenken. Warum hat er wohl, statt all seinen Streitschriften, keinen philosophisch intendierten Roman geschrieben? Einen russischen Mann ohne Eigenschaften! Auch ihm war allein der Glaube nicht substantiell und nicht wirkungsstark genug. Schestow hätte auch nicht schreiben können … hätte ein begriffsloses Medium für sich wählen können … hätte Musiker, Sänger, vielleicht Komponist werden sollen. Dann wäre ihm womöglich gelungen, was Boris Vildé in seinem Gefängnistagebuch einst festhielt: »Annehmen ohne zu verstehen, das ist der Beginn der Liebe.« Das wäre der Beginn der Sinnbildung, vielleicht gar der Sinnerfüllung; oder René Char (in ›Das Risiko‹): »Ohne auch nur noch zu wählen zwischen vergessen und erlernen.« Doch dieses Risiko konnte Schestow nicht eingehen; dieses Risiko vermag nur die Kunst zu bewältigen. – ›Nichts gegen Joyce‹, so nennt Fritz Senn eins seiner Bücher und sitzt damit dem alten Vorurteil auf, man könne, dürfe, solle gegen einen kanonisierten Klassiker »nichts« haben, nichts sagen. Lese ich James Joyce, der mich einst ziemlich begeisterte, heute, muss ich allerdings feststellen, dass seine Prosa doch einiges an Patina angesetzt hat. Manches wäre … manches hätte ich inzwischen gegen ein längst nicht mehr kritisierbares Jahrhundertbuch wie ›Ulysses‹ einzuwenden, vor allem auf handwerklicher Ebene – viel zu viele originell sein sollende Adjektive, darunter zu viele allzu leicht durchschaubare Neologismen; zu lange, dabei unergiebige Dialoge – das Geschwätz über Shakespeare geht über rund hundert Seiten und bringt doch nur einen einzigen brauchbaren Gedanken, der auch in dreieinhalb Sätzen voll ausgedrückt sein könnte. Insgesamt zu viele Kalauer, von denen wiederum zu viele von minderem Interesse und mangelhafter Sprachqualität sind. Disproportionierte Erzählteile, die sich aus der grafomanischen Schreibbewegung ergeben. Erst jetzt fällt mir im Übrigen auf, dass dieser Roman eher eine Aufzählung denn eine Erzählung ist – eine lange, narrativ verknüpfte Liste; listenhaft sind ja auch viele pornografische Romane, vom Marquis de Sade bis hin zu Josefine Mutzenbacher und Dominique Aury, denn dominant sind hier nicht die Verzweigungen, sondern Wiederholungen und Varianten, die Fortschritte vortäuschen, wo doch immer alles ein Gleiches bleibt. Ich lese, bin gelangweilt, bin verwundert darüber, dass ich ›Ulysses‹ einstmals mit Begeisterung goutieren konnte. Heute gelingt dies nur noch punktuell – immer mal wieder kommen mir zwei, drei oder auch ein Dutzend ingeniöse Seiten unter die Hand, aber insgesamt hat der längst kanonisierte Text seinen einstigen Innovations- und Provokationsimpuls weitgehend eingebüßt und sieht deutlich älter aus als manches, was damals – gleichzeitig – ohne jede avantgardistische Militanz für die europäische Prosa geleistet wurde. André Gide. Boris Pilnjak. Joseph Roth. Isaak Babel. Robert Musil. Andrej Platonow. Bruno Schulz. Usf. Ein Gleiches gilt für die Dichtkunst des Expressionismus oder des Futurismus, deren revolutionäres Pathos sich beim Wiederlesen vieler einst wegweisender Texte fast schon wie eine Selbstparodie ausnimmt. An der literarhistorischen Relevanz von Joyce’s Werk besteht kein Zweifel; Zweifel hege ich aber gegenüber einer Kritik, die sich im Umgang mit dem Kanon auf die Repetition pauschaler Vorurteile beschränkt, statt unter immer wieder andern – neuern – Gesichtspunkten auch wirklich kritisch gegenzulesen. – Bin jetzt auf Bitte des Verlegers seit Wochen und noch für länger fast ausschließlich mit Lew Schestow beschäftigt, dessen ›Siege und Niederlagen‹ – ergänzt durch erst kürzlich aus dem Pariser Nachlass erschlossene Schriften – im Herbst erscheinen sollen. Diesem Wunsch zu entsprechen, fällt mir nicht leicht; um ihn zu erfüllen … um einige hundert Seiten schwieriger philosophischer Prosa zu übersetzen, zu annotieren und den Band mit einem einleitenden Aufsatz zu versehen, muss ich die Arbeit am Roman für die drei bis vier Sommermonate völlig einstellen. Wenn ich mich nun also dazu entschließe, hat dies mit der aktuellen Stockung in meiner Erzählbewegung zu tun … mit der schwierigen Disziplinierung meines Titelhelden Potocki, der sich immer wieder von meinem Gängelband freimacht und unversehens eigene Wege einschlägt, von denen ich ihn dann wieder abbringen muss. Vielleicht wird es deshalb gut gewesen sein, ihn für eine Weile ruhen zu lassen und mich statt dessen vorübergehend einer Arbeit zu widmen, die sich leicht planen lässt und von der ich weiß, dass ich sie jederzeit unter Kontrolle habe. – Von Krys geträumt (obwohl sie ja vor Ort ist), aber nichts behalten, kein Plot, keine andern Traumgestalten, keine zeiträumlichen Koordinaten; nur ein dumpfes triumphales Gefühl – das Gefühl ganz und gar argloser … ganz und gar interesseloser Zuwendung. – Kanon und Kopie (Notizen zu einem Referat). Ausgiebig und kontrovers ist in jüngster Zeit die Rede von Kopie und Plagiat als obsoleten Kulturtechniken, vermehrt aber auch als eigenständigen künstlerischen Verfahren. Dass diese vermeintlich neuen, jedenfalls von den »neuen Medien« begünstigten und fortentwickelten Verfahren einer weit zurückreichenden kulturellen Tradition zugehören und was diese Tradition – vor allem im Bereich der Literatur und Philosophie – hervorgebracht hat, ist noch immer viel zu wenig bekannt oder wird als minderes Nebenprodukt gegenüber dem Kanon marginalisiert. Tatsache ist jedoch, dass außer den diskursbildenden »Autoren« auch die »Skribenten« Wesentliches zur literarischen und philosophischen Kultur beigetragen haben – ohne jene »Kopisten« und »Plagiatoren«, die aus kompilierten Texten eigenständige Werke in Form von Anthologien oder Kentonen geschaffen haben, wäre manch ein kanonisierter Autor gar nicht erst in die Überlieferung eingegangen. Beispiele dafür sind die zehnbändige Textsammlung des Diogenes Laertios aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert oder Giorgio Vasaris gesammelte Künstlerviten und -zitate aus dem 16. Jahrhundert, aber auch die Märchen der Brüder Grimm und Gustav Schwabs ›Sagen des klassischen Altertums‹, die als geschönte und geschickt arrangierte Kompilate zu eigenständigen Textsorten geworden sind. Am Eingang zur Moderne hat der russische Schriftsteller Lew Tolstoj diese Tradition erneut aufgenommen, indem er mehrere umfangreiche Werke aus willkürlich ausgewählten Fremdtexten komponierte, um sie nachfolgend unter seinem eigenen Namen zu veröffentlichen. So neu ist das Verfahren also nicht; neu ist das Aufhebens, das darum gemacht wird, obwohl das Phänomen des Kopierens und Plagiierens schon längst kein Problem mehr ist – es ist zu einer weithin praktizierten Kulturtechnik geworden und vermag nur noch Juristen ernsthaft zu beschäftigen. (Weiterzuführen.) – Das Leben wäre, gäb’s den Zufall und den Tod nicht, unerträglich; nichts hätte einen Sinn, alles wäre erlaubt. Gott wäre nicht erfunden worden, es gäbe keine Religionen und keine Kunst, die Menschheit hätte sich selbst und die Erde längst vernichtet und alles wäre egal gewesen. Doch womöglich ist ja schon jetzt alles egal. Warum … wozu mein Bedürfnis, unterscheiden zu wollen? Das Andere … der Andere ist wohl ein ständiges Thema in der aktuellen Diskussion und ein akutes Problem heutiger politischer Praxis, doch eigentlich hat kaum noch jemand ein Interesse daran. Alles ist doch längst auf Assimilation, Anpassung, Vereinnahmung, Gleichstellung, Gleichberechtigung, Gleichbehandlung, Rechtsgleichheit, Vereinheitlichung, Harmonisierung, Nivellierung, Konsens, Konvention angelegt. Der Trend zu fahriger Unifizierung zeigt sich am deutlichsten im globalen Triumph des defizienten englischen Idioms, der Macdonaldisierung, des Industrie- und Gerätedesigns, der populären Kunst und Musik, sogar der Menschenrechte, die überall – ohne hinreichende Berücksichtigung spezifischer Rechtsauffassungen, sozialer Traditionen, regionaler Kulturen, religiöser Bräuche und Überzeugungen – gleichermaßen durchgesetzt werden sollen. – Vor Jahren war ich während längerer Zeit in Korrespondenz mit einer etwa gleichaltrigen russischen Physikerin; schon in ihrem dritten, vierten Brief konnte sie mir klar sagen, was mein Problem ist: »Ihr Problem ist, dass die Welt nicht so ist, wie Sie sie haben wollen; oder umgekehrt – Sie wollen die Welt so haben, wie sie nicht sein kann.« Da hatte sie recht! Nur wäre dann nicht die Welt als vielmehr ich selbst das Problem. Also ein Problem mehr! – Langer guter Abend mit Krys ; reden, essen auf dem Balkon, zwei Flaschen Weißwein, dann aber frühe Müdigkeit und plötzlich Schluss. Von allem zu viel. Erschöpfung vor lauter Überdruss.

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